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Gespräch mit Marcus Roloff

Dialoge



Marcus Roloff / Michael Braun


>Mein nicht geschnittener Blick<


Ein Gespräch über Poesie und bildende Kunst.
September 2014



Michael Braun

„Ut pictura poiesis“, Dichtung ist wie Malerei. Die berühmte These des Dichters Horaz, notiert in seinem Brief an die Pisonen, kommt einem in den Sinn, wenn man sich mit Deinen Gedichten beschäftigt. Das Verhältnis zwischen Dichtung und Malerei wird von Dir in einer Reihe von Gedichten ausgelotet und immer wieder neu bestimmt. Du hast Dich zum Beispiel mit einem Kunstwerk des italienischen Künstlers Giovanni Manfredini beschäftigt, das in der Kapelle des hiesigen Sankt Bartholomäus-Doms bzw. des Kaiserdoms hier in Frankfurt zu sehen ist. Man sieht drei Körper auf schwarzem Bildgrund, drei Gekreuzigte. Eine Ikonografie, die auf die Passion Christi verweist. Wie kamst Du dazu, Dich in Deinem Gedicht „hl. grab, eingang wahlkapelle“ mit diesem Kunstwerk auseinanderzusetzen?

Marcus Roloff

Ich bin sehr lange schon in Frankfurt, zehn Jahre, und ich bin manchmal Tourist in der eigenen Stadt. Das heißt: Eines Tages besuchte uns mein Schwiegervater, und wir haben – gleichsam als Touristen - einen Spaziergang gemacht durch die Stadt. Und wir sind dann auch im Dom gewesen, und es war wirklich Zufall, dass ich dann länger vor diesem Manfredini-Triptychon stand und dachte: Das fällt hier so raus aus dem sonstigen Bildmaterial, das will ich auf jeden Fall festhalten. Und nach und nach kam dann der Gedanke, wirklich daraus ein Gedicht zu machen. Es war sozusagen ein Zufall. Ich hab einen katholischen Hintergrund, die Passion Christi ist mir nahe, und gleichzeitig mittlerweile in eine unglaubliche Ferne gerückt. Und das war einfach für mich ein überaus heftiger Eindruck – und der Gedanke: Versuch´s mal. Es war ein Ringen über mehrere Monate hinweg damit, um zu sagen: Wie fängt man an? Was macht man zuerst? Welche Idee gibt es da, um sich dem zu nähern?   

Giovanni Manfredini: Schwarzes Triptychon / Passion Christi
"Es ist vollbracht." 2013


Michael Braun

Als ich das erste Mal Manfredinis Kunstwerk begegnet bin, war ich mir nicht sicher: Muss ich ergriffen sein oder eher erschaudern vor dieser Darstellung der drei Gekreuzigten, vor dieser Darbietung der Körperabdrücke auf schwarzem Bildgrund? Man nimmt ja an, dass das Ergriffensein in einem sakralen Raum angemessen ist. Aber vor Manfredinis Kunstwerk ist das nach meinem Eindruck nicht möglich. Man erschaudert doch eher vor diesen drei Körpern auf schwarzem Bildgrund, auf die auch noch ein Totenkopf appliziert ist?

Marcus Roloff

Richtig. Es hat so etwas Fotorealistisches und dann hab ich genau hingeschaut und festgestellt: Das ist ja glänzende Ölfarbe. – Es hat den Anschein eines Röntgenbildes, dabei hat er seinen eigenen Körper benutzt. Ja, man schaudert. Es ist wie ein Loch, ein schwarzes Loch, in das man hineingezogen wird. Und aus diesem Erschaudern, aus erstmal diesem Verstörtsein kann man versuchen, viel zu machen. – Vom Schauder zum Text. Wenn man nicht wirklich erschüttert wird, ist es auch schwer, ein Gedicht, überhaupt einen Text zu schreiben. Irgendwo hat es immer mit dem Schauder oder dem ganz Anderen zu tun, dem man begegnet. Und in der Kunst such ich nicht zuletzt auch so etwas.  

