Felix Philipp Ingold: Quellen und Einflüsse
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Felix Philipp Ingold
Quellen und Einflüsse
Beobachtungen zur literarischen
Werkgenese
«… there is no logical law that would tell us
when a given number of coincidences
ceases to be accidental.”
Vladimir Nabokov, Ada, or Ardor
Aus meiner
Studienzeit in Paris bleibt mir ein literaturwissenschaftlicher Disput in
Erinnerung, bei dem mein damaliger Universitätslehrer René Etiemble und der
Essayist Robert Faurisson sich gegenüberstanden. Es ging um die Deutung und das
Verständnis des berühmten Sonetts «Vokale» (Voyelles, 1872) von Arthur Rimbaud,
das bereits zuvor hundertfach analysiert und nach seinen Quellen abgefragt worden
war: «A schwarz, E weiß, I rot, U grün, O blau – Vokale, eines Tages bring ich es aus Euch zur Welt ...» Faurisson glaubte die mythische
Aura des Dichtwerks und die disparate Vielzahl der Interpretationen ein für
allemal klären zu können mit der (nicht sehr naheliegenden) These, es handle
sich dabei – schlicht – um einen erotischen Text, der keiner weiteren Erklärung
bedürfe und alle andern Deutungen als obsolet erscheinen lasse.
Etiemble wiederum erwiderte
darauf in einer 300-seitigen Abhandlung, das «Sonett der Vokale» sei ein nach
Belieben zu verstehendes Unsinnsgedicht, ein
«magisch-alchimistisch-kabbalistisch-spiritualistisch-erotisch-megaloman-strukturalistisches
Meisterwerk», willkürlich geschöpft aus unterschiedlichsten Quellen von einem
höchst belesenen Autor, der damit die zeitgenössische Kritik und das bourgeoise
Publikum habe düpieren wollen, ein Werk mithin, das sich gewissermassen
selbsttätig aus lauter Fremdeinflüssen konstituiert habe, gefasst in die traditionelle
Form eines Sonetts.
Dass bereits 1904 ein gewisser
Ernest Gaubert auf zweieinhalb Druckseiten im «Mercure de France» die plausible
Vermutung notiert hatte, das «Sonett der Vokale» fusse primär auf Rimbauds
ABC-Fibel aus der Schulzeit, in der die fünf Vokale nachweislich in exakt den
gleichen Farben wie später im Gedicht ausgemalt gewesen seien. Dabei könnte man
es bewenden lassen, doch auch das stärkste Indiz ist kein Beweis. Der Autor
selbst hat sich dazu nie geäussert. Eine bloss zufällige Übereinstimmung ist in
diesem Fall allerdings eher unwahrscheinlich.
Gauberts nüchterner Quellenhinweis hat nicht verhindern können, dass
die Suche nach Quellen und Vorbildern für Rimbauds «Vokale» in der Folge auf
breiter Front fortgesetzt wurde und noch heute – ohne jede Erwähnung des
ABC-Buchs – intensiv betrieben wird: Bei universitären
literaturwissenschaftlichen Prüfungen in Frankreich müssen unterschiedlichste Einflüsse
und Deutungen zur Analyse des Sonetts aufgelistet werden, von Swedenborg und
Baudelaire bis hin zu optischen oder medizinischen Traktaten. Dass keines
dieser zahlreichen Fremdelemente auf nachweislich direkte Beeinflussung
aus bestimmbarer Quelle zurückzuführen ist, und dass ausserdem unklar bleibt,
ob nicht andere, bisher übersehene Anleihen in das Gedicht eingeflossen
sind, macht die Lektüre des Gedichts zum Problem: Eine adäquate Lesart scheint
nur dann noch erreichbar zu sein, wenn «man» vorab alle möglichen und
tatsächlichen Einflüsse aufgearbeitet hat. Der Gedichttext als solcher
verflacht dabei zu einer Ablagerung von Fremdelementen, und die Funktion des
Autors wird reduziert auf deren lyrisches Arrangement.
•
Es ist eine
althergebrachte, jedoch nie definitiv entschiedene Kontroverse: Muss ich, um
einen literarischen Text zu verstehen, seine historischen, sozialen,
politischen Entstehungsbedingungen, seine Quellen kennen und berücksichtigen,
oder genügt die Kenntnisnahme dessen, was dasteht, was sprachlich
gegeben ist, unabhängig von ausserliterarischen Daten und Fakten?
Ich selbst bevorzuge als Leser eine naive Herangehensweise, benötige
kein Hintergrundwissen, um Rimbauds Sonett der «Vokale» zu verstehen, im
Gegenteil, ich muss solches Wissen, wenn es schon mal da ist, bewusst
verdrängen, um das Gedicht als solches – und nicht bloss dessen allfällige
Aussage – zu erfassen, das Gedicht als Gesamtheit des sprachlich Gewollten,
Gewordenen, Gegebenen, als rhythmisches und klangliches Gebilde und erst
zuletzt als Aussage, deren Bedeutung zu eruieren wäre – dass stärkste Poesie
inhaltlich zumeist schwach daherkommt, ist bekannt; auch die «Vokale» von
Rimbaud haben diesbezüglich nicht viel zu bieten, das Gedicht mag vielsagend
sein, aber was besagt es denn wirklich?
Tatsache bleibt, dass die Frage nach Vorbildern und Einflüssen so
oder anders immer wieder gestellt wird, mit besonderer Dringlichkeit gerade
heute, da souveräne Autorschaft durch Fakes aller Art, durch Plagiate und die
Konkurrenz von ChatGPT massiv unter Druck gerät: Die Frage, die Suche nach den
Quellen impliziert in jedem Fall die Frage nach der Originalität des
Literaturwerks.
•
Einfluss ist ein
Grundbegriff der Literaturgeschichte wie der Literaturtheorie und ein Motor der
Evolution der Künste insgesamt. Autoren, Werke werden unentwegt nach Einflüssen
abgefragt, und oft geriert sich deren Nachweis als interpretative Leistung,
obwohl die feststellbaren Quellen für die Deutung und Bedeutung eines Texts in
aller Regel wenig beitragen, oft sogar völlig anders gelagert sind: Joyce’s
«Ulysses», offenkundig von der Homer’schen «Odyssee» beeinflusst, bietet und
fordert dennoch eine völlig andere Lesart (ein anderes Verstehen) als
das Original. Und viel zu wenig wird bedacht, dass die Abwehr von
Vorbildern und Einflüssen ebenso produktiv sein kann wie ihre Akzeptanz und
Nutzung; denn Quellen wirken ja nicht eigendynamisch von aussen auf den
Schreibprozess ein, vielmehr liegt die Einflussteuerung bei den Schreibenden
selbst, die in jedem Fall entscheiden, welche Einflüsse sie zulassen und welche
sie abwehren. Unter diesem Gesichtspunkt wäre jede Einflussnahme als
Selbstbeeinflussung aufzufassen.
•
Einen
interessanten Sonderfall stellen vermeintliche Quellen und
Beeinflussungen dar, solche mithin, die beim Textvergleich offenkundig zu sein
scheinen, für die es aber, ausser noch so scharfsinnigen Vermutungen und
Spekulationen, keinerlei konkrete Belege gibt. Mehrere derartige Fälle hat –
nur ein bemerkenswertes Beispiel dafür sei hier genannt – der Publizist
Michael Maar mit Bezug auf Vladimir Nabokov aufgearbeitet. Der allseitige
Applaus, den er dafür bekommen hat, macht deutlich, wie hoch das Interesse an
den «Quellen» literarischer Texte nach wie vor ist, bisweilen höher als das
Interesse an den Texten selbst – so als wäre die festgestellte Quelle das
eigentliche Originalwerk und die Suche danach eine Art Reisebericht.
In zwei separaten Essays hat Michael Maar erstmals auf die angeblichen
Vorlagen zu Vladimir Nabokovs Erfolgsroman «Lolita» (1955) sowie zu einer
früheren Erzählung, «Der Kartoffel Elf» (1924), hingewiesen und diesbezüglich
eine Reihe bedenkenswerter Indizien vorgelegt («The Two Lolitas”, 2005; “Speak,
Nabokov”, 2009). Tatsächlich spricht bei vergleichender textkritischer und
zeitgeschichtlicher Analyse manches dafür, dass Nabokov, der gerade für seine
«Originalität» und seinen unverwechselbaren Personalstil geschätzt wird,
reichlich aus fremden Quellen geschöpft hat, in beiden Fällen so reichlich,
dass man gar von «Plagiaten» oder «Imitaten» sprechen könnte. Doch wird diese
Einschätzung klar konterkariert dadurch, dass die fraglichen Texte nebst den
nachweisbaren Übereinstimmungen viele Abweichungen und Eigenheiten aufweisen,
die sie von den vermuteten Vorlagen weit abheben.
Bei diesen Vorlagen handelt es sich, nach Maars Hypothese, zum einen
um die Kurzgeschichte «Lolita» (1916) eines heute vergessenen deutschen
Feuilletonisten namens Heinz von Lichberg, die Nabokov zu seinem viel späteren
Roman gleichen Titels inspiriert haben soll, zum andern um ein Frühwerk Thomas
Manns, «Der kleine Herr Friedemann» (1897), dem Nabokov das Personal und die
Handlung zu seiner tragischen Prosagroteske «Der Kartoffel Elf» (1924)
entnommen habe.
Bei «Lolita» frappiert zunächst die Namensgleichheit der pubertären
Titelheldin, dann auch – in beiden Texten – ihre Präferenz für ältere Herren.
Heinz von Lichberg führt sie als eine sexuell unersättliche Kindfrau vor, die
es stets auf den «schönsten», «stärksten», «grössten» Freier abgesehen hat –
oder auch auf den «mit dem längsten und hässlichsten Bart». Bei Nabokov dagegen
ist Lolita ein keckes, kluges Mädchen, das ihren pädophilen Liebhaber vor der
Verführung langezeit spielerisch hinhält und ausnützt, um ihn dann aber doch,
auf dem Weg zurück in die soziale Normalität, für einen andern Mann, den sie
konsequenterweise später auch heiratet, zu verlassen. Diese wie jene Lolita
findet – unter jeweils völlig unterschiedlichen Voraussetzungen – am Ende der
Geschichte den Tod.
•
Vladimir
Nabokovs «Kartoffel Elf» glaubt Michael Maar direkt auf die Novelle «Der kleine
Herr Friedemann» von Thomas Mann zurückführen zu können (ein ironisch
intoniertes Erzählwerk, das die Liebesquerelen eines Zwergwüchsigen zum Thema
hat), und es gelingt ihm auch, manche Parallelstellen und Übereinstimmungen als
Beleg – eher doch: als Indiz – dafür namhaft zu machen. Gleichzeitig muss er
nach einer Erklärung dafür suchen, dass Nabokov ausgerechnet den ihm verhassten
Schriftstellerkollegen zum Vorbild genommen haben sollte, dessen fast 30 Jahre
zuvor erschienene Erzählung er wegen mangelnder Kenntnis des Deutschen wohl gar
nicht hat lesen und verstehen können – falls er sie denn überhaupt zur Kenntnis
genommen hat. Diese und weitere Schwierigkeiten, seine These zu behaupten,
versucht Maar trickreich aufzulösen oder zu minimieren, doch am Schluss bleibt
gleichwohl der Zweifel, ob man es hier mit einer Entlehnung, einer Nachahmung,
einer Parodie oder gar mit einem Plagiat zu tun habe und nicht doch eher mit einer
zufälligen Ähnlichkeit.
Festzuhalten ist ausserdem, dass
Nabokov auf Anleihen für seine eigene Erzählung überhaupt nicht angewiesen war
– das Motiv des komischen Zwergs und generell des behinderten Sonderlings, der
in Liebesnöten zur tragischen Figur wird, kehrt in seinem Werk mehrfach wieder,
am eindrücklichsten im Roman «Die Lushin-Verteidigung» (1930) und in der Meisternovelle
«Bachmann» (1924): Auch diese Texte mögen, nicht anders als «Der Kartoffel Elf»
und «Lolita», irgendwelche Einflüsse in sich aufgenommen haben und sind dennoch
als eigenständige Kunstwerke zu betrachten.
Denn künstlerische Eigenständigkeit beweist sich auch darin, dass
und wie sie mit Einflüssen «fertig» wird. Ob und wie Nabokov sich allenfalls
hat «beeinflussen» lassen, ist für die Lektüre und das Verständnis seiner Texte
irrelevant, dies schon deshalb, weil die weit überwiegende Mehrheit der
Leserschaft die allfälligen Quellen ohnehin nicht kennt und sich also mit dem
begnügen muss, was Schwarz auf Weiss vor Augen steht, und das ist bei Nabokov
durchweg des Guten genug.
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Michael Maars
minutiöse Suche nach Einflussspuren bietet für Literaturbeflissene ebenso
spannende wie lehrhafte Unterhaltung und regt generell dazu an, die Quellenlage
und Werkentstehung gelesener Texte zu hinterfragen. Andrerseits sollte sie aber
nicht vergessen lassen, welch produktive Rolle dem Zufall bei der
schriftstellerischen Arbeit zukommt. Was aus noch so stichhaltigen Gründen als
Vorbild und Einfluss vermutet werden kann, könnte immer auch – alternativ dazu
– einer zufälligen Übereinstimmung geschuldet sein.
Eben diese Ungewissheit thematisiert Vladimir Nabokov in seinem
Erzählwerk immer wieder, und er nutzt sie auch, indem er manche seiner
Protagonisten eine zumeist fatale Gratwanderung absolvieren lässt zwischen
Wirklichkeit und Möglichkeit, Logik und Phantastik, gesundem Menschenverstand
und Wahnsinn. In seinem späten Grossroman «Ada, or Ardor» (1969) legt er seinem
Haupthelden und Alter Ego Van Veen eine diesbezügliche Aussage in den Mund: «…
es existiert kein logisches Gesetz, das uns erkennen liesse, wann eine gewisse
Anzahl von Koinzidenzen aufhört, zufällig zu sein.» Und es gibt auch, so könnte
man entgegnen, kein Gesetz, das uns klar macht, ab wann logische Zusammenhänge
nur noch vom Zufall bestimmt sein können.