Für Euch - Texte israelischer Schriftsteller:innen nach dem 7. Oktober - Teil 2
Montags=Text
Für Euch
Eine Online-Anthologie im Signaturen-Magazin
mit Texten israelischer Schriftsteller:innen nach dem 7. Oktober
Nach Gesprächen im Dezember 2023 in Israel
ausgewählt und aus dem Hebräischen übersetzt von Gundula Schiffer
mit Gemälden und Zeichnungen von Hadara Levin-Areddy
Folge 2 von 3
Amichai Chasson
Pogrom
Werden auch diese Nacht Jäger zu unseren Häusern kommen, uns nach dem Leben trachten
drohend die Gewehre auf uns richten? Werden sie still, heimlich kommen, bis ein Schuss
das Gezirpe der Grillen spaltet? Vielleicht werden sie mit Lärmgeschrei kommen
wie die Herren der Erde, die sich die Schöpfung untertan machen, ihre Kinder mitbringen
sie in der Kriegslist zu unterweisen, sich unsere Leichen über die breiten Schultern werfen
lächelnd, im Siegesschmuck heimkehren, an der Spitze der Parade durch die Straßen ziehen.
Werden sie danach in ihren Höfen um ein Lagerfeuer sitzen und sich betrinken? Vielleicht
wird einer dem anderen erzählen, wie die abgefeuerte Bleikugel eine Wirbelsäule blank legte.
Werden sie beim Rauschgelage an schmackhaftem Fleisch ihre Lust haben, während eine
frische Blutspur vom Hemd
bis zum Knie
bis zum Boden
tropft, in die Erde verrinnt –
vielleicht erinnern sie sich ja dann an den scharfen Geruch der verendenden Beute
wie sie sich krümmt vor einem Jäger, Gewehr, Kind
mit guten Augen, das ein Schreien gehört
und gesehen hat, wie einer sein Leben aushaucht, und wusste: auch seine Seele
steigt eines Tages zum Himmel auf.
Pogrom: Das Gedicht „Pogrom“ beruht auf einem Traum (genauer gesagt: auf einem Alptraum), wurde vor etwa zwei Jahren gleich am nächsten Morgen aus der noch lebendigen Erinnerung niedergeschrieben und ist in dem Buch Schwellen-Gedichte (Schirim al saf, 2022) abgedruckt. Am 7. Oktober offenbarten sich die Zeilen des Gedichts aus dem Alptraum schrecklicherweise – als Wirklichkeit.
Amichai
Chasson, geboren 1987
in Ramat Gan, ist ein israelischer Dichter, Herausgeber, Kurator,
Drehbuchautor, Regisseur und Filmemacher, der Tora an verschiedenen Jeschivot
sowie Film an der Sam Spiegel Film- und Fernsehschule in Jerusalem studiert hat.
Viele Jahre hat er die Kultursendung Abgeschiedenheit (Hitbodedut) des
israelischen Radiosenders Kan Tarbut moderiert (mit Yair Assulin) und ist
Redaktionsmitglied der Lyrikzeitschrift Maschiv haruach. Für seine
bisherigen drei Gedichtbände wurde er u.a. mit dem Preis des Ministeriums für
Kultur und Sport für Dichter am Anfang ihrer Laufbahn (2015), dem Brenner-Preis
(2019) und dem Levi Eschkol-Literaturpreis (2021) ausgezeichnet. Er schrieb und
produzierte den Dokumentarfilm Yeshurun: 6 Sprüche der Väter (Yeshurun:
6 Pirkei Avot) über den Dichter Avot Yeshurun (aus der von Yair Qedar
begründeten Reihe Haivrim / The Hebrews). Seit 2015 ist er
Künstlerischer Leiter und Kurator der Kunstgalerie im Kulturinstitut Beit Avi
Chai in Jerusalem, wo er mit seiner Frau Miriam und den drei Kindern lebt.
Gali-Dana Singer
„Ich habe geträumt, ich wäre in den Tunneln von Gaza“
Das Gedicht wurde zuerst am 11. November 2023 als
Facebook-Post veröffentlicht.