Michael Braun

Wenn man versucht, diesem Produktionshintergrund dieses Kunstwerks auf die Spur zu kommen, stößt man zunächst auf die Biografie des Künstlers. Was ist das für ein Mann, dieser Manfredini? Offenbar ein Künstler, der den Schmerz sehr gut kennt. Weil der durch Feuer offenbar schwere Verbrennungen als Kind erlitten hat. Und dann gesagt hat, nachdem er mehrere Haut-Transplantationen über sich ergehen lassen musste: Jetzt ist Schluss mit der Tortur. Und so entstand seine Kunst. Und man erfährt bei der Recherche auch: Er ist ein religiöser Künstler. Aber wie kann so ein Kunstwerk, das so stark abweicht von der traditionellen kirchlichen Ikonographie ein religiöses Kunstwerk sein?

Marcus Roloff  

Ja, das geht 2013/14 wahrscheinlich besser als früher. Die Ästhetiken und ikonographischen Zusammenhänge sind mir auch nur peripher bewusst. Einige meiner Freunde, sind selbst bildende Künstler und zum Teil Kunsthistoriker.
Aber es kann einem bei der Beschäftigung mit bildender Kunst auch nicht annähernd gelingen, einen umfassenden Überblick zu bekommen.
Vor einiger Zeit habe ich im Frankfurter Museum für Moderne Kunst zwei, drei Workshops gegeben. Und da war mir klar, dass ich keinen Vortrag halten will und gar nicht kann, sondern ich möchte relativ schnell zusammen mit den Jugendlichen was entwickeln. Und eine Idee, die ich gleich ganz früh hatte, war: Das Ausklammern von Zusatzwissen ist nicht unbedingt verkehrt. Es geht erst einmal wirklich nur darum: Was sehe ich? Sehe ich überhaupt etwas? Was ist das Etwas? Und auch die Frage, was man nicht sieht, was andere sehen. Das war schön und aufschlussreich in diesem Workshop, dass man da verschiedne Leute gehabt hat, die einfach verschiedene Dinge gesehen haben. Für mich war einfach klar: Dass der Zugang zum Werk nicht verstellt sein wollte von Zusatzwissen. Im Gegenteil: Das kann einem auch den eigenen Text rauben, dass man eben nicht mehr schreibt, weil man weiß: Da gibt es schon so viel.
In dem Fall ist es eben so, dass das Kunstwerk relativ neu ist. Manfredini hat es 2013 fertiggestellt – und es wurde im Herbst 2013 dann auch installiert.
Wichtig für mich bis heute ist: Ich stell mich vor etwas und versuche meinen eigenen Text dazuzugeben. Dass es mit Erschütterung zu tun hat und mit Sterblichkeit. Sämtliche religiösen Überlegungen empfindet man auf einmal geballt in dieser Erschütterung. Wortlos erstmal. Wenns nicht so gewesen wäre, wäre es wahrscheinlich gar nicht dazu gekommen, ein Gedicht daraus oder dazu machen zu wollen.  


Michael Braun

Kommen wir nun zu Deinem Gedicht „hl. grab, eingang wahlkapelle“. Wie kommst Du eigentlich auf diesen Titel, der ja dem sakralen Kontext viel Material der Ernüchterung entgegensetzt, zum Beispiel die Abkürzung „hl.“?

Marcus Roloff

Ich hab nach dem Gewahrwerden des Triptychons im Internet einfach recherchiert. Und habe auf der Seite vom Bartholomäus-Dom diese profane Nennung der Örtlichkeit gefunden. Und dachte mir: So kann man zumindest dieser großen Thematik, die dahintersteht und die einen natürlich auch erschlagen kann (und bei mir tut es das), entgehen. Man kann durch diese reine Nennung der Örtlichkeit, die eine Profanierung, eine Ernüchterung ist, etwas voranstellen, gleich im Titel, das erstmal einen kühlen Realismus hat. Und das ist mir auch wichtig, dass man ein paar harte Fakten in so einem Gedicht hat. Und nicht gleich anfängt, seinen eigenen Text über das Werk gewissermaßen zu stülpen.

hl. grab, eingang wahlkapelle

dass dies gestorbensein so
aus dem schatten springt

aus dieser röntgenmaske
dem dreifaltigen flipchart

hat mich aus dem tritt gebracht
als du dich hinknietest

hörte ich auf genauer hinzusehen
die aufgeklebten totenköpfe sind

wie hermetische seelen in einer
sagst du und schweigst

eine dunkel klagende oder
an etwas kratzende musik herzzerreißend

verbissen ins mailicht von draußen
dran zu glauben dran zu glauben ich weiß

wann der staub von der fototapete zu mir
herabgefallen sein wird


Michael Braun

Nach meinem Empfinden sind in diesem Gedicht zwei gegenläufige Bewegungen: das Aufrufen eines ungeheuren Phänomens – und zugleich die Aufforderung des lyrischen Ichs an sich selbst, sich nicht willenlos diesem Ungeheuren auszuliefern.
In den letzten vier Zeilen wird – so meine Lesart – das auratische Kunstwerk profaniert, wenn hier davon die Rede ist, dass der Staub von der „Fototapete“ „herabgefallen sein wird“... Aber dennoch: Es kniet jemand nieder, es wird jemand aus dem Tritt gebracht.


