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Felix Philipp Ingold: Meßmer – ein weltläufiger Stubenhocker

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay
Felix Philipp Ingold
Meßmer – ein weltläufiger Stubenhocker
Postum zu entdecken: Martin Walsers Meisterwerk


Nil nisi bene: Nur gut über die Toten reden! Die althergebrachte Regel – eigentlich doch eine Rechtfertigung von Lüge und Fake! – ist noch heute allgemein akzeptiert. Zu beobachten unlängst nach dem Hingang Martin Walsers, 96, der im Feuilleton unisono als «guter», sogar «bester» Erzähler, Dramatiker, Essayist belobigt wurde; selbst seine Misserfolge, sein vielfaches Rene-gatentum und seine öffentlichen Fehltritte bekam er positiv angerechnet als «kontroverser» Zeitgenosse und als selbstbestimmter «freier» Autor.
           So sicher und so frei scheint sich dieser Autor allerdings, nach eigenem Bekunden, nicht gefühlt zu haben, gesteht er doch in einem angestrengt gereimten Gedicht: «Ich weiß nicht, wie, und weiß nicht, was, | nur dass ich gerne sänge, | aber mein Mund ist schwer und schwarz | und schreit vor Enge... »
           Damit ist dreierlei deutlich genug (wenn auch ziemlich unbeholfen) gesagt­ – erstens, dass hier jemand unter bedrängender Engnis leidet; dass er, zweitens, einzig durch «Gesang» (also Dichtung) diese Engnis aufbrechen könnte; dass ihm jedoch, drittens, Kraft und Begabung dafür fehlen, da sein Mund zu «schwer» und zu «schwarz» sei. Als kleinlautes lyrisches Ich gesteht somit der sonst sehr selbstsichere Walser sein literarisches Scheitern ein. Derartige Widersprüche und Bescheidenheitsgesten werden ihm jedoch in aller Regel als Zeichen seiner Offenheit gutgeschrieben.

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Martin Walsers postumen Belobigungen wäre manches entgegenzuhalten. Doch seine voreilige Kanonisierung als moderner Klassiker dürfte sich in absehbarer Zeit von selbst erledigen. Im Unterschied zu nachhaltigerem Ruhm hat Erfolg bekanntlich eine stark eingeschränkte Halb-wertszeit.
           Von einem Gedenkblatt wird man eine diesbezügliche Prognose allerdings ebenso wenig erwarten wie eine kritische Gesamtabrechnung. Im Fall des «grossen» Martin Walser mögen Abrechnung und Prognose gleichermassen ungünstig ausfallen, aber eine bisher klar unterschätzte literarische Leistung ist ihm ohne Abdankungssentimentalität positiv anzurechnen. Es handelt sich dabei um seinen «Meßmer», eine in Ichform sich aussprechende Kunstfigur, die er in drei schmalen Bänden hat zu Wort kommen lassen: «Meßmers Gedanken» (1985), «Meßmers Reisen» (2003) und «Meßmers Momente» (2013), die später unter dem gemeinsamen Kurztitel «Meßmer» (2017) als ein integrales Werk ausgewiesen wurden.
           Die hier vereinigten Aufzeichnungen galten und gelten weithin als beiläufige Marginalien zu Walsers Erzähltexten, als punktuelle Wegmarken auch zu seinem sprunghaften Lebensgang und seiner unsteten Gedankenwelt. Doch sie sind weit mehr als das, sie weisen den Autor als einen Privatphilosophen von eigener Statur aus, als einen Denker, der mit hochfliegenden Ideenblitzen und abgründiger Skepsis gleichermassen zurechtkommt, und dies in stilistisch vielfältigster Form, bald spontan hingeschrieben, bald aphoristisch zugespitzt oder auch umständ-lich ausgeklügelt.
           Der Walser’sche «Meßmer» hat tatsächlich, wiewohl er sich bisweilen in Binsenweis-heiten verheddert, viel Bemerkenswertes und Erhellendes zu bieten, darunter auch Befremdliches und Bedrohliches, oszillierend zwischen Tiefsinn und Wahnwitz.


