Fundstücke
Poetik / Philosophie
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„Indem ich das ausspreche – hören Sie? – entsteht
eine Stille; die Stille, die um die Dinge ist. Alle Bewegung legt sich, wird
Kontur, und aus vergangener und künftiger Zeit schließt sich ein Dauerndes: der
Raum, die große Beruhigung der zu nichts gedrängten Dinge. Aber nein: so fühlen
Sie die Stille noch nicht, die da entsteht. Das Wort: Dinge geht an Ihnen
vorüber, es bedeutet Ihnen nichts: zu vieles und zu gleichgültiges."

Rainer Maria Rilke:
August Rodin
(Zweiter Teil, Vortrag, Kapitel "Dinge".)
1907.
11.05.2025
Ist überhaupt gewaltlose Beilegung von Konflikten möglich? Ohne Zweifel. Die Verhältnisse zwischen Privatpersonen sind voll von Beispielen dafür. Gewaltlose Einigung findet sich überall, wo die Kultur des Herzens den Menschen reine Mittel der Übereinkunft an die Hand gegeben hat. Den rechtmäßigen und rechtswidrigen Mitteln aller Art, die doch samt und sonders Gewalt sind, dürfen nämlich als reine Mittel die gewaltlosen gegenübergestellt werden. Herzenshöflichkeit, Neigung, Frie-densliebe, Vertrauen und was sich sonst hier noch nennen ließe, sind deren subjektive Voraussetzung. Ihre objektive Erscheinung aber bestimmt das Gesetz (dessen gewaltige Tragweite hier nicht zu erörtern ist), daß reine Mittel niemals solche unmittelbarer, sondern stets mittelbarer Lösungen sind. Sie beziehen sich daher niemals unmittelbar auf die Schlichtung der Konflikte zwischen Mensch und Mensch, sondern nur auf dem Weg über die Sachen.

Walter Benjamin:
Zur Kritik der Gewalt
1935
04.05.2025
Infolge der Teilnahme am göttlichen Frieden einigen sich zunächst die höchsten aller vereinigenden Mächte, jede in sich und alle einander und dann mit dem Urfrieden des Alls. Hierauf einigen sie die ihnen untergeordneten Dinge - wieder sowohl jedes in sich selbst als auch gegenseitig und mit der einen und allvollkommenen Urquelle und Ursache des allgemeinen Friedens. Dieser aber ist ungeteilt allen gegeben - über das ganze Universum hin dringt er überall ein. Er umschließt die ganze Welt gleichwie mit Riegeln und Klammern, die das Getrennte zusammengefügt halten, grenzt jedes ab, stellt jedes sicher, läßt niemals zu, daß Einzelnes abfalle und ins Endlose und Grenzenlose absinke. Denn sonst wären die Dinge alle sehr bald ungeordnet und verlören ihre Grundlage, vor allem aber fielen sie dann auch unrettbar aus Gottes Vorsehung hinaus. Chaotisch verwirrt wären da die Dinge alsbald und heillos, wenn sie aus ihrer Einigung stürzten.

(Ps.) Dionysios Areopagita:
Mystische Theologie
(Kap. XI, Über den Frieden und das Absolute, 1)
6. Jahrhundert
27.04.2025
Dis ist ein grůs, der hat manige adern, der dringet usser dem vliessenden gotte in die armen, dúrren sele ze allen ziten mit núwer bekantnússe und an núwer beschowunge und an sunderlicher gebruchunge der núwer gegenwúrtekeit. $t Eya suͤslicher got, fúrig inwendig, bluͤgende uswendig, nu du dis dem minnesten hast gegeben, moͤhte ich noch ervarn das leben, das du dinen meisten hast gegeben, darumbe wolt ich dest langer qweln. Disen grůs mag noch můs nieman enpfan, er si denne úberkomen und ze nihte worden.

Mechthild von Magdeburg:
Offenbarungen oder Das fließende Licht der Gottheit, 1, 2, 35
13. Jh.
20.04.2025
Ich weiß nicht, was ein Mensch ist, doch ich reiche ihm dieses Blatt, damit er schreibe.

