Fundstücke - 2013
"Was ist Dichtung? - Das Empfinden für eine vergangene Welt und für eine künftige."
Lord Byron:
A Self-Portrait in Letters,
1798 - 1824
27.12.2013
"Aber gesetzt, daß jemand allen Ernstes sagte, die Dichter lügen zu viel: so hat er Recht, - wir lügen zu viel.
Wir wissen auch zu wenig und sind schlechte Lerner: so müssen wir schon lügen.
Und wer von uns Dichtern hätte nicht seinen Wein verfälscht? Manch giftiger Mischmasch geschah in unsern Kellern, manches Unbeschreibliche ward da getan.
(...)
Ich bin von heute und ehedem, sagte er dann; aber etwas ist in mir, das ist von morgen und übermorgen und einstmals.
Ich wurde der Dichter müde, der alten und der neuen: Oberflächliche sind sie mir alle und seichte Meere.
Sie dachten nicht genug in die Tiefe: darum sank ihr Gefühl nicht bis zu den Gründen.
Etwas Wollust und etwas Langeweile: das ist noch ihr bestes Nachdenken gewesen.
Gespenster-Hauch und -Huschen gilt mir all ihr Harfen-Klingklang; was wußten sie bisher von der Inbrunst der Töne! -
Sie sind mir auch nicht reinlich genug: sie trüben alle ihr Gewässer, daß es tief scheine.
Und gerne geben sie sich damit als Versöhner: aber Mittler und Mischer bleiben sie mir, und Halb-und-Halbe und Unreinliche! -"
Friedrich Nietzsche:
Also sprach Zarathustra
(Von den Dichtern),
1883 ff.
17.12.2013
"Gefühl in den Augenblicken totenähnlichen Seins: Alle Menschen sind der Liebe wert. Erwachend fühlst du die Bitternis der Welt; darin ist alle deine ungelöste Schuld; dein Gedicht eine unvollkommene Sühne."
Georg Trakl:
Aphorismus 2, 1913/14
16.12.2013
"Es gibt das Hin- und Herwogen der Entwick-lungsprinzipien - Formauflösung, Formwiederherstellung, Formtransformation -, und es gibt, durch all das hindurch, die Kontinuität dichterischer Überlieferung. Das Bild aus Zerstörungen bleibt weiterhin Bild. Diesseits der Dekrete und Manifeste hat sich, über die Jahrhunderte hinweg, der Dialog zwischen einzelnen Sprechern erhalten, die sich daran erkennen, daß sie etwas zu sagen haben."
Durs Grünbein:
Vom Stellenwert der Worte (6),
2010
07.12.2013
"Das Material der Dichtung ist das Wort. Die Form der Dichtung ist der Rhythmus. In keiner Kunst sind die Elemente so wenig erkannt worden. Der Schriftsteller stellt die Schrift, statt das Wort zu setzen. Schrift ist die Zusammenstellung der Wörter zu Begriffen. Mit diesen Begriffen arbeiten Schriftsteller und Dichter. Der Begriff aber ist etwas Gewonnenes. Die Kunst jedoch muss sich jedes Wort neu gewinnen. Man kann kein Gebäude aus Mauern aufrichten. Stein muss zu Stein gefügt werden, wenn ein Wortgebäude entstehen soll, das man Dichtung nennt."
Herwarth Walden:
"Das Begriffliche in der Dichtung", 1918
30.11.2013
"Das Wort ist der brennende Reiter durch die Landschaft der stillen Gedanken. Das funkende Signal zwischen den Assoziationen der Seele."
Yvan Goll:
in: Die Neue Rundschau, 1921
24.11.2013
"Im Gegensatz zu denen, die allzu klar zu sehen behaupten, hinterfragt das Gedicht die Dinge und rückt sie ins Ungewisse. Es unterwirft sie einer gezielten Unschärfe, um sie danach mit Präzision neu zu entdecken, neu zu denken."
Jan Wagner:
Lob der Unschärfe
(in: Die Sandale des Propheten.
Beiläufige Prosa), 2011
16.11.2013
"... Meine zwei Groschen Vernunft sind dahin! - Der Geist hat die Oberhand, er will mich im Abendland wissen. Um nach eigenem Willen zu entscheiden, müsste ich ihn zum Schweigen bringen."
