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Für Euch - Texte israelischer Schriftsteller:innen nach dem 7. Oktober - Teil 3

Montags=Text

Für Euch

Eine Online-Anthologie im Signaturen-Magazin
mit Texten israelischer Schriftsteller:innen nach dem 7. Oktober

Nach Gesprächen im Dezember 2023 in Israel
ausgewählt und aus dem Hebräischen übersetzt von Gundula Schiffer

mit Gemälden und Zeichnungen von Hadara Levin-Areddy


Folge 3 von 3

Raz Yogev

Die Stunde X

In Tagen wie diesen
denke ich an die Väter.

Jene, die mit eigenen Augen sahen, was sich wiederholen sollte
jene, die wissen.
Wie das Geräusch klingt, wenn schweres
Geschütz, Raupenketten rollen nach dort.

Wann die Augen sich öffnen
wann sie sich schließen, wie
unendlich sacht die verklebten
Lider auseinandergehen.

Jene, die sich erinnern
an den Hall eines Flugzeugdonners
der Befehle gibt für Generationen
Angriff Angriff Halt
ein Zittern fährt über ihre Gänse-
haut.

Zur Stunde X stehen sie bereit
in der Mitte des Wohnzimmers
und warten angespannt
auf den Pfiff, dass es losgeht.
Auch mein Vater ist dabei.


Die Stunde X: (hebräisch Sche’at haschin) bezeichnet in der Sprache der Armee den exakten Zeitpunkt, in dem die Soldaten bereit sein müssen für den Beginn einer Militäroperation oder eines Angriffs.


Raz Yogev, 29 Jahre, ist Lyriker, aufgewachsen im Kibbuz Revivim in der Negev-Wüste lebt er heute in Naharija. Er ist Mitglied von „Tnuat Tarbut“ (Kultur-Bewegung), einer sozialen Bewegung aus Künstler:innen und Erzieher:innen, die das kulturelle und künst-lerische Leben in ganz Israel fördert, besonders in den Gemeinden und Städten an der geographischen und sozialen Peripherie des Landes.
Im gegenwärtigen Krieg wurde er in den Abendstunden des Schabbats, am 7. Oktober 2023, als Reservist eingezogen. Zweieinhalb Monate hat er als Soldat die Siedlungen im west-lichen Negev verteidigt und für die Sicherheit Israels im Gazastreifen gekämpft. Das hier veröffentlichte Gedicht schrieb er während dieser Zeit: „Meine ganze Hoffnung ist, dass dieser Krieg bald endet und alle Geiseln gesund und unversehrt nach Hause zurückkehren. Das muss jetzt geschehen, das ist eine ethische Verpflichtung. Dafür müssen wir als Menschen sorgen, in Israel und auf dem Rest der Welt.“
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Shai Schneider-Eilat

Überleben

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Im Krieg, an der Ampel, taucht er am Fenster auf, klopft, blickt mich an, seine Augen bohren sich in meine
ich bin erschrocken. Frage lautlos, was willst du, bete, dass auf Grün
umspringt, ich verspäte mich, er presst eine Broschüre gegen die Scheibe, darauf steht:
Die Sonnenseiten des Lebens. Ich hab kein Geld, gestikuliere ich mit den Händen, er antwortet
mit den Augen – nimm. Ich öffne einen Spalt. Schnappe mir das Ding, werfe es ins Dunkel des Hand-
schuhfachs. Ein Hubschrauber durchschneidet den Himmel, der Mann rückt die Kippa zurecht, hält sich die Ohren zu
ich lasse ihn stehen, fahre weiter, noch schneller. Auf gerader Straße ruft eine Freundin an
fragt, ob ich mich an Racheli erinnere, ihr Sohn wurde getötet. An den Fahrersitz gefesselt
verspäte mich, das Fenster einen Spalt offen, Sonnenuntergang. Komme an, erinnere mich befreie die
Broschüre aus dem Handschuhfach, lese im dämmrigen Licht auf Seite zehn: Selig, wer in dieser Welt nicht irregeht

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In dem neuen Sakko, das er nach seinem Herzinfarkt gekauft hat, bestellt Vater saure
Suppe und fleht uns an, zu probieren. Wir gehorchen, er hat Geburtstag, ein Mensch
schiebt sich auf nackten Füßen durch die Tischreihen, bettelt um Geld für Medizin. Vater wischt sich den Mund ab
stellt das Hörgerät ein, fragt den Kellner, ob er bitte die Musik leiser machen kann.
Der Fisch wird serviert, in sämiger Soße, das Thema geht von den Geiseln über zu Kokosmilch
Fertiggericht, man muss sie sofort nach Hause holen – rutscht es einer von uns heraus:  
wir erstarren, die Gabeln im Mund. Meinen, Raketenalarm zu hören. War nichts
Schweigen, der nächste Gang, meine Schwester erinnert ihn, dass er besser keinen Reis isst.
Winter, ein Vater und seine Töchter erheben das Glas, trinken auf sein Wohl, eine von uns
frischt die Schminke auf. Der überschüssige Speck ist von Kippur, erinnert er sich plötzlich
beim Dessert. Har Dov, am Berg, es war kalt, was wir da Fleisch gegessen haben, Brot, einen Laib nach
dem anderen, einen ganzen Krieg lang. Einen Tag bekam ich frei, um im Bunker eure
Mutter zu heiraten. Wir bitten um die Rechnung, lassen ihn nicht bezahlen, an einem anderen
Ort, auch im Oktober, ist ein Flugzeug über den Anden abgestürzt. Die am Leben
geblieben sind, haben Schnee getrunken, stückchenweise von den Toten gegessen.
Nachher hat man einen Film daraus gemacht, der Überleben heißt

