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Friedrich Sieburg: Du sollst nicht töten

Diskurs/Kommentare > Diskurse > Lyrikkritik

Friedrich Sieburg

Du sollst nicht töten
(in "Akzente", 2. Jg., 1955)


Was aber wäre Kritik anderes als eine literarisch geübte Form des Moralismus, eine Haltung also, die uns Deutschen ungemäß ist und in unserem Bewußtsein sogar einen gewissen Gegensatz zur "Kunst" bildet. Der moralistische Schriftsteller, der immer auch ein Kritiker ist, erregt in unserer Literatur Unbehagen, wenn nicht gar Feindschaft, während ihm selbst fast alles, was heute geschrieben wird, höchst unbehaglich vorkommt. Vergeblich sucht er darin nach Ansätzen einer moralischen Natürlichkeit; er entdeckt nur Mühsal und Anstrengung gegenüber den Vorstellungen des Passenden und Heilsamen. Der Geist schuldbefleckter Arbeit, Selbstmitleid und ein fataler Genuß der eigenen seelischen Unfreiheit machen sich im Streben derer bemerkbar, die "lieber eine Wet anfangen", als die schon vorhandene bewohnbar machen. Der Geist wahrer Kritik nimmt bei uns in dem Maße zu, wie die Gesellschaft sich humanisiert. Wir haben schon heute wieder einige Kritiker, deren moralistische Prosa gleichberechtigt neben den Gegenständen ihrer Untersuchungen steht. Man könnte die Entstehung ihrer Autorität beinahe auf den Tag genau festlegen; sie datiert von dem Zeitpunkt ab, da eine Harmonie des Gemeinwesens wenn auch nicht eintrat, so doch wünschenswert wurde. Die meisten deutschen Schriftsteller haben diesen Einschnitt nicht bemerkt oder seine entlarvende Bedeutung ignoriert. Sie versuchen nach wie vor, für ihre Literatur eine Ausnahmesituation herauszuschlagen, ihre Unfähigkeit durch epochales Überbewußtsein zu ersetzen und ihrer länger fälligen Verwerfung durch den Refrain zu entgehen: "Gerade in unserer Zeit ..."

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