Fundstücke
Poetik / Philosophie
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Kaum wagte das Volk, als es vorbeizog an feierlichen Tagen, aufzublicken zum Abbild seiner eigenen Geschichte, und da umschritten längst schon, zusammen mit den Priestern, die Philosophen und Dichter, die herbeigereisten Künstler, voll Sachkenntnis den Tempel, und was für die Unkundigen im magischen Dunkel lag, war für die Wissenden ein nüchtern einzuschätzendes Handwerk. Die Eingeweihten, die Spezialisten sprachen von Kunst, sie priesen die Harmonie der Bewegung, das Ineinandergreifen der Gesten, die andern aber, die nicht einmal den Begriff der Bildung kannten, starrten verstohlen in die aufgerissnen Rachen, spürten den Schlag der Pranke im eignen Fleisch. Genuß vermittelte das Werk den Privilegierten, ein Abgetrenntsein unter strengem hierarchischem Gesetz ahnten die andern.

Peter Weiss:
Die Ästhetik des Widerstands
(Band I, S. 9 - Suhrkamp)
1975
14.09.2025
Mit seiner Milchstraße hat dieser große Himmel Ähnlichkeit mit der Metaphysik. Übrigens sind die Philosophen über diese Milchstraße geteilter Meinung. Die Pythagoreer behaupteten, daß die Sonne bisweilen auf ihrer Bahn sich verirre und durch Gegenden komme, die ihre Glut nicht ertragen können; dadurch sei die Gegend, durch die sie schritt, in Flammen aufgegangen; übriggeblieben sei nur die Spur jenes Brandes. Ich glaube, daß sie hierin der Fabel von Phaeton gefolgt sind, deren Erzählung Ovid zu Beginn des zweiten Buches der Metamorphosen bietet.

Dante Alighieri:
Das Gastmahl
(Zweiter Traktat, 15. Kapitel)
Übersetzt von Constantin Sauter,
Winkler-Verlag, S. 93. 1965
07.09.2025
Aus dem Publikum: Jack, wo gehören in das bislang Gesagte die Gedanken? So wie du das Schreiben eines Gedichts darstellst, scheint es mir, dass am Anfang praktisch nichts da ist, und dann sprichst du doch über die Gedanken, die durchkommen. Was aber, wenn du am Anfang einen Gedanken hast? Wie passt das hier rein? Wenn du einen Gedanken hast, den du entwickeln willst, und einzelne Verse fallen nicht so ins Gewicht wie der Eindruck des Ganzen?
JS: Na, ich versuche doch zu sagen, dass wenn du einen Gedanken hast, den du entwickeln willst, du kein Gedicht schreiben solltest, denn dann wird es nahezu mit Sicherheit ein schlechtes. Du kannst eine Idee haben, die du entwickeln willst, aber die Idee, die das Gedicht entwickelt, wird doch anders ausfallen.

Jack Spicer:
Vortrag in Vancouver (13. Juni 1965)
Übersetzt von Stefan Ripplinger
Fortsetzung / Diskussion in Mütze #13, S. 629.
31.08.2025
Wenn ich den Atem einhämmere, wenn ich ihn ins Gedächtnis zurückrufe, und das unausgesetzt tue, das Atmen im Unterschied zum Hören, geschieht das aus Gründen, geschieht das, um auf einer bestimmten Rolle zu insistieren, die der Atem beim Vers spielt und die nicht (weil die Kraft der Zeile durch einen zu starren Begriff des Versfußes lahmgelegt worden ist, wie mir scheint), die nicht genügend beachtet oder befolgt worden ist, die es aber muß, wenn der Vers seiner eigentlichen Stoßkraft und seinem Stellenwert heutzutage, jetzt, näherkommen soll, und von da aus weiter. Ich denke, daß der PROJEKTIVE VERS diese Lektion lehrt, und ist: nämlich daß nur der Vers passieren darf, worin es dem Dichter gelingt, sowohl das, was er durch sein Ohr aufgenommen hat, wie auch den Druck seines Atems zu registrieren.

