Felix Philipp Ingold: Künstliche Intelligenz und literarische Übersetzung
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Felix Philipp Ingold
Künstliche Intelligenz und literarische Übersetzung
am Beispiel von Shakespeares letztem Sonett
Zwischensprachliches
Übersetzen wird heute von künstlicher Intelligenz – schriftlich wie akustisch –
zwar nicht perfekt, aber doch weitgehend zufriedenstellend praktiziert.
Gebrauchs- beziehungsweise Informationstexte lassen sich problemlos von einer
beliebigen Sprache in eine beliebige andere Sprache transferieren. Davon
ausgenommen bleiben jedoch weiterhin poetische Texte und künstlerische Prosa in
ausgeprägtem Personalstil. Die diesbezüglichen Herausforderungen sind fast
ausschliesslich formaler Art, man könnte auch sagen, sie liegen an der
Textoberfläche.
Ich meine damit die sinnlich wahrnehmbaren
Qualitäten der jeweiligen Vorlage, also deren Lautlichkeit, Rhythmus und auch
ihre Optik – diese Qualitäten adäquat zu erfassen und zu übertragen, ist künstlicher
Intelligenz nach wie vor unerreichbar. Das gilt augenfällig für so geläufige
dichterische Verfahren wie die Reimbildung oder die Assonanz, und mehr noch für
komplexere Formen wie das Anagramm, das Palindrom.
Doch selbst dann, wenn die künstliche Intelligenz
einst in der Lage sein sollte, solche Formen und Verfahren übersetzerisch
nachzubilden, also beispielsweise das Metrum und die Reimstruktur der Sonette
Petrarcas oder Shakespeares oder Baudelaires oder Rilkes in die Zielsprache zu
übernehmen – selbst dann könnte sie den Originalen nicht gerecht werden, weil
diese den Wortklang ja stets in Verbindung mit der Wortbedeutung
bewerkstelligen: Phonetik und Semantik verschmelzen zur Aussage wie auch zur
Stimmung des Gedichts, und eine zusätzliche Dimension erhalten sie durch die
Metaphorik.
Allerdings ist auch keine konventionelle,
gewissermassen handwerkliche Übersetzung dieser Aufgabe vollumfänglich gewachsen,
und doch liefert sie in jedem Fall – und dabei wird’s bleiben – deutlich
bessere Ergebnisse als jede noch so hoch entwickelte künstliche
Intelligenz.
•
William
Shakespeares Sonette – eine Sequenz von insgesamt 154 Einzelgedichten – ist das
vermutlich meistübersetzte Dichtwerk europäischer Literatur, und es ist auch
eins der schwierigsten. Gerade weil es höchste Anforderungen an das Verstehen,
das Interpretieren und besonders an das Übersetzen stellt, ist es bis heute ein
Faszinosum geblieben. Die Wikipedia nennt 81 Gesamtübertragungen ins Deutsche,
dazu zahlreiche Teil- und Einzelübersetzungen; erweitert man das Spektrum auf
die übrigen Weltsprachen, kommt man auf Abertausende von übersetzten
Shakespeare-Sonetten.
Angesichts dieser globalen, stets
individuell erbrachten Übersetzungsleistung drängt sich neuerdings die Frage
auf, ob und inwieweit künstliche Intelligenz mit dem zwischensprachlichen
Transfer der Sonette zurechtkommt – was sie also, entsprechend programmiert,
vom Englischen ins Deutsche zu bringen vermag.
Einen ersten Test dieser Art hat der
Berliner Autor Clemens Schittko schon vor einigen Jahren unternommen, als er
die vollständige Folge der Sonette «von einer bekannteren Übersetzungsmaschine»
verdeutschen liess. Der altertümliche, hier nicht mehr passende Begriff der
«Maschine» steht vermutlich für künstliche Intelligenz. Um welches System es
sich dabei handelt, teilte Schittko damals nicht mit, und merkwürdigerweise
legte er das Ergebnis der «maschinellen» Übersetzung 2019 bei Moloko Print
unter seinem eigenen Namen als Buch vor, womöglich davon ausgehend, dass der
Auftraggeber oder Initiator künstlicher Intelligenz auch deren Leistung für
sich in Anspruch nehmen kann.