«Ich» ist – neben Gott und der Welt – Walsers hauptsächlicher Problempunkt, zugleich aber auch sein wortführender Protagonist, hier probeweise verkörpert in Gestalt des fiktiven Normal-verbrauchers Meßmer, der einerseits konzipiert ist als ein «Mensch wie du und ich», andrerseits als ein poetischer Denker, der sorgsam auf den Eigensinn der Sprache achtet, also darauf, was die Sprache als solche ihm zu sagen hat, und nicht weniger darauf, was sich ihm kraft sinnlicher Wahrnehmung erschliesst.
           Nichts Heroisches, Aufdringliches, Belehrendes bringt dieses Ich mit sich, auch Problem-lösungen zur Alltagsbewältigung oder für Sinnfragen bietet es nicht an; es ist ein zögerliches, umsichtiges, stets aufmerksames, dabei selbstkritisches, bisweilen auch selbstironisches Subjekt, das mit dem Autor offenkundig übereinstimmt: Walser verzichtet konsequent auf jede Beschönigung oder Überhöhung seiner Person, vielmehr neigt er zur Offenbarung eigener Schwächen und Defizite, oft auch zu Zweifeln und Depression. Dass er sich unter dem Pseudonym «Meßmer» (Kirchendiener) vernehmen lässt, spricht weniger für seine kirchlichen Interessen als für seine religiösen Bedürfnisse, die er an mancherlei Stellen zur Geltung bringt. Walsers Selbstpräsentation als «Diener» ist eine bemerkenswerte Bescheidenheitsgeste bei einem Autor, der sonst eher für sein hochfahrendes und rechthaberisches Auftreten bekannt ist. «Ich muss mich meiden», notiert er in «Meßmers Momente»: «Wie meidet man sich?»
           Die beiden kurzen Sätze stehen für den produktiven Lakonismus der Aufzeichnungen: Die klare Einsicht und der klare Wille, von sich selbst abzusehen, werden konterkariert durch die naheliegende Frage, ob und wie dieses Vorhaben überhaupt zu bewerkstelligen sei – eine Frage, die zugleich als abschlägige Antwort zu gelten hat: Nein, mich selbst werde ich niemals meiden können; also werde ich der kritischen Selbstbeobachtung und Selbstbefragung nicht entkommen. Walsers «Meßmer» präzisiert: «Ich zu sagen tut weh. Ich bin die dritte Person. Und der ist mit mir per Sie, auch wenn er mich aufdringlich duzt.» Und noch: «Dass ich so gebunden bin an mich. – Könnt ich mich trennen, es käm mir zugut. – Man kann sich nicht verhalten, wie es das Beste wäre für einen selbst. – Bin ich mein Feind?»


«Meßmer» ist eine mehrdimensionale Kunstfigur, die zwar vorzugsweise in der Ichform spricht, die aber problemlos auch als zweite («du») oder dritte («er») Person und sogar im Plural («wir») auftreten kann. «Ich bin eine Wohnung, aus der ich ausgezogen bin.» Dem Paradoxon ist ebenso wenig zu entkommen wie dem vielfältigen, allgegenwärtigen und doch nie fassbaren Selbst, und «am liebsten möchtest du nur noch dir selber verständlich sein». Oder mit nochmals andern Worten: «Außer dir hast du keinen Feind.»
           Der ausserordentliche Scharfsinn dieser und manch ähnlicher Formulierung aus Walsers Gedankenbüchern zielt gerade nicht auf eine Problemlösung, einen Lehrsatz, eine frappierende Pointe ab, sondern bewährt sich darin, die abgründige Rätselhaftigkeit menschlichen Daseins als solche herauszustellen. Im Unterschied zu andern Ideen- und Spruchsammlungen gibt es bei «Meßmer» keine aufklärerische Ambition, kein Besserwissen und nicht mal eine halbwegs verlässliche Gewissheit. Vorherrschend sind Düsternis, Zwielichtigkeit, Täuschung, Irrtum, Versagen aller Art – der Mensch, schicksalhaft allein, auf lauter Um- und Ab- und Rückwegen, fern der linearen Hauptstrasse des Fortschritts. «Ich schleppe mich durch die Welt», heisst es bekenntnishaft an einer Stelle: «Ohne Gefährten bin ich, wie andere auch. Ich trage Schicksal. Das ist Mode. Allgemeiner als ich kann man nicht sein.» Das Besondere an Walsers «Meßmer» ist, dass er nichts Besonderes sein kann und sein wird, weil er es – schlicht – nicht will. «Ich denke an alles, aber es huscht nur durch, der Kopf bleibt kalt wie ein Gebäude, das seit langem nicht mehr bewohnt wird. Ich bin dem Flughafen Pittsburgh nicht gewachsen, das ist alles.»
           Man könnte und möchte die Reihe der Zitate beliebig verlängern und käme über das Stau-nen dennoch kaum hinaus – das Staunen über die unprätentiöse Klugheit dieses Jedermann, seine luzide Skepsis, seine Wahrnehmungs- und Ausdruckskraft: Alles wirkt hier ganz selbstver-ständlich, die Rede über Kunst oder Liebe ebenso wie die über Geworfenheit, Verfall und Todeserwartung. – «Von seinem 54. bis zu seinem 63. Lebensjahr sitzt Tassilo Herbert Meßmer ruhig in einem Zimmer. Ausser den Jahreszeiten bemerkt er nichts. Dann stirbt er. Plötzlich. Seine bis zur Todesstunde geübte Lebensweise verhindert, dass er vermisst wird. Das ist sein Ziel.»