Charles Olson:
Projektiver Vers
(übersetzt von Klaus Reichert) 1965
in: Walter Höllerer: Theorie der modernen Lyrik I. S. 397.
24.08.2025
Um den Himmel zu beschreiben, darf man nicht die Materien der Erde dorthin befördern. Die Erde und ihre Materien muss man dort lassen, wo sie sind, um das Leben durch sein Ideal zu verschönern.

Lautréamont:
Dichtungen (Poésies), II
(übersetzt von Ré Soupault) 1963
17.08.2025
Ich bin der Hieroglyph,
Der unter der Schöpfung steht.

Else Lasker-Schüler:
Mein stilles Lied
(In "Der siebente Tag", ) 1905
10.08.2025
All die Formen der sakralen Kunst sind unzweifelhaft durch die bürgerlichen Werte zerstört worden, aber diese Art der Fest-stellung hilft bei unserem Problem nicht weiter. Es ist töricht, die Abneigung gegen bürgerliche Formen in eine Abneigung gegen Bedürfnisse zu kehren, die allen Menschen gemeinsam sind: Wenn das Bedürfnis nach echter Berührung mit einer sakralen Unsichtbarkeit durch das Theater noch vorhanden ist, dann müssen alle verfügbaren Mittel neu geprüft werden.

Peter Brook:
Der leere Raum
(Kapitel II "Das heilige Theater", übersetzt von Walter Hasenclever) 1969
02.08.2025
Aber wenn es Schlaf war, so vermögen wir kaum die Frage
zurückzudrängen: was ist denn nun Art und Sinn eines solchen Schlafes? Ist er
Heilmaßnahme der Natur – ein Starrzustand, dazu bestimmt, die quälendsten
Erinnerungen, Ereignisse, die das ganze Leben verkrüppeln und zum Kümmern
bringen können, mit einer dunklen Schwinge zu streifen, ihnen so alles Herbe
und Harte zu nehmen und sie – auch die schlimmsten und häßlichsten – mit Glanz
und Glut zu übergolden? Muß von Zeit zu Zeit auf das lärmende Wirrsal des Lebens
der Finger des Todes gelegt werden, weil es uns sonst in Fetzen zerreißen
würde? Ist es so um uns bestellt, daß wir den Tod täglich in kleinen
zugemessenen Mengen nehmen müssen, weil wir sonst mit dem Geschäft des Lebens
nicht zurechtkämen? Und: was für seltsame Kräfte sind das,
die in unser geheimstes Tun eindringen und unsere am ängstlichsten gehüteten
Besitztümer verwandeln, ohne daß wir es wollen? War Orlando, erschöpft durch
das Höchstmaß des Leidens, für eine Woche gestorben und dann wieder zum Leben
erwacht? Und wenn es so war: von welcher Art ist dann der Tod, und von welcher
Art ist das Leben? Wir haben wohl über eine halbe Stunde auf eine Beantwortung
dieser Fragen gewartet, und es ist keine erfolgt; fahren wir also nun mit
unserem Bericht fort.

Virginia Woolf:
Orlando. Eine Biographie
(Kapitel II, übersetzt von Karl Lerbs) 1929
27.07.2025
Die Wahrheit kam nicht nackt in die Welt, sondern sie kam in den Sinnbildern und Abbildern. Die Welt wird sie auf keine andere Weise erhalten.

Philippus-Evangelium, 67:
(In M. Krause: Die Gnosis II, Zürich, 1971. S. 108.)
Abbildung: Heinrich Füßlis Frontispiz zu Erasmus Darwin: "The Temple of Nature".
20.07.2025
Die Geschichten sind hier,
die Geschichten bist du,
und deine Angst
und deine Zuversicht
sind so alt
wie Rauchzeichen,
wie Blutrache,
wie die Sprache
weichender Liebe.

Ka(t)e Tenmpest:
Brand New Ancients
Brandneue Klassiker
(übersetzt von Johanna Wange, Suhrkamp 2013/2017)
14.07.2025
Wie ich mir schon als Kind unter der Gottheit
etwas über alle Begriffe Schönes
vorstellte, war es die Schönheit in mancherlei Gestalt, die mich von je bewegte
und immer bewegen wird. Schöne Menschen, schöne Dinge, schöne Träume, schöne
Tiere, Wolken, Gedanken, Gedichte, Bilder, von denen die Welt voll ist, auch in
bösen Zeiten. Um ihretwillen, sie zu sehen und ihrer uns zu freuen, dünkte mir,
seien wir da. Das menschliche Leben freilich ist viel zu kurz, aller Schönheit
der Gotteswelt teilhaftig zu werden. Dennoch sollten alle menschlichen
Bemühungen, Staatskunst und Schule vorzüglich darauf gerichtet sein, allen
Sterblichen für die Herrlichkeit des Schönen, wo es nur zu finden ist, die
Augen zu öffnen.
Denn
Mensch sein heißt: sich freuen und Freude machen.