Arthur Rimbaud:
Eine Zeit in der Hölle
(Kapitel: Das Unmögliche), 1873
10.11.2013
"Die Poesie will vorzüglich", fuhr Klingsohr fort, "als strenge Kunst getrieben werden. Als bloßer Genuß hört sie auf Poesie zu sein. Ein Dichter muß nicht den ganzen Tag müßig umherlaufen, und auf Bilder und Gefühle Jagd machen. Das ist ganz der verkehrte Weg. Ein reines offenes Gemüt, Gewandtheit im Nachdenken und Betrachten, und Geschicklichkeit alle seine Fähigkeiten in eine gegenseitig belebende Tätigkeit zu versetzen und darin zu erhalten, das sind die Erfordernisse unserer Kunst."
Novalis:
Heinrich von Ofterdingen,
I, 7. (1802)
02.11.2013
"Ob wir es nun gut finden oder nicht, wir müssen uns damit abfinden, dass wir etwas anrufen, wenn wir Gedichte oder stilisierte Prosa vortragen. Und das, was uns hört und sich uns nähert, ist der menschliche Geist: verdichteter und kraftvoller menschlicher Geist. Die Frage ist nur: Was ist menschlicher Geist, ist er überhaupt etwas Wünschens-wertes? Und wollen wir nur ein bisschen davon, etwas mehr oder ganz viel? Wie tief ist er, wo endet er, welche Kräfte steigen auf oder stoßen herab in ihm, sind sie furchteinflößend oder gutartig? Und auch an den Vortragenden müssen wir denken. Ist er auf Vergnügen aus, auf das Erzeugen von Spannung oder Furcht? Was will er? Befindet er sich innerhalb eines magischen, schützenden Kreises oder außerhalb?"
Ted Hughes:
Wie Dichtung entsteht.
Innere Musik. (1988)
28.10.2013
"Diese Faustregel = Fazit, in Blumenfarben, 1 Umkehrung der Blüte = fleur (JD) ........ ach zwischen Blumen und Bergen oder Bergen von Blumen, Thorsten A. sasz in den Büschen von Phlox welche nachts schimmerten im Nachbargarten : mein HIRNLAPPEN verantwortlich für die Beharrlichkeit meiner Erinnerungen usw., "die Luft ist 'raus", schrie ich und flehte das kyrie eleison, Mützchen ade!"
Friederike Mayröcker:
études, 2013, S. 169f.
(23.9.12)
27.10.2013
"Eindrücke gewinnen": fiel mir ein, blödsinniger Ausdruck. Verlogene gehobene Umgangssprache, wo man Eindrücke gewinnt. Wie bei einer staatlichen Lotterie, wo jedes Los gewinnt, so stellt man sich angestellten und beamtenhaft das vor: permanentes "gewinnen".
So denke ich vor mich hin, 24.12.72, nachmittags, ich bin allein mit mir, die Gedanken kommen, gehen, wie Tiere? Katzen? Und schlagen krallig zu? (also ich habe keine Gedanken wie streunende Katzen, keine Gedanken wie Haustiere). (Aber manchmal kommen Situationen, da überwuchern mich Gedanken und Eindrücke auf eine pflanzenhafte wuchernde Art, große, üppige Blätter, die sich ausbreiten, und dann muß ich mit einer Machete mich hindurcharbeiten - nein, das Bild stimmt auch nicht, schon verworfen - also wie? Wie Stimmen manchmal, die einen raschen, rasenden Wirbel bilden, ein Strudel? Auch nicht - lieber behutsam weiter.)
Rolf Dieter Brinkmann:
Rom, Blicke.
1979, S. 387.
19.10.2013
"Disiectio membrorum: die schamanistische Glieder-verstreuung.
Eben auch: Die Wortauswerfung.
Sowie: die Wortverwerfung.
Die unausgesetzten, immer zu wiederholenden Arbeitsvorgänge: die des Wortaufklaubens, nicht: Worteklaubens; die des Wortemachens, ja. Bei Bedarf Anwerfen des Neologismus-Maschinchens.
Die Annäherung auf die Bündelung.
Das Zurechtlegen - nach dem gewünschten Vor-Bild.
Bei diesen Arbeitsvorgängen: darf gesprochen werden; vorsichtige Benutzung der gesprochenen, der Privatsphäre, in der man den Text anspricht, ihn einspricht (Kopfstudio), in dem man den Text, sein Gedicht, anranzt, es anmacht, anfeuert. Dazu gehört des weiteren, daß man Zeilen schweren Herzens wieder feuert, daß man sogenannte "schöne Stellen", die nur leider in gerade diesem Text nichts verloren haben, wieder opfern muß.