«Meßmer», weltläufiger Stubenhocker, schreibt auf, was ihm durch den Kopf geht, er tut’s, um sein Denken zu verlangsamen und es zu intensivieren, denn zu gross ist die Gefahr, wie er meint, sich zu Phrasenhaftigkeit hinreissen zu lassen; also hält er wortkarg fest:
           «Uneinverstanden mit dem, was passiert. Sich trotzdem nicht sträuben. Nicht besonders. Es soll aussehen, als fügtest du dich … Du spürst die Gewalt. Alles, was du erlebst, ist Gewalt, Macht, Übermacht. Es geht nicht nach dir. Du gibst nach. Jeder wird erledigt. Dazu soll er nicken.» Damit ist Jedermanns Ohnmacht auf den Punkt gebracht, und im perspektivischen Wechsel vom Du zum Ich heisst es weiter: «Ich schnappe nach Luft. Sauerstoff ist nicht alles. Unglück ist eine Blase. Wie leicht war es. Jetzt ist es verwirkt. Wann hätte ich noch etwas machen können? Wie die meisten. Aber ohne Verständigung. Das ist es. Sprünge? Nein.» Doch immerhin dies: «Das Leben gehört zu uns. Der Tod nicht … Siege, Gewohnheit. In Scharen kapitulieren die Rätsel. Das Heilige in die Vitrine. Kein Fluss unüberquert. Jetzt warten wir auf die langsame Seele.»
           Beeindruckend ist die nüchterne Freundlichkeit von «Meßmers» Umgang mit Gott, der nur einfach sein Mitbewohner im Heim ist, so eng mit ihm vertraut, dass «ich» und «Er» unversehens ineins fallen: «Im Winter hält sich Gott mit Vorliebe auf, wo ich bin. Auch der Wind hat im Winter gern zu tun mit mir. Natürlich flieht mich auch viel im Winter. Dann bin ich also mit Gott allein und ununterscheidbar von ihm. Sag ich, er sei mein Pseudonym, sagt er: Namen sind Abfall. Ich liebe das haltlose Reden mit ihm. Mein Bart steht dir gut, sage ich und greife an mein nacktes Kinn.» Das Heilige solcherart in Worte zu fassen, ohne es in irgendeiner Weise zu lädieren, gelingt mit vergleichbarer Subtilität und Leichtigkeit sonst nur den chassidischen Erzählern oder einem Autor wie Kafka.
           Auffallend bleibt, dass es bei Walsers «Meßmer» über Dichtung, also über Literatur als Kunst kaum etwas zu lesen gibt, umso eindringlicher thematisiert er statt dessen die Sprache als Medium seines Denkens, seines Welt- und Selbstbewusstseins. Von Sprachskepsis keine Spur, obwohl sie seiner skeptischen Grundhaltung durchaus entspräche. Aber nein: «Beliebt sein in den entlegenen Kammern der Sprache, dass sich, erschiene ich dort, etwas täte.» Und ein Gleiches umgekehrt: «Wörter, zögert nicht, kommt, bei mir habt ihr zu tun.» Dann aber doch auch eine diskrete Relativierung: «Wenn die Sprache vor allem das ausdrückt, was uns fehlt, ist verständlich, dass sie nur sich selbst entspricht.» Und dies könnte nun gleichwohl der Kern einer Poetik sein: Die dichterische Rede hätte demnach nicht die ausserliterarische Welt zu besprechen, sie fände ihre Entsprechung in sich selbst. Radikaler ausgedrückt: «Die Wirklichkeit hat mit dem, was über sie gesagt werden kann, nichts zu tun. Nichts ist so wenig miteinander kompatibel wie Wirklichkeit und Sprache. Es sind zwei einander nie berührende Welten.»
          

Mit dem leisen «Meßmer» setzt Martin Walser einen selbstkritischen Kontrapunkt zu seiner fahrigen Plauderprosa, die ihm zu ungewöhnlicher Popularität, zu zahllosen Preisen und nun auch zu reichlich respektvollen Nachrufen verholfen hat. Doch sein gesamtes, schwerlich überschau-bares Erzählwerk wird qualitativ – dem Inhalt wie der Form nach – mit Leichtigkeit aufgewogen durch den schmalen Band, in dem «Meßmers Momente», «Meßmers Reisen» und «Meßmers Gedanken» vereint sind und den man früher oder später unweigerlich als Walsers bedeutsamste literarische Errungenschaft erkennen wird.


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