Ernst Penzoldt:
Das Schöne
(In "Das Nadelöhr" - 1948)
06.07.2025
Zwei Hermetiker, oder Lob der Fachsprache
Der Blumenhändler sagt: "Das Alpenveilchen braucht einen kalten Fuß."
Der Installateur spricht davon, daß totes Wasser in der Leitung sei.

Thomas Kling:
Stadtpläne, Stadtschriften
(In "Botenstoffe" - DuMont 2001)
29.06.2025
Und es erhob sich mehr als nur ein Säuglingsgewimmer, als der Erste Weltkrieg die nackte Wahrheit zurückließ. Es war, als wäre erst jetzt, in diesem Augenblick, die Menschheit endgültig ge-boren worden. Zum ersten Mal in seiner trügerischen Geschichte hatte der Mensch die übernatürliche Welt verloren; hatte er deren besondere Schrecken und Grausamkeiten verloren, aber damit auch ihren unendlichen Trost und ihre grenzenlosen inneren Reichtümer. An ihrer Stelle war er allein auf einen neuen Schrecken gestoßen: Bedeutungslosigkeit.

Ted Hughes:
Das poetische Ich.
(In "Wie Dichtung entsteht", übersetzt von Jutta Kaußen, Wolfgang Kaußen und Claas Kazzer. Insel Verlag (1988) 2001)
22.06.2025
„Anders als ein Tyrann ist die Kunst nicht auf Gnade
ange-wiesen. Sie gewährt sie nur.“

Ismail Kadare:
Der Anruf. Untersuchungen.
(Fischer Verlage, S. 119) 2025
15.06.2025
Es darf durchaus gesagt werden, daß die Sprachgeschichte dem Spiegel eine Art Eigenleben zuspricht; mit Veranstaltungs-charakter. Bei dem der das Gerät Gebrauchende eigenes leisten muß, bei dem der Verbraucher eine Eigenleistung zu erbringen hat.
Gedicht und Spiegel.

Thomas Kling:
Poetik
(In "Auswertung der Flugdaten" - Kapitel: Projekt "Vorzeitbelebung", DuMont 2005)
07.06.2025
Nietzsche irrte sich nicht, als er sein Buch über die Geburt der Tragödie mit dem Versprechen einleitete, daß unsere Ästhetik wesentlich bereichert würde, wenn wir uns daran gewöhnen, in jedem Kunstwerk zwei in ihm notwendig vorhandene, polar entgegengesetzte und sich in Wechselwirkung befindende Prinzipien zu unterscheiden, die er mit den Namen zweier hellenischer Gottheiten zu bezeichnen vorschlug - mit denen von Apollo und Dionysos, die diese ästhetische Polarität mit Bestimmtheit zum Ausdruck bringen.

Vjačeslav Ivanovič Ivanov:
Dionysos und die vordionysischen Kulte
(Anhang 1: Sinn der antiken Tragödie,
übersetzt von Käthe Rosenberg, Michael Wachtel, Christian Wildberg )
2012
31.05.2025
Zauberei auf der Bühne:
Ein Topf mit Deckel allein auf der Herdplatte. Die Maiskörner platzen. Volle Lautstärke: Plopp. Plopp. Plopp.

Lütfiye Güzel:
dreh-buch
(Go-Güzel-Publishing, 2019)
25.05.2025
Die erste Registrierung des nackten Lebens als neues politisches Subjekt findet sich implizit schon in jenem Dokument, das man gemeinhin der modernen Demokratie zugrunde legt: dem writ des Habeas corpus von 1679. Welches auch immer der Ursprung der Formel sein mag - man trifft sie bereits im 13. Jahrhundert an, als sie die physische Präsenz einer Person vor Gericht sicherte -, bemerkenswert ist, daß im Zentrum der Habeas-corpus-Akte weder das alte Subjekt der feudalen Bezie-hungen und Freiheiten noch der künftige citoyen steht, sondern schlicht und einfach das corpus.