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Ich rücke hier
William Shakespeares letztes Sonett (154) im originalen Wortlaut ein:
The little Love-god lying once asleepLaid by his side his heart-inflaming brand,Whilst many nymphs that vow'd chaste life to keepCame tripping by; but in her maiden handThe fairest votary took up that fireWhich many legions of true hearts had warm'd;And so the general of hot desireWas sleeping by a virgin hand disarm'd.This brand she quenched in a cool well by,Which from Love's fire took heat perpetual,Growing a bath and healthful remedyFor men diseased; but I, my mistress' thrall,Came there for cure, and this by that I prove,Love's fire heats water, water cools not love.
Inhalt: Eine
keusche Nymphe entwendet dem schlafenden Liebesgott die brennende Fackel, die
schon Legionen von Männern mit Liebe erwärmt hat; nun entwaffnet sie den heiss
entflammten General im Schlaf, taucht dann die Fackel in eine nahe Quelle, die
dadurch zur warmen Heilquelle wird. Das lyrische Ich begibt sich zur Kur
dorthin, stellt aber fest, dass Liebe wohl Wasser aufwärmen, Wasser aber
niemals Liebe kühlen kann.
Fazit
(Aussage): Liebe erwärmt alle und alles, nie ist ihre Hitze zu bezwingen.
Form: 14 Verse
in 4 Strophen (3 x 4 und 1 x 2 Zeilen); 4 x Kreuzreim (männlich), 1 x Paarreim.
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Die künstliche
Intelligenz liefert folgende Textfassung:
Der kleine Liebesgott liegt einmal schlafendAn seiner Seite seine herzflammende Marke gelegt,Während viele Nymphen das keusche Leben gelobtenKam vorbei; aber in ihrer ersten HandDer schönste Votar nahm dieses Feuer aufWelche viele Legionen von wahren Herzen hatten sich erwärmt,Und so der General des heissen VerlangensWurde von einer unberührten Hand schlafend entwaffnet.Diese Marke löschte sie in einem kühlen Brunnen von,Welche aus dem Feuer der Liebe nahm Hitze fortwährend,Ein Bad und gesundes Heilmittel wachsen lassenFür kranke Männer, aber ich, der Knecht meiner Herrin,Kam dort zur Heilung; und damit beweise ich:Das Feuer der Liebe erhitzt Wasser, Wasser kühlt nicht Liebe.
Das Mindeste,
was man von einer Übersetzung durch KI erwartet, ist die korrekte inhaltliche
Wiedergabe des Originaltexts in der Zielsprache. In dieser Hinsicht ist die
automatisch erstellte Fassung von Sonett 154 knapp akzeptabel.
Ungerechtfertigte Auslassungen oder Zusätze gibt es nicht. Die auffälligste
Abweichung vom Original ist die Übersetzung von engl. «brand» (Brand, Glut,
Brunst) durch Marke, was in Bezug auf das Gedicht ein Fehler ist
beziehungsweise eine Fehleinschätzung des Computers, der an dieser Stelle die
neuere Bedeutung von «brand» als Markenzeichen wiedergibt.
Dass im übrigen «maiden hand» als erste
Hand oder «true hearts» als wahre (statt getreue) Herzen verdeutscht
wird, beeinträchtigt das Verständnis kaum; dies ist schon eher dort der Fall,
wo die KI «by» (nah, daneben) mit von verwechselt: «in einem kühlen
Brunnen von» statt in einem kühlen Brunnen (eher: Quell) nebenan.
Auffallend auch, dass der Begriff «votary» (Gottesdiener/in) unübersetzt
belassen und fälschlich als Maskulinum (der schönste Votar) eingebracht
wird. Bei der Doppelbedeutung von engl. «men» (Menschen, Männer) wählt der
Computer den engeren, auf das männliche Geschlecht reduzierten Begriff.
Als
Programmierer der KI-Übertragung meint Clemens Schittko, «dass gerade dieses
schiefe bzw. falsche Deutsch im Grunde erst die Poesie erzeugt». Eine
überraschende Einschätzung, die durch den Gesamttext des eingedeutschten
Sonetts allerdings nicht bestätigt wird.
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Die
dichterische Qualität des Sonetts 154 beruht auf unterschiedlichen Formalien
rein sprachlicher Art, auf Eigenschaften mithin, die von künstlicher
Intelligenz nicht übertragen, ja nicht einmal erfasst werden können. – Das hat
Geltung vorab für die Metrik und Melodik des Sonetts. Die Shakespeare’schen
Endreime bleiben ebenso unberücksichtigt wie der 5-füssige (im Original nicht
immer regelkonform angewandte) Jambus, der die Verse gleichartig strukturiert. Auch
die Stabreime der Eingangsverse, die das Gedicht lautspielerisch mit einem
lockenden Lullen eröffnen («… Little