Alejandro Tarrab:
Schwarzer Nachgeschmack
Aus dem Mexikanischen Rike Bolte, 2017
13.04.2025
Wenn ich einen hellen Moment habe, dann guck ich mir manch-mal Wendungen und Worte an, was die für eine Bedeutung haben und welche Bedeutung sie vielleicht haben oder kriegen könnten. Zum Beispiel auf der neuen Platte gibt es ein Lied, das heißt >Herzhaft< - >nimm mich in die Herz-Haft<. Solche Worte fallen mir dann ab und zu auf, oder genauso ein Sprich-wort, wenn ich es dann leicht verdrehe, dann denkt man, wenn man's hört: >Oh, kenn ich, ich hab's verstanden!< Und dann stellt man fest: >Ah nee, stimmt ja gar nicht, der meint ja ganz was anderes.<

Herbert Grönemeyer:
Im freien Flug
(Münchner Rede zur Poesie, Kapitel "Rede-Wendungen, Worte sammeln, Sprichworte verdrehen", 2022/2025)
Foto: Plattencover Schiffsverkehr
06.04.3025
Ich befinde mich nicht an diesen Orten und kann sie lediglich kartografieren. Ich kann sie weder begehen noch kann ich sie erkunden, weil sie schwer zugänglich oder nicht mehr vor-handen sind.

Klaus-Peter Busse:
Bücher, Bilder und Orte
(In: Cy Twombly - Ortsumgehungen, Tracing Places. Kleinheinrich 2024)
(Foto:Jürgen Huhn, TU Dortmund)
30.03.3025
Ein Gedicht
sollte besser enden
als das Leben. Dazu ist es da.

Adam Zagajewski:
Der Frühling ist gekommen.
(Gedicht in "Unsichtbare Hand",
Hanser, Edition Lyrik Kabinett, 2003)
23.03.3025
Die Verzückung des dionysischen Zustandes mit seiner Vernich-tung der
gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins enthält nämlich während
seiner Dauer ein lethargisches Ele-ment, in das sich alles persönlich in
der Vergangenheit Erlebte eintaucht. So scheidet sich durch diese Kluft
der Vergessenheit die Welt der alltäglichen und der dionysischen
Wirklichkeit von einander ab. Sobald aber jene alltägliche Wirklichkeit
wieder ins Bewusstsein tritt, wird sie mit Ekel als solche empfunden;
eine asketische, willenverneinende Stimmung ist die Frucht jener
Zustände. In diesem Sinne hat der dionysische Mensch Ähnlichkeit mit
Hamlet: beide haben einmal einen wahren Blick in das Wesen der Dinge
gethan, sie haben erkannt, und es ekelt sie zu handeln; denn ihre
Handlung kann nichts am ewigen Wesen der Dinge ändern, sie empfinden es
als lächerlich oder schmachvoll, dass ihnen zugemuthet wird, die Welt,
die aus den Fugen ist, wieder einzurichten.

Friedrich Nietzsche:
Die Geburt der Tragödie
aus dem Geiste der Musik
Kap. 7 - 1872
16.03.2025
Er unterbrach sich wieder und lächelte auf eine Weise, die keine Spur von Selbstironie enthielt. "Wahres Heldentum, das sind Sie allein in einem genau definierten Arbeitsbereich. Wahres Hel-dentum, das sind Minuten, Stunden, Wochen, Monate und Jahre der stillen, präzisen und umsichtigen Ausübung von Sorgfalt und Redlichkeit - und niemand sieht zu und jubelt. Das ist die Welt. Nur Sie und der Job, an Ihrem Schreibtisch."

David Foster Wallace:
Der bleiche König
(§ 22. Übersetzt von Ulrich Blumen-bach, Verlag Kiepenheuer & Witsch) 2011/2013
09.03.2025
"Runkelrüben, seid ihr da?" - Runkelrüben: "Ja."