Marcus Roloff

Das ist, glaube ich, meinen Texten grundsätzlich anzusehen, dass es darin immer ambivalent zugeht. Es geht nie einsinnig, es gibt immer Brechungen in meinen Gedichten. Bleiben wir bei dem Religiösen. Es ist so unheimlich schwer, darüber zu reden. Da überhaupt anzusetzen mit der Sprache. Durch die Profanierung, und durch solche Begriffe und solche Ausdrücke wie „Fototapete“, „Röntgenmaske“, „Flipchart“ mache ich es mir erstmal – ganz simpel – zugänglich. Ich komm weg von dieser übergroßen Fragestellung. Und geh hin zu so einer Übersetzung dessen, was ich sehe. Und bringe es auf meine Größe - und teilweise noch ein bisschen darüber hinaus. „Flipchart“ ist natürlich was extrem Profanes, ähnlich wie „Fototapete“. Und „Staub“ natürlich wieder ein großes Wort. Dass wir alle zu Staub werden, das ist bekannt. Und das kommt dann durch diese Nähe von diesem traditionellem Thema und profaner Wörtlichkeit oder Begriffshaftigkeit. Das prallt dann im Gedicht aufeinander, dass es in meinen Augen etwas Reizvolles hat. Ohne Gebrochenheit würde ich mich langweilen. Auch über mich selbst langweilen. Meine ersten Entwürfe waren noch anders. Die waren, wenn man so will, näher an dieser heiligen Sphäre, ich hab das später, wenn man so will, kaputt gemacht. So kann man das vielleicht sagen, worum es geht: Dinge einfach nicht heil zu lassen. Weil das große Ganze so sprachlich nicht mehr geht in meinen Augen.

Michael Braun

In Deinem poetologischen Exposé, das Du zu Deinen Gedichten über Kunstwerke geschrieben hast, heißt es ja, dass das Gedicht autonom bleiben will gegenüber dem Kunstwerk, sich also keinesfalls illustrativ verhalten will. Sondern, dass das Gedicht unabhängig bleiben will und den Wahrnehmungsprozess verstehen möchte. An einer Stelle sprichst Du davon, dass das Gedicht „von den Früchten des Kunstwerks gekostet hat“. Was heißt das eigentlich?

Marcus Roloff

Das ist die Frage. Was macht das Gedicht? Ich meinte damals tatsächlich die Semantik. – In meinen Augen ist es so: In den Museen hängen Dinge, die permanent Bedeutung abstrahlen, wie so ein Energieträger. Und wenn wir uns dem ausliefern oder in die jeweiligen Museen reingehen, da ist es oft so, dass man sich in diesem Kontext erschlagen fühlt. Ich habe jahrelang auf europäischem Boden Museen besucht und mir war immer schlecht fast von dieser Überfülle. Und ich habe immer versucht, meine kleinen Fenster zu finden, meine kleinen Nischen, wo kann ich ansetzen, wo kann ich den Hebel ansetzen? Und hab Notizen immer gemacht und richtig Gedichte wurden da nie draus. Und vor drei Jahren hab ich tatsächlich versucht, ein Projekt daraus zu entwickeln. Es sind mehrere Gedichte zu Kunstwerken entstanden. Und diese Früchte sind für mich diese Überfülle. Es ist also paradiesähnlich und voller Bedeutung. Natürlich nicht für jeden. Und man wählt ja sowieso immer aus. Gerne auch unbewusst. Da befinden sich Dinge und Objekte, hoch aufgeladen mit Bedeutung. Und das Gedicht, auf das das abstrahlt, muss sich – das ist ein Gedanke, von Rilke kommend – muss sich da auch behaupten. Gegen diese Überfülle. Bei Rilke war es ja der Rodin, der so unglaublich auf ihn gewirkt hat, und der hat gesagt: Wie kann so ein kleines Textchen, wie kann so ein dünnes Schriftbündel, graphisches Etwas dagegenhalten. Ja, da hat er unheimlich gerungen. Und ich hab das damals als Zwanzigjähriger gelesen und das kam mir wieder so in den Sinn und das ist letztendlich eine Rilke-Spur, die da irgendwo drin steckt. Sozusagen: ich muss mich jetzt dazu verhalten. Das muss ein Gedicht sein, das dagegenhalten kann.