Giorgio Agamben:
Homo sacer
(Dritter Teil, Kapitel 1: Die Politisierung des Lebens. Übersetzer Hubert Thüring.)
2002.
17.05.2025
„Indem ich das ausspreche – hören Sie? – entsteht
eine Stille; die Stille, die um die Dinge ist. Alle Bewegung legt sich, wird
Kontur, und aus vergangener und künftiger Zeit schließt sich ein Dauerndes: der
Raum, die große Beruhigung der zu nichts gedrängten Dinge. Aber nein: so fühlen
Sie die Stille noch nicht, die da entsteht. Das Wort: Dinge geht an Ihnen
vorüber, es bedeutet Ihnen nichts: zu vieles und zu gleichgültiges."

Rainer Maria Rilke:
August Rodin
(Zweiter Teil, Vortrag, Kapitel "Dinge".)
1907.
11.05.2025
Ist überhaupt gewaltlose Beilegung von Konflikten möglich? Ohne Zweifel. Die Verhältnisse zwischen Privatpersonen sind voll von Beispielen dafür. Gewaltlose Einigung findet sich überall, wo die Kultur des Herzens den Menschen reine Mittel der Übereinkunft an die Hand gegeben hat. Den rechtmäßigen und rechtswidrigen Mitteln aller Art, die doch samt und sonders Gewalt sind, dürfen nämlich als reine Mittel die gewaltlosen gegenübergestellt werden. Herzenshöflichkeit, Neigung, Frie-densliebe, Vertrauen und was sich sonst hier noch nennen ließe, sind deren subjektive Voraussetzung. Ihre objektive Erscheinung aber bestimmt das Gesetz (dessen gewaltige Tragweite hier nicht zu erörtern ist), daß reine Mittel niemals solche unmittelbarer, sondern stets mittelbarer Lösungen sind. Sie beziehen sich daher niemals unmittelbar auf die Schlichtung der Konflikte zwischen Mensch und Mensch, sondern nur auf dem Weg über die Sachen.

Walter Benjamin:
Zur Kritik der Gewalt
1935
04.05.2025
Infolge der Teilnahme am göttlichen Frieden einigen sich zunächst die höchsten aller vereinigenden Mächte, jede in sich und alle einander und dann mit dem Urfrieden des Alls. Hierauf einigen sie die ihnen untergeordneten Dinge - wieder sowohl jedes in sich selbst als auch gegenseitig und mit der einen und allvollkommenen Urquelle und Ursache des allgemeinen Friedens. Dieser aber ist ungeteilt allen gegeben - über das ganze Universum hin dringt er überall ein. Er umschließt die ganze Welt gleichwie mit Riegeln und Klammern, die das Getrennte zusammengefügt halten, grenzt jedes ab, stellt jedes sicher, läßt niemals zu, daß Einzelnes abfalle und ins Endlose und Grenzenlose absinke. Denn sonst wären die Dinge alle sehr bald ungeordnet und verlören ihre Grundlage, vor allem aber fielen sie dann auch unrettbar aus Gottes Vorsehung hinaus. Chaotisch verwirrt wären da die Dinge alsbald und heillos, wenn sie aus ihrer Einigung stürzten.

(Ps.) Dionysios Areopagita:
Mystische Theologie
(Kap. XI, Über den Frieden und das Absolute, 1)
6. Jahrhundert
27.04.2025
Dis ist ein grůs, der hat manige adern, der dringet usser dem vliessenden gotte in die armen, dúrren sele ze allen ziten mit núwer bekantnússe und an núwer beschowunge und an sunderlicher gebruchunge der núwer gegenwúrtekeit. $t Eya suͤslicher got, fúrig inwendig, bluͤgende uswendig, nu du dis dem minnesten hast gegeben, moͤhte ich noch ervarn das leben, das du dinen meisten hast gegeben, darumbe wolt ich dest langer qweln. Disen grůs mag noch můs nieman enpfan, er si denne úberkomen und ze nihte worden.