Hanne Römer:
Datum Peak. Eine Expedition
(Kapitel "Luft". Verlag Ritter Literatur.) 2024
02.03.2025
Es war Hannah Arendts Entscheidung, sich gewissermaßen zwischen den Philosophen und den Dichtern niederzulassen. Sie kannte die Warnungen Platons vor den Letzteren und schenkte ihnen keine Beachtung. Um epische Geschichte zu schreiben - oder überhaupt eine Form von Geschichte -, muss man seinen Frieden mit den Meistern der Tragödie machen. Jedenfalls sind politische Philosophie und Geschichte, selbst wenn sie sich in der Höhle unserer wirklichen Welt bewegen, weder Dichtung noch Mythologie, auch wenn sie von ihnen gelegentlich Ge-brauch machen.

Judith N. Shklar:
Über Hannah Arendt
(Kapitel 4: Die Vergangenheit neu denken. Übersetzt von Hannes Bajohr und Tim Reiß - Matthes & Seitz) 1977/ 2020
23.02.2025
So stolz und so erhöhend ist die Kraft eines großen und reichen Gegenstandes! Wir recken uns auf zu seinem Maß. Damit dir ein gewaltiges Buch gelinge, mußt du einen gewaltigen Gegenstand wählen. Kein erhabenes, dauerndes Werk kann je über den Floh geschrieben werden, ob es auch viele schon versucht haben.

Herman Melville:
Moby Dick
(Kapitel 104: Der fossile Wal. Übersetzt von Alice und Hans Seiffert) 1851
16.02.2025
Von ablenkenden Gedanken
Wenn der Mensch betet und es kommt ihn ein fremder Gedanke an, dann reitet die Schalengewalt auf dem Wort; denn der Gedanke reitet auf dem Wort.

Martin Buber:
Des Baal-Schem-Tow Unterweisung im Umgang mit Gott (Kapitel: Von den ablenkenden Gedanken) 1981
09.02.2025
O was ward ich geboren mit diesem Gesicht?
Was gleich ich den anderen Vielen nicht?
Blick ich auf, geht man fort; wenn ich sprech, bin ich schwierig;
Dann stell ich mich stumm, und den Freund verlier ich.

William Blake:
Aus einem Brief an Thomas Butts, 1803,
übersetzt von Georg von der Vring,
Bild John Linnell: William Blake, 1820
02.02.2025
Äußerstes Mißtrauen gegen die Dichter, die der
Krieg zum Dichten „anregt“!
Ist geistiger, literarischer Profit vom Kriege,
gefühlzinsend in Poesie angelegt, weniger schmählich als materieller?
Er ist hundertmal schmählicher!

Alfred Polgar:
Lyrische Betrachter (in: Das große Lesebuch. Verlag Kein und Aber. Zürich, S. 57. 2003)
26.01.2025
WETTLAUF DER GNOMEN UND AMBEN. Am Anfang war es einmal - also keinmal -, und zwar die Geschichte selbst hat sich so zugetragen: Von einem Igelpaar sitzt jeweils der eine oder die andere am Ausgangs- und Endpunkt der festgelegten Wettwegstrecke, und harrt, da wie dort, dem erschöpften anderen, cognomen, dessen Name sei - Hase: >Ich bün al dor"<

Oswald Egger:
Anfang von "Gnomen & Amben" (Brüterich Press - 2015)
Foto: gezett
19.01.2025
in diesem bisschen sommer zu sitzen ist nicht so schlimm (leer,
in einer eingegipsten situationallein)
zwischen all den fliegenden seelen, den goldgrünen raupen

Birgit Kreipe:
Auszug aus der dritten nachtwache über alles was mir fehlt (Park - Zeitschrift für neue Literatur, Folge 76, herausgegeben von Michael Speier, Dezember 2024)
12.01.2025
Wenn ich wieder einmal in meine Heimat
komme und mich jemand fragt, wo bist du eigentlich geboren, dann werde ich mit
dem Finger nach oben zeigen und sagen, dort ungefähr, fünf Meter vom Erdboden,
wo eben der Zitronenfalter fliegt, dort etwa muss es wohl gewesen sein.

Ernst Penzoldt:
Lebensabriß und Werkverzeichnis. (Heimeran Verlag, S. 12. 1942)
05.01.2025
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