Gudrun Orlet: Nachfahre 1 - 5
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Gudrun Orlet
Nachfahre I - V
Nachfahre I
eine
Sache in den Boden rammen
die
Tatsachen erwachsen wie von selbst
- wehre den Anfängen, Ovid ersuchte um Befreiung
die
Brut wird ihre Früchte tragen
Zugehörigkeit ist ein willfähriger Partner
die Luftbildarchäologie gräbt in der Frühgeschichte
der
Abstand der Jahre zeitigt verstrickte Fäden aufgetrennter Jacken
aus
einer Zeit als Gardinen Ausgehverbote ersetzten
warum
erhalten die Mittellosen keinen Ausgleich für ihr klimaschonendes Leben?
:
weil die Zeitgenossen den stabilen Wesenskern verehren
ha!
ist
leichter an die Richtigkeit des Geschehens zu glauben
die
aus Verbrechen Fliehenden in die Verbrechen Laufenden
-
die Glücklichen unter ihnen stolpern über ihre Krücken
Nachfahre II
ihr
wolltet eine Kuppel auf eure Jahre errichten
eine
Trophäe für den Kaminsims zeugen
die
Strümpfe waren gestrickt
«Ich,
ich, ich!»
ein
Wildwechsel barbarischer Wirklichkeiten
-
von wegen, die Herrschaft des Grauens fände keine Nachfahren
ha!
aus
der Erinnerung lassen sich Brötchen backen
warum
ich nach Australien ausgewildert war?
:
wegen der gestrickten Strümpfe
-
sicher nicht wegen der gestrickten Strümpfe
die
Abwesenheit ist eine bessere Variante, denn niemand fragt nach den
Todesumständen, keine Schuld durch Blut
ha!
wie
ich bemerkt hätte, dass ich nach Australien ausgewildert worden
war
-
ohne jemals einen Fuss auf diesen Kontinent gesetzt zu haben
:
ich habe die Auswilderung nicht bemerkt, stellen sie die Frage neu
:
wann ich bemerkt hätte, dass Lügen meine Abwesenheit besiegelten
ha!
ins
Unsichtbar
die
Fussknochen ruhen zwei Meter unter zappelnder Erinnerung
viele
Eltern waren Kinder im Krieg
und
trugen löchrige Strümpfe
Nachfahre III
das
Anlehnen an erlassene Vorschriften
«Ja,
ja, ja!»
-
wir haben nichts gewusst
die
löchrigen Strümpfe fordern ihr Recht
die
Angst erwirtschaftet gestopfte Mäuler
blaues
Licht unter geschlossenen Lidern
Biogas
kennt keinen Hunger
in
Georgioupoli bekreuzigten sich Frauen bei meiner Wiederkehr
Nachfahre IV
der
Schwalbenflug ist ein hellerer in älteren Jahren
der
Sommer der Zufriedenen ist vorüber
jede
Generation stolpert über Versprechen
hermetisch,
sagte eine, eine andere - des Guten zu viel -
Celan
und Bachmann hätten sich für das Dunkel entschieden
es
gäbe die Dichter*innen des Hellen
Mayröcker
und Jaccottet würden es uns zeigen, schrieb sie
-
heute ist Herbst, wie sonst in Oktobertagen
ich
vermisse das gelbe Zetern, die Anrufung des nackten Geästs
Nachfahre V
die
Zeit ist gekommen den Lügen der Entschleunigung die Schwielen
abzuhaspeln
die
Bänke unter Bäumen bleiben leer und unter Neonlichtern flüchten
sie voreinander
wenn
andere Milliardengewinne verbuchen
«seht
es positiv» «entdeckt das Leben neu»
unter
euren Lidern leuchtet das blaue Leben
der
Schutz des Lebens ist ausgerufen! Viva!
:
niemand wird auf dieser Erde sterben
:
wird des Hungers sterben! Niemand!
:
an den Folgen der Armut sterben! Niemand!
:
an Misshandlung, Missbrauch, Ausbeutung sterben! Niemand!
sterben
ist das Leben für das untere Zwanzigprozent
-
für die, die nichts sind
«Wir
sichern Ausbeuterplätze»
die
bei lebendigem Leib den Opferstatus zementieren
!das
ist unser Recht!
das
wir uns mit den erraubten Milliarden erkämpfen