Mechthild von Magdeburg:
Offenbarungen oder Das fließende Licht der Gottheit, 1, 2, 35
13. Jh.
20.04.2025
Ich weiß nicht, was ein Mensch ist, doch ich reiche ihm dieses Blatt, damit er schreibe.

Alejandro Tarrab:
Schwarzer Nachgeschmack
Aus dem Mexikanischen Rike Bolte, 2017
13.04.2025
Wenn ich einen hellen Moment habe, dann guck ich mir manch-mal Wendungen und Worte an, was die für eine Bedeutung haben und welche Bedeutung sie vielleicht haben oder kriegen könnten. Zum Beispiel auf der neuen Platte gibt es ein Lied, das heißt >Herzhaft< - >nimm mich in die Herz-Haft<. Solche Worte fallen mir dann ab und zu auf, oder genauso ein Sprich-wort, wenn ich es dann leicht verdrehe, dann denkt man, wenn man's hört: >Oh, kenn ich, ich hab's verstanden!< Und dann stellt man fest: >Ah nee, stimmt ja gar nicht, der meint ja ganz was anderes.<

Herbert Grönemeyer:
Im freien Flug
(Münchner Rede zur Poesie, Kapitel "Rede-Wendungen, Worte sammeln, Sprichworte verdrehen", 2022/2025)
Foto: Plattencover Schiffsverkehr
06.04.3025
Ich befinde mich nicht an diesen Orten und kann sie lediglich kartografieren. Ich kann sie weder begehen noch kann ich sie erkunden, weil sie schwer zugänglich oder nicht mehr vor-handen sind.

Klaus-Peter Busse:
Bücher, Bilder und Orte
(In: Cy Twombly - Ortsumgehungen, Tracing Places. Kleinheinrich 2024)
(Foto:Jürgen Huhn, TU Dortmund)
30.03.3025
Ein Gedicht
sollte besser enden
als das Leben. Dazu ist es da.

Adam Zagajewski:
Der Frühling ist gekommen.
(Gedicht in "Unsichtbare Hand",
Hanser, Edition Lyrik Kabinett, 2003)
23.03.3025
Die Verzückung des dionysischen Zustandes mit seiner Vernich-tung der
gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins enthält nämlich während
seiner Dauer ein lethargisches Ele-ment, in das sich alles persönlich in
der Vergangenheit Erlebte eintaucht. So scheidet sich durch diese Kluft
der Vergessenheit die Welt der alltäglichen und der dionysischen
Wirklichkeit von einander ab. Sobald aber jene alltägliche Wirklichkeit
wieder ins Bewusstsein tritt, wird sie mit Ekel als solche empfunden;
eine asketische, willenverneinende Stimmung ist die Frucht jener
Zustände. In diesem Sinne hat der dionysische Mensch Ähnlichkeit mit
Hamlet: beide haben einmal einen wahren Blick in das Wesen der Dinge
gethan, sie haben erkannt, und es ekelt sie zu handeln; denn ihre
Handlung kann nichts am ewigen Wesen der Dinge ändern, sie empfinden es
als lächerlich oder schmachvoll, dass ihnen zugemuthet wird, die Welt,
die aus den Fugen ist, wieder einzurichten.

Friedrich Nietzsche:
Die Geburt der Tragödie
aus dem Geiste der Musik
Kap. 7 - 1872
16.03.2025
Er unterbrach sich wieder und lächelte auf eine Weise, die keine Spur von Selbstironie enthielt. "Wahres Heldentum, das sind Sie allein in einem genau definierten Arbeitsbereich. Wahres Hel-dentum, das sind Minuten, Stunden, Wochen, Monate und Jahre der stillen, präzisen und umsichtigen Ausübung von Sorgfalt und Redlichkeit - und niemand sieht zu und jubelt. Das ist die Welt. Nur Sie und der Job, an Ihrem Schreibtisch."

David Foster Wallace:
Der bleiche König
(§ 22. Übersetzt von Ulrich Blumen-bach, Verlag Kiepenheuer & Witsch) 2011/2013
09.03.2025
"Runkelrüben, seid ihr da?" - Runkelrüben: "Ja."