Michael Braun

Kommen wir zu einer zentralen Kategorie Deiner Dichtung – dem Prozess der Wahrnehmung. Es gibt ein Gedicht, das sich fast ausschließlich mit den Möglichkeiten der Wahrnehmung beschäftigt und wie sich Wahrnehmung konstituiert. Da geht es um ein Kunstwerk, das wir im Museum für moderne Kunst in Frankfurt sehen können, des Künstlers James Turrell. „Twilight Arch“, übersetzt als „Dämmerungsarche“. Es besteht im Grunde nur aus einem dunklen Raum und einer ultravioletten Farbfläche. Was hast Du daraus gemacht?

dämmerung (schaubude)

beweis dass ich sehe (ich-taste)
ich totes werkzeug stehe

im leeren raum
versagt mir das licht
wie zu boden gefallene milch

die ahnung

klopfenden flimmerns des films
der ununterbrochen beginnt

die leinwand das
gefrorene handtuch in dem ich
verschwand

mein nicht geschnittener
blick (immanenz). wirf mich durch etwas
gegen null gehendes

aus dem raum zurück

(ZU JAMES TURRELL TWILIGHT ARCH, 1991)



Marcus Roloff

Das war eine Erschütterung, aber nicht auf der metaphysischen Ebene, sondern physisch. Ich habe einfach gestanden in diesem dunklen Raum und wusste einfach nicht, was ich sehe. Ganz simpel: Ich wusste nicht, was das ist. Wir dürfen es hier auch nicht verraten, es ist einfach im Wortsinn – buchstäblich eine Überraschung. Und das Gedicht, das fragmenthaftes Sprechen versucht nachzuzeichnen, wie ich da stand, und versucht habe zu verstehen, was ich sehe. In Klammern: Was ich nicht sehe. Wie die Dinge, die dann so wichtig wurden, das Thema: Was sieht man eigentlich?

Michael Braun

Es gibt bei Horaz eine schöne Unterscheidung des ästhetischen Wahrnehmungsvorgangs:  Es gibt Gemälde, die Dich, wenn Du näher stehst, mehr fesseln, und solche, wenn Du weiter entfernt stehst. Dieses Gemälde will das Dunkel, dieses will bei Lichte beschaut sein. Der James Turrell macht beides zugleich. Dass nämlich Licht im Dunkel entsteht. Es ist ein Versuch über Dunkelheit und Helligkeit zugleich.

Marcus Roloff

Das macht es für mich so symbolhaft, dieses Werk, und ähnlich wie bei anderen. Ich hab wenig Zusatzwissen, ich weiß, dass James Turrell Licht-Installationen macht, also viel mit Licht arbeitet. Für mich war einfach das reine, nackte, von allem unbeeinflusste Subjekt, das da steht und was zu sehen versucht. Das ist die Situation, und das ist so unheimlich grundsätzlich und dass es in meinem Fall keine Beschreibung von irgendetwas ist, sondern ein reines Sprachgebilde, das anhand von einem Kunstwerk aber trotzdem den Suchprozess artikuliert. Um den es grundsätzlich immer geht. Und insofern wäre Turrell nur eine zufällige Eigenschaft meines Suchens, meines Suchvorgangs.

Michael Braun

Bevor wir am Ende diesen Wahrnehmungsprozess thematisieren, wollte ich zu einem Gedicht kommen, das ein deutlich berühmteres Bild aufgreift als die beiden anderen Kunstwerke, über die wir gesprochen haben. Es geht um ein Goethe-Porträt des Maler Tischbein, da könnten wir über die beiden Bildprogramme des Gedichts sprechen.

städel #1

goethe (tischbein) anderthalb mal zwei meter, tadellos
verriegelt, der aufgeraute himmel von heute im thoma-
zimmer (hans-) nebenan „selbstbildnis vor“ birkenwald &
warmen farben, abendstimmung achtzehn neun’neunzig
von zehn bis neun schaut er uns zu beim hören & sehen
ach ’n bach an der norwegischen küste („seesturm“) hoch-
kant stehender kutter & blendendweiße seele im auf-
gerissenen wolkendraht, auch das hintergrundlicht
ist untertitelt & die blonde ophelia (müller, victor) mit
weggeneigtem kopf souffliert sich die spiegelneuronen