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Im Krieg schlägt die ganze Nacht Regen ans Fenster, Omri (wir waren Freunde
in der Brigade, einmal im Winter, am Ende der Pause, in einem feuchten Hof hat er mich
plötzlich umarmt. Der Geruch seines Körpers, so weich, an meinem Gesicht der Stoff des roten Sweatshirts, das Klingeln)
ist noch immer in Geiselhaft. Ich überlege: Wenn man auch auf uns einen schweren Gewehrlauf richtet, endgültig
wie berge ich, eine einzelne Mutter, dann zwei Kinder unter meinem Körper


Der überschüssige Speck ist von Kippur: Am 6. Oktober 1973, am Versöhnungstag, dem höchsten jüdischen Feiertag, wurde Israel überraschend von Ägypten und Syrien angegriffen. Der Jom-Kippur-Krieg endete am 25. Oktober. An Jom Kippur, ein Fastentag, an dem das Leben zum Stillstand kommt, dauert der Gottesdienst vom Morgen bis zum Abend.

Shai Schneider-Eilats erstes Buch Er war hier, ich bin mir sicher (Hu haja kan, ani betucha bese, Afik-Helikon, 2019) gewann den Helikon-Preis für Lyrik, benannt nach dem israelischen Dichter Ramy Ditzanny. Ihr zweites Buch Alles, was sie singt, steigt als Rauch auf (Kol ma schehi schara ma’ale aschan, Mosad Bialik, Reihe „Kvar“, 2021) wurde mit dem Preis der Frau des Staatspräsidenten für hebräische Dichtung ausgezeichnet. Ihr drittes Buch erscheint demnächst, wiederum in der Reihe „Kvar“. Sie arbeitet als Lektorin für Lyrik und Prosa und leitet Schreibwerkstätten.

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Lied eines Papiersoldaten: Ist eine Zweitübersetzung von Miriam Yalan-Shtekelis’ hebräischer Übersetzung des russischen Lieds von Bulat Schalwowitsch Okudschawa.

Miriam Yalan-Shtekelis

Lied eines Papiersoldaten


Es war einmal ein Soldat       
mutig und wunderschön
jedoch ein Kinderspielzeug nur –
er war ein Soldat aus Papier.   

Er wollte eine Welt erbauen
und strahlte ganz vor Glück
hing selbst an einem Faden
denn er war ja aus Papier.

Bereit zu springen ins Feuer
um euretwillen zweimal
aber ihr habt ihn verlacht –
denn er war ja aus Papier.

Ihr gabt ihm nie Geheimnisse
die euch wichtig waren preis
und warum das? Nun darum:
er war ein Soldat aus Papier.

Und so verfluchte er sein Los
er suchte nicht das Annehmliche
beteuerte: Ins Feuer! Ins Feuer!          
vergaß: er ist nur aus Papier.

Ins Feuer? Willst du? Nur zu!
Und er sprang ohne Angst.
Und er verbrannte dieser Tor –
denn er war ja aus Papier.


Miriam Yalan-Shtekelis, 1900 in der Nähe von Krementschuk im Russischen Reich, heute Ukraine geboren, war eine israelische Schriftstellerin und Dichterin. Vor allem ihre Geschichten und Gedichte für Kinder haben sie berühmt gemacht, letztere wurden auch von israelischen Rocksängern vielfach vertont. Als erste erhielt Yalan-Shtekelis im Jahre 1956 den Israel-Preis für Kinderliteratur. Sie studierte in Charkiw, Berlin und Paris, bevor sie 1920 nach Erez Israel auswanderte und sich in Jerusalem niederließ. Dort arbeitete sie bis zur Pensionierung als Bibliothekarin in der Slavischen Abteilung der Nationalbibliothek. 1968 wurde sie zur Ehrenbürgerin Jerusalems ernannt. Das 1978 veröffentlichte Werk Chajim Umilim (Leben und Worte) mit autobiographischen Erinnerungen, Gedichten und Prosa für Erwachsene sowie Übersetzungen wurde 2021 neu aufgelegt. Miriam Yalan-Shtekelis starb 1984 in Haifa.
Hadara Levin-Areddy ist Musikerin (Singer-Song-writerin), Dichterin, Schriftstellerin, Spoken Word-Künstlerin und Malerin. Sie hat Film und Fernsehen an der New York University studiert und dort mit der höchsten Auszeichnung abgeschlossen. Bisher sind von ihr vier Bücher (Lyrik und Prosa auf Hebräisch), 18 Musikalben (auf Englisch und Hebräisch) sowie Artikel, Essays und Kolumnen in verschiedenen Zeitungen erschienen.

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