„Ich habe geträumt, ich wäre in
den Tunneln von Gaza“ – sagt Nekoda, ‒ „eilig fülle ich sie mit diesem Material
aus, weißt du, das sofort trocken wird.“
„Alle meine Träume“, ‒ sagt
Marianna ‒ kreisen darum, wie ich herauszubekommen versuche, wo sie unsere
Kinder, unsere Geiseln festhalten … und wie ich versuche, mit jemandem zu
verhandeln, um wenigstens einen zu finden… Wie das Ende des Fadens, mit dem man
alle gleichzeitig zu sich zieht. Wenn ich dann wach werde, bin ich furchtbar
enttäuscht über mich selbst…“
„Wir sind keine Individuen“, ‒
sagt Michal und ihrer Stimme ist anzuhören, wie sehr sie selbst über ihre Worte
überrascht ist, ‒ „wir sind etwas anderes“…
Das Netzwerk des Mycels wächst in
organischer Materie oder in der Erde
das Sonnensegel ist zwischen
Flehen, Gebet und Stille ausgespannt
das Sprungtuch ist der Himmel auf
der anderen Seite der Erdkugel
ob die ZARA-Kette das
Terror-Netzwerk unterstützt
ob die McDonald’s-Kette das
Terror-Netzwerk unterstützt
ob die Super-Pharm-Kette das
Terror-Netzwerk unterstützt
ob das Terror-Netz das Netz,
Segel, Tuch, die Kette ist, mit denen sie uns gefangen halten
das Netz, in dem die Scherben der
Wahrheit sich nicht zum Wölbspiegel der Welt fügen
das Terror-Netz, ausgebreitet vor
den nackten Füßen der Lüge
die zerschnitten sind von den
Scherben der Wahrheit, die die Welt zerbrochen hat
ich habe gehört, wie sich Mainas
Gute Nacht sagen
in den Wipfeln der Kiefernbäume
ich habe gesehen, wie Sittiche
zum Schlafengehen auf den Zweigen einer Platane siedeln
der Grüne, der Grüne da an den
Federn und Blättern
wurde von dem unsichtbaren Grauen
verdrängt
selbst für die Drossel mit ihrer
Stimme, ihrem Schatten findet sich ein Platz
zwischen den Zypressennadeln
und diesem Volk bleibt nur Zeit
und sonst nichts?
der Grüne, der Grüne da: Mit denselben Worten, nur in einer anderen Farbe, zeigt
der hungrige Esau auf das von Jakob zubereitete Linsengericht (Gen 25, 30: „Laß
mich doch schlingen von dem Roten, dem Roten da, denn ich bin ermattet. / Darum
ruft man ihn mit Namen Edom, Roter.“; Deutsch von Buber / Rosenzweig). Im
Fortgang der Szene lässt er sich vom jüngeren Bruder erpressen und tritt sein
Erstgeburtsrecht an ihn ab.
Gali-Dana Singer, geboren 1962 in Leningrad, ist eine russisch-israelische
zweisprachige Dichterin, Fotografin, Künstlerin, Übersetzerin und Herausgeberin
des zweisprachigen hebräisch-russischen Literaturmagazins (jetzt im Netz) «Двоеточие» („Nekudataim”)
(mit Nekoda Singer) und Mitherausgeberin der literarischen Online-Magazine Articulation (auf Russisch) und Transitions (auf Englisch).
Von ihr sind acht Gedichtbände sowie ein Hörbuch auf Russisch
und vier Gedichtbände auf Hebräisch erschienen. Sie hat mehrere Preise
gewonnen, darunter den Yair Tzaban Preis 1998, den Lyrikpreis 2000 beim
Poesie-Festival in Metulla und den Preis des Premier-ministers 2004 für
hebräische Schriftsteller. Sie hat außerdem Bücher mit Übersetzungen eigener
Gedichte veröffentlicht, vier aus dem Hebräischen ins Russische, eines aus dem
Russischen ins Hebräische und zwei aus dem Englischen ins Russische.
Gali-Dana Singer war bei vielen israelischen und
internationalen Festivals zu Gast und hat als visuelle Künstlerin an
zahlreichen Ausstellungen in Israel und im Ausland teilge-nommen.
Danielle Cohen Levy
Leitfaden für die Geiselhaft im Hier und Jetzt
Der Text wurde zuerst als Facebook-Post am 22. November 2023 veröffentlicht.
