Gespräch mit Jürgen Brôcan über Weißräume
Dialoge
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Gespräch mit Jürgen Brôcan über
WEIßRÄUME
Lieber Jürgen, du betreust einen recht ansehnlich großen Verlag, die edition offenes feld, mit einer Reihe exzellenter Neuerscheinungen auch dieses Jahr. Alle, die schreiben, wollen im Grunde auch in der Öffentlichkeit lesen und zur Kenntnis genommen werden. Wie nötig ist es heutzutage, dafür Räume zu schaffen, Platz für das Ich, das sich ausbreiten und verstanden werden will?
Natürlich gibt es auch bei mir zuerst den Reflex, der sagen möchte, wir brauchen unbedingt mehr Räume, mehr Möglichkeiten, aber ich denke, wir sollten an dieser Stelle differenzieren. Es finden ja fast überall nicht wenige Lesungen statt – die Frage ist nur: was wird gelesen? Anspruchsvolle oder besser gesagt schwierige Texte sehen viele Veranstalter nicht besonders gerne im Programm, weil sie nicht genügend Publikum anlocken. Dazu gehört leider auch die Lyrik. Wir brauchen also mehr Gelegenheiten, um explizit die Lyrik vorzustellen, und zwar jenseits finanzieller Erwägungen von Veranstalterseite. Aber ist statt des Schreibtischs eine Lesebühne der richtige Ort für das Ich, das sich entfalten will …
… oder auch, das sich eingeengt und übergangen fühlt …
Ich verstehe solche Bedürfnisse allemal, denn ich selbst bin auch keinesfalls frei davon, aber mir geht es, abgesehen von der unvermeidlichen Notwendigkeit der Honorare für Freiberufler, bei solchen Lesungen weniger um die Präsentation eines Ichs als um die Texte, die von diesem Ich geschrieben wurden. Eine Lesung sollte – meiner Meinung nach, die man selbstverständlich nicht teilen muß – eher dazu dienen, das Publikum mit den eigenen Texten vertraut zu machen, sie ihm nahezubringen, als der Eitelkeit des schreibenden Ichs eine Bühne zu bieten. Mit jedem neuen Gedicht erschließt sich ja die Welt ein Stück weit neu aus einer Perspektive, die einem bislang vielleicht fremd oder unbekannt war. Eine solches Gedicht nicht still für sich selbst zu lesen, sondern es mit der Stimme seines Urhebers, seiner Urheberin zu hören und mit ihm, mit ihr dann vielleicht sogar ins Gespräch zukommen, stellt eine zusätzliche Qualität dar.
Nun bietest du diese »Weißräume« an, verstehst du sie als Reihe?
Es wäre erfreulich, wenn sich die »Weißräume«, übrigens nach einem Vorschlag von Kerstin Zimmermann so benannt, zu einer Reihe entwickeln könnten. Wenn diesem ersten Lyrikfest noch weitere in den kommenden Jahren folgen würden. Gerade im Ruhrgebiet gibt es Veranstaltungen dieser Art eher selten. Deshalb ein deutliches Ja zu deiner Frage, lieber Kristian – vorausgesetzt natürlich, es läßt sich auch in den Folgejahren die Finanzierung irgendwie bewerkstelligen. In diesem Jahr wird sich das Fest dank der Bezirksvertretung der Innenstadt-West und des Kulturbüro Dortmund und nicht zuletzt der Stadt- und Landes-bibliothek realisieren lassen, auch wenn vorher einige bürokratische Hürden zu nehmen waren … Also ja, von meiner Seite wäre auf jeden Fall geplant, die »Weißräume« fortzusetzen.
Ist dieser Platz ein weiteres Feld innerhalb deines offenen-feld-Angebots? Sozusagen eine Art
Verlängerung. Oder als eine Art Vorhof, auch für Leute, die du mit eof (bisher) nicht verlegst?
Für die erste Ausgabe des Lyrikfests sind tatsächlich nur eof-Autorinnen und -Autoren eingeladen, die erst kürzlich ein neues Buch bei uns herausgebracht haben. Aber in den nächsten Jahren soll das Portfolio natürlich erweitert werden, zum Beispiel hat der Münchner Aphaia Verlag schon Interesse an einer Kooperation signalisiert. Letztlich geht es jedoch nicht um die Präsentation einzelner Verlage, deshalb muß die Zielrichtung noch etwas stärker herausgearbeitet werden. Es geht um interessante, um relevante Lyrik, die eindeutig zukunftszugewandt ist, aber auch die Traditionen nicht verachtet. Es wäre schön, wenn das Publikum nach einer Lesung den Eindruck mit nach Hause nimmt, das es soeben etwas richtig Haltbares, Dauerhaftes gehört hat, das Hirn und Herz gleichermaßen herausfordert.