Michael Braun

Zwei Bildprogramme werden aufgerufen: das des Malers Tischbein, das auch konterkariert wird und zugleich auch das Bildprogramm des Dichterfürsten Goethe. Ein Bild, in dem auch noch ein liebliches Arkadien anwesend ist, das unsre Italien-Sehnsucht mobilisieren soll. Aber Du bist nicht damit einverstanden?

Johann Heinrich Wilhelm Tischbein: Goethe in der Campagna, 1786.

Marcus Roloff

Ja, das Gedicht kümmert sich um sich. Es kümmert sich nicht um den über-prominenten Autor. Und es kümmert sich auch nicht darum, was der Urheber dort sieht, sondern das Gedicht beschäftigt sich interessanterweise mit sich selbst. Und die Wahrnehmung beschäftigt sich mit sich selbst. Und was dann als Realgehalt aufgerufen wird, das sind leichte Verzerrungen. Es geht mir nicht darum, ein Bild zu betrachten, hier geht es ja um mehrere Überblendungen. Ich war in dem Tischbein-Raum, also dem Goethe-Raum, es ist eine Dauerhängung im Städel, und das hab ich dann kursorisch, ohne Notizen geschrieben. Und es haben sich rein gedächtnistechnisch letztlich Dinge überlagert. Und am Ende war mir wichtig, dass es eben auch angezeigt wird, dass es nicht darum geht, ein Bild oder Bilder zu beschreiben. Sondern zu zitieren in diesem Wahrnehmungs-Flow, in dem man sich da befindet. Das sind so Reste, Reste von einer realen Hängung.
In der jüngeren Vergangenheit habe ich tatsächlich oft nach erinnerten Bildern geschrieben, Es geht viel um Erschütterungen und Verstörungen. Ich bin schon sehr darauf bedacht, auch das Reale, das Realmaterial einfließen zu lassen. Das darf dann nicht Fehler aufweisen. Hier ist es Andreas Achenbach, das dritte Werk, das da aufscheint – vier Gemälde sind es insgesamt, die genannt werden. Und hier ist es >Seesturm vor der norwegischen Küste<, so ist der reale Titel von dem Werk. Es gibt diese visuelle Korrektheit – das ist so ähnlich wie beim Übersetzen auch -, dass man da nichts drüber legt, sondern eng ganz nah bleibt am Original. Und das eben nur als Zitat oder als Fragment. Kurzes Aufblitzen.


Michael Braun

Die Überblendung kennt man als Technik aus dem Film. Auch die Doppelbelichtung oder Überblendung, oder den „Film in Worten“, wie das Rolf Dieter Brinkmann genannt hat. Das Gedicht als Wahrnehmungsinstrument, wie Thomas Kling sagt. Dann wird es erst schwierig. Zum Beispiel die Frage nach der Verlässlichkeit der Wahrnehmung. ...bringt das den Dichter nicht in Schwierigkeiten?

Marcus Roloff

Der Dichter nimmt nicht nur wahr, sondern überprüft ständig, was er wahrnimmt. Und er überprüft es dahingehend, was man aus diesen Wahrnehmungen sprachlich machen kann. Das ist eigentlich das Entscheidende. Es geht ja nicht darum, dass man Dinge wahrnimmt, seien es Kunst- oder Lebens-Dinge, sondern es geht darum, dass man sprachlich damit etwas tut. Und da ist es eben schön, dass es Kunst gibt. Und dass man sich einfach abarbeiten kann anhand von etwas Vorliegendem. Also dass man zunächst einmal reagiert auf etwas. Und sich nichts im klassischen Sinne ausdenkt und quasi so ins Blaue dichtet. Sondern dass man wirklich etwas hat – eine Vorlage -, und nach der auch arbeitet. Und gleichzeitig ist es eben so wichtig, eine Versprachlichung dessen zu erreichen, was man sieht. Oder eben nicht sieht. Und das könnte unter Umständen der Reiz des Gedichts sein.

Marcus Roloff: reinzeichnung. Gedichte. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2015. 80 Seiten, 17,80 Euro.

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