Man macht es an, sein Gedicht, man macht es ungeheuer an. Und es wiederum macht DICH an - und wie es DICH anmacht. Im Sinne eines Geschmeidigmachens:
Dichten - Schinden - Gerben."
Thomas Kling: Auswertung der Flugdaten.
(Projekt "Vorzeitbelebung"/Poetik), 2005
12.10.2013
Das immer neue Aufreißen des Gegensatzes zwischen dem, was ist, und dem, was sein sollte, zwischen Wirklichkeit und Gegenwirklichkeit (dem ou-topos, dem, was nicht >statt< hat, dem Traum). Immer erneut macht der Lyriker diesen Riß schmerzhaft virulent, für sich und die andern, realisiert ihn und überwindet ihn, auf einen Atemzug, im Gedicht. Und so bleibt aus all diesen Augenblicken höchster Identität und höchster Objektivierung vielleicht doch eine Art Residuum, eine potentielle Kontinuität im Lebendigen - Kontinuität der Diskontinuität -, die >trägt< oder auch nicht trägt, je nachdem.
Hilde Domin: Wozu Lyrik heute.
(Ist Lyrik folgenlos? Das Paradox
der Katharsis. Innensteuerung
und Utopie), 1971
29.09.2013
Die Besonnenheit des Dichters bezieht sich eigentlich auf die Form, den Stoff gibt ihm die Welt nur allzu freigebig, der Gehalt entspringt freiwillig aus der Fülle seines Innern; bewusstlos begegnen beide einander, und zuletzt weiß man nicht, wem eigentlich der Reichtum angehöre.
Aber die Form, ob sie schon vorzüglich im Genie liegt, will erkannt, will bedacht sein, und hier wird Besonnenheit gefordert, dass Form, Stoff und Gehalt sich zueinander schicken, sich ineinander fügen, sich einander durchdringen.
Johann Wolfgang von Goethe:
Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis des
West-östlichen Divans, 1819
22.09.2013
"Denn hin und wieder während einiger kurzer Augenblicke ist es möglich, die Worte zu finden, welche die Türen all jener Häuser in unserem Kopf aufschließen und etwas - vielleicht nicht viel, aber eben dieses Etwas - offenbaren vom Ansturm der Informationen in unserem Geist: von der Art und Weise, wie die Krähe vorüberfliegt und wie ein Mann geht, vom Aussehen einer Straße und von dem, was wir an einem Tag vor einem Dutzend Jahren getan haben. Worte, die etwas von der tiefen Vielschichtigkeit dessen ausdrücken, was uns gerade zu dem macht, was wir sind: angefangen bei den flüchtigen Einwirkungen auf ein Barometer bis hin zu jener Macht, die Menschen anders geschaffen hat als Bäume. Etwas von der unhörbaren Musik, die uns in unseren Körpern vorwärtstreibt von Augenblick zu Augenblick wie Wasser in einem Fluss."
Ted Hughes:
Wie Dichtung entsteht.
Wörter und Erfahrung. (1967)
15.09.2013
"Wenn ich den Kopf in dein Jahrhundert stecke - da zieh ich die Ohren gleich wieder zurück. Verheerender Rumor von Noise & News. Wieviele falsche Fülle an Mitgeteiltem. Wie hältst du das Mitteilen aus, mein schweigsamer Freund, in der Verschleuderung des Sagens und Schreibens, im pausenlosen Veräußern von irgendwas? Wo bleibst du mit deiner Stimme und deinem Atem, mit deinem einmal für immer gemachten Satz? Wie behauptet er sich im Mega-Multiplikator, in der Wort-für-Wort-Entwertung durch Publikation? Wo befindest du dich in der unklaren Hierarchie von geforderter, befohlener oder erzwungener, von professioneller oder selbstbestimmter, von notwendiger oder sinnloser Äußerung? Zu wieviel Mitteilung bist du imstand?"
Christoph Meckel:
Von den Luftgeschäften der Poesie.
Frankfurter Vorlesungen.
Vierte Nacht. (1989)
08.09.2013
"θρῆνος
Und wer nicht länger Götter macht aus Schönheit
θρῆνος dies ist ein Sterben."
Ezra Pound: Canto CXIII,
(1968)
08.09.2013
"Denn ein Poete kan nicht schreiben wenn er wil / sondern wenn er kan / vnd jhn die regung des Geistes welchen Ovidius vnnd andere vom Himmel her zue kommen vermeinen / treibet."
Martin Opitz:
Buch von der Deutschen Poeterey,
III. Capitel. (1624)
08.09.2013