Was verstehst du unter Weißräumen, sicher nicht übertünchte Begrenzungen, im Brechtschen Sinn seines Lieds von der Tünche. Suchst du auch hier einen Platz für das Offene, noch Leere im Sinne von Unbesetztem?
In der Buchgestaltung versteht man unter »Weißräumen« all jene Stellen, die nicht von einem Text, dem »Schwarzraum«, bedeckt sind. Wenn also ein Gedicht auf einer Buchseite steht, umgeben von so viel Ungesagtem und Unsagbarem, dann muß die Poesie etwas Besonderes sein: Die Versform kann Gedanken und Ideen, Empfindungen, Erfahrungen und Gefühle auf kleinstem Raum darstellen. Sie eignet sich deshalb von allen literarischen Formen vielleicht am besten dazu, kulturelle und menschliche Werte zu vermitteln, soziale Netzwerke aufzubauen und gegenseitiges Verständnis zu wecken. Gedichte können ein großes Vergnügen bedeuten (an der Sprache, den Gedanken, den Bildern, den Stimmungen) und zugleich ein Mittel zur Erkenntnis sein. Aber das alles ist immer eingebettet in das viel größere Offene, womöglich Unendliche oder bislang Ungedeutete, das (noch) zu keiner Sprache gefunden hat und im weißen Rauschen verharrt.
Im Ankündigungstext steht etwas von der Viefalt der Lyrik, der Wort gegeben werden soll. Inhaltlich ohne Beschränkungen? Was sind die Auswahlkriterien? Auch formal. Inwieweit greift ein Dortmund-Bezug?
Ein regionaler Bezug ist überhaupt nicht notwendig, auch wenn wir ihn nicht ablehnen würden. Die inhaltliche und formale Vielfalt ist wichtig. Für die erste Ausgabe des Fests stehen deshalb bewußt ältere neben jüngeren Autorinnen und Autoren, einfache Gedichte neben komplexen, inhaltlich fokussierte neben sprachlich fokussierten. Am Ende müssen wir uns ja irgendwie beschränken, einen sinnvollen Rahmen finden – aus zeitlichen, aus finanziellen Gründen –, anders gesagt, wer gerade nicht eingeladen ist, hat sich deshalb weder dichterisch noch menschlich disqualifiziert. Ohne ganz subjektive Kriterien geht es allerdings am Ende nicht, wenn ich also eine enorme Dringlichkeit und existenzielle Ernsthaftigkeit spüre, verbunden mit sprachlichem Scharfsinn und formalem Verstand, dann hat das gute Chancen, dann jubelt der kritische Verstand ...
Wer oder was ist das Haus Schulte-Witten? Spielt der Name, außer dass er ein zur Verfügung
gestellter Leseraum ist, eine Rolle? Darf man sich im Zweifelsfall bewerben? Bei wem und wie, wann?
Der Initiative und Vermittlung der Dortmunder Schriftstellerin Ursula Maria Wartmann ist die Kooperation mit dem Haus Schulte-Witten, geleitet von Claudia Vennes von der Stadt- und Landesbibliothek, zu verdanken. Dieses alte Herrenhaus im Stil des Neobarocks und des Neoklassizismus gibt mit seinem kleinen Park, dem historischen Ambiente und den großzügigen, aber nicht übertriebenen Räumlichkeiten – und nicht zuletzt der guten Verkehrsanbindung – einen idealen Ort für Lesungen ab. In genealogische Tiefen brauchen wir deshalb nicht zu steigen. Für künftige Veranstaltungen der Reihe würden wir die Teilnehmer:innen lieber selbst ansprechen und einladen, denn Bewerbungen bedeuten leider auch immer, die für die Zukunft angestrebte deutlichere inhaltliche Fokussierung wieder ein Stückchen aufzuweichen. Unterm Strich müssen Zeitläufte, Umstände und ästhetische Präferenzen das Programm bestimmen.
Vielen Dank, lieber Jürgen, für das Gespräch!