Hanne Römer:
Datum Peak. Eine Expedition
(Kapitel "Luft". Verlag Ritter Literatur.) 2024
02.03.2025
Es war Hannah Arendts Entscheidung, sich gewissermaßen zwischen den Philosophen und den Dichtern niederzulassen. Sie kannte die Warnungen Platons vor den Letzteren und schenkte ihnen keine Beachtung. Um epische Geschichte zu schreiben - oder überhaupt eine Form von Geschichte -, muss man seinen Frieden mit den Meistern der Tragödie machen. Jedenfalls sind politische Philosophie und Geschichte, selbst wenn sie sich in der Höhle unserer wirklichen Welt bewegen, weder Dichtung noch Mythologie, auch wenn sie von ihnen gelegentlich Ge-brauch machen.

Judith N. Shklar:
Über Hannah Arendt
(Kapitel 4: Die Vergangenheit neu denken. Übersetzt von Hannes Bajohr und Tim Reiß - Matthes & Seitz) 1977/ 2020
23.02.2025
So stolz und so erhöhend ist die Kraft eines großen und reichen Gegenstandes! Wir recken uns auf zu seinem Maß. Damit dir ein gewaltiges Buch gelinge, mußt du einen gewaltigen Gegenstand wählen. Kein erhabenes, dauerndes Werk kann je über den Floh geschrieben werden, ob es auch viele schon versucht haben.

Herman Melville:
Moby Dick
(Kapitel 104: Der fossile Wal. Übersetzt von Alice und Hans Seiffert) 1851
16.02.2025
Von ablenkenden Gedanken
Wenn der Mensch betet und es kommt ihn ein fremder Gedanke an, dann reitet die Schalengewalt auf dem Wort; denn der Gedanke reitet auf dem Wort.

Martin Buber:
Des Baal-Schem-Tow Unterweisung im Umgang mit Gott (Kapitel: Von den ablenkenden Gedanken) 1981
09.02.2025
O was ward ich geboren mit diesem Gesicht?
Was gleich ich den anderen Vielen nicht?
Blick ich auf, geht man fort; wenn ich sprech, bin ich schwierig;
Dann stell ich mich stumm, und den Freund verlier ich.

William Blake:
Aus einem Brief an Thomas Butts, 1803,
übersetzt von Georg von der Vring,
Bild John Linnell: William Blake, 1820
02.02.2025
Äußerstes Mißtrauen gegen die Dichter, die der
Krieg zum Dichten „anregt“!
Ist geistiger, literarischer Profit vom Kriege,
gefühlzinsend in Poesie angelegt, weniger schmählich als materieller?
Er ist hundertmal schmählicher!

Alfred Polgar:
Lyrische Betrachter (in: Das große Lesebuch. Verlag Kein und Aber. Zürich, S. 57. 2003)
26.01.2025
WETTLAUF DER GNOMEN UND AMBEN. Am Anfang war es einmal - also keinmal -, und zwar die Geschichte selbst hat sich so zugetragen: Von einem Igelpaar sitzt jeweils der eine oder die andere am Ausgangs- und Endpunkt der festgelegten Wettwegstrecke, und harrt, da wie dort, dem erschöpften anderen, cognomen, dessen Name sei - Hase: >Ich bün al dor"<

Oswald Egger:
Anfang von "Gnomen & Amben" (Brüterich Press - 2015)
Foto: gezett
19.01.2025
in diesem bisschen sommer zu sitzen ist nicht so schlimm (leer,
in einer eingegipsten situationallein)
zwischen all den fliegenden seelen, den goldgrünen raupen

Birgit Kreipe:
Auszug aus der dritten nachtwache über alles was mir fehlt (Park - Zeitschrift für neue Literatur, Folge 76, herausgegeben von Michael Speier, Dezember 2024)
12.01.2025
Wenn ich wieder einmal in meine Heimat
komme und mich jemand fragt, wo bist du eigentlich geboren, dann werde ich mit
dem Finger nach oben zeigen und sagen, dort ungefähr, fünf Meter vom Erdboden,
wo eben der Zitronenfalter fliegt, dort etwa muss es wohl gewesen sein.

Ernst Penzoldt:
Lebensabriß und Werkverzeichnis. (Heimeran Verlag, S. 12. 1942)
05.01.2025
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