In den letzten Tagen ging ich schließlich dazu über, mir selbst einen Leitfaden für die Geiselhaft zu schreiben. Eine dumme Idee, denn die einzige Geiselhaft, die ich mir vorstellen konnte, stammte aus einem amerikanischen Film mit Happy End. Jeder andere Gedanke brachte mich vollends aus der Balance. Ich konnte nicht daran denken, ich konnte nicht aufhören, daran zu denken. Erst als ich mit dem Schreiben fertig war, wurde mir klar: Das ist kein Leitfaden für die Geiselhaft, das ist ein Leitfaden fürs Hier und Jetzt.
Leitfaden für die Geiselhaft
Das Erste, was du tun musst: Achte so gut es geht, mit allen dir gegebenen Mitteln auf deine körperliche Gesundheit.
Zweitens: Hilf denen um dich herum, die in einem schlechten körperlichen Zustand sind.
Versuche im weiteren Verlauf, je nach den Bedingungen, denen du ausgesetzt bist und soweit es möglich ist, eine feste Routine zu bewahren, die körperliche Aktivität einschließt, aber nur in dem Maße, wie sie dich rege hält und nicht erschöpft. Iss genügend von der Nahrung, die dir verfügbar ist, achte streng auf ausreichend Schlaf und positive Interaktion. All das wird dich schützen und dir Kraft geben, wenn es nötig ist.
Wenn du kannst, versuche einmal am Tag in die Sonne zu gehen oder sie dir zumindest vorzustellen.
Suche dir die richtigen Freunde, solche, auf die du dich verlassen und nach denen du die Hand ausstrecken kannst, wenn du es brauchst.
Sammele Informationen, die dem Selbstschutz dienen. Kläre die Umgebung, die Menschen um dich herum auf, aus welchen Bausteinen der Ort, an dem du dich befindest, zusammengesetzt ist, wer die Menschen sind, die dich umgeben, auf wen man sich verlassen kann, ob du Strukturen oder Hinweise erkennst. Führe diese Sammlung der Details in überlegter, nicht in zwanghafter Form.
Falls möglich, teile diese Aufgabe mit einer weiteren männlichen oder weiblichen Person.
Verzweifele nicht, es kann sein, dass das Zeit braucht, aber du musst bereit und wach sein für den Augenblick, in dem du da wieder herauskannst.
Leitfaden für die Geiselhaft im Hier und Jetzt: In Israel wird viel darüber gesprochen und herrscht das Gefühl vor, dass sich die Gesellschaft in gewisser Weise noch immer im Monat Oktober befindet, gefangen in der Wirklichkeit des traumatischen Ereignisses.
Danielle Cohen Levy ist Regisseurin, Schriftstellerin und darstellende Künstlerin. Seit 2014
hat sie zahlreiche szenische Texte und Theaterstücke geschrieben, die bei
Festivals und Theatern in Israel und international aufgeführt und mit Preisen
gewürdigt wurden. Sie ist Künstlerische Leiterin des israelischen Festivals
„Theatronetto“ für Monodramen, Mitglied im künstlerischen Komitee des Tel
Aviver Tmu-na-Theaters und unterrichtet am Kibbutzim College sowohl in der
Regie- als auch in der Schauspielklasse. Sie ist Gründerin und Mitglied der
Theatergruppe „WCS“ (Worst Case Scenario), die Zirkus, Akrobatik, Tanz, Musik
und Text verbindet. Bei Hörspielen, die sie für israelischen Rundfunksender
„Kan“ geschrieben hat, führte sie selbst Regie und leitete außerdem The EVE
Podcast – Conservations with and about Creators and Independent Theater. In
ihrem eigenen Hausverlag Taschenstücke (Machasot Kis) sind bisher vier
Theaterstücke und ein Buch erschienen, von denen mehr als 600 Exemplare in
Israel und weltweit verschickt wurden.
Hadara Levin-Areddy ist Musikerin (Singer-Song-writerin), Dichterin, Schriftstellerin, Spoken Word-Künstlerin und Malerin. Sie hat Film und Fernsehen an der New York University studiert und dort mit der höchsten Auszeichnung abgeschlossen. Bisher sind von ihr vier Bücher (Lyrik und Prosa auf Hebräisch), 18 Musikalben (auf Englisch und Hebräisch) sowie Artikel, Essays und Kolumnen in verschiedenen Zeitungen erschienen.