Felix Philipp Ingold: Poesie auf den Punkt gebracht
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Felix
Philipp Ingold
Poesie auf
den Punkt gebracht
«Ist nicht der letzte Atemzug –
Dichtung schlechthin?»
Stanisław Jerzy Lec
Was eigentlich sieht man … liest man, wenn man
inmitten einer sonst leeren Buchseite einzig das Schriftzeichen «a» vorfindet?
– «Geruhsamkeit eines Selbstlauts» ist der Titel eines Gedichts von
Gennadij Ajgi, dessen Text tatsächlich aus einem und nur einem Buchstaben
besteht. Umgekehrt könnte, ja müsste man also sagen, der Buchstabe «a» (als
Laut wie als Letter) stehe hier für einen ganzen Text – für ein Gedicht!
a
Wie in andern Sprachen figuriert «a» auch im
Russischen am Anfang des Alphabets, das von «a» bis «ja» (я) insgesamt 33 Lettern umfasst – Vokale, Konsonanten und
Signalzeichen (ohne eigenen Lautwert). Mit «a» wird zugleich (anders als im
Deutschen, aber wie im Griechischen und Hebräischen) die Zahl 1 benannt; «a»
gehört auch zu jenen russischen Wörtern, die aus lediglich einem Buchstaben
bestehen (nebst s, i, k, u, o, [j]a), und als solches bedeutet es soviel
wie «aber», «sondern», auch «und», abgesehen davon, dass es zudem – wie im
Deutschen – als Interjektion («ah!») eingesetzt werden kann.
Der
Buchstabe «a», der Ajgis Gedicht vollumfänglich präsent macht, kann mithin ganz
unterschiedlich gelesen, gesehen, gedeutet werden. Der US-amerikanische Dichter
Louis Zukofsky, Verfasser eines 800-seitigen Poems mit dem Titel «A»
(vollständiger Erstdruck postum 2011), hat in solchem Verständnis die
«buchstäbliche» Lektüre als den «besten» und «einfachsten» Weg zur Lyrik
empfohlen: buchstabieren statt interpretieren.
•
Funktional ist «a» im Russischen also Laut,
Letter, Wort, Zahl und Text in einem. Der Dichter hat gemäss Titelgebung den
«Selbstlaut» im Sinn, dem er die Qualität der «Geruhsamkeit» (auch:
«Genügsamkeit») zuspricht. Demnach soll «a» – in übertragenem wie in konkretem
Verständnis – für sich selbst sprechen, ohne etwas anderes (was es nicht
ist) bedeuten zu sollen.
Der
Autor scheint sich damit aus der artikulierten Sprache und vollends aus der
Dichterrede zurückzuziehen, um das Gedicht (bis auf eben jenen einen Laut «a»)
dem Schweigen zu überantworten. Die Verweigerung der Rede – also des Besagens
und Bedeutens – lässt um so eindringlicher den Sinnreichtum des einen
Buchstabens zur Geltung kommen. In solchem Verständnis hatte einst Marina
Zwetajewa (brieflich gegenüber dem jungen Dichterfreund Nikolaj Gronskij, 1928)
moniert: «Haben Sie Mitleid mit den Buchstaben, den Bausteinen des Worts. Jeder
ist ein ‘ich’.»
•
Implizit knüpft Gennadij Ajgi bei diesem
«Nullpunkt der Literatur» an das suprematistische Schaffen Kasimir Malewitschs
an, der mit seinen Gemälden «Schwarzes Quadrat» (1913/1915) und «Weisses
Quadrat» (1919) den Nullpunkt aller darstellenden Kunst zu erreichen
suchte, der einen solchen Nullpunkt aber auch in einem Traktat «Über Poesie»
(1919) entschieden postuliert hat. Dass er sich dabei unentwegt auf «Gott»
beruft, mag hier unberücksichtigt bleiben, klar ist aber, dass für ihn das
dichterische Wort nicht zu «bedeuten», sondern ausschliesslich zu klingen
hat. Das «selbstlautende», «selbsttätige» Wort stand damals im Mittelpunkt der
russischen futuristischen Poetik.
Vorbildlich
dafür sind in Malewitschs Sicht der Dinge der Schrei und der Seufzer – zwei
vorsprachliche menschliche Verlautbarungen, die keiner Erklärung und auch
keiner Übersetzung bedürften, die reine Kundgabe seien und für die Dichtung
vorbildlich sein sollten. Doch leider, meint Malewitsch, hätten die Dichter
dies noch immer nicht begriffen und seien weiterhin bestrebt, ihre Technik
zu perfektionieren, statt sich der Technik zu entsagen, um zu einer
«gegenstandslosen» Rede zurückzukehren. Noch immer «fürchteten sie sich» davor,
«ihr Stöhnen, ihre Stimme» herauszustellen, weil «das Stöhnen und die Stimme
keine Dinge [bezeichnen]» (also keine Bedeutung haben), sondern «kahl sind und
rein und Wörter bilden, doch Wörter sind das nicht, es sei denn wegen der in
ihnen enthaltenen Buchstaben».
Malewitsch
selbst hat sich in solchem Selbstverständnis als Wortkünstler empfohlen mit
Versen wie diesem: «Ule Ele Lel Li One Kon Si An.» – Noch weiter gingen, wenig
später, die Surrealisten Paul Eluard und André Breton mit ihrer Forderung,
ausser dem «Schrei» auch das «Weinen» und «Kuscheln», ja sogar Gegenstände
der Alltagswelt in die «Poesie» einzubeziehen.
In Felix Philipp Ingold: Schreibweisen Lesarten. Erkundungen und Funde zu Sprache, Schrift und Literatur.
Schorndorf (Moloko Print) 2023. 388 Seiten. 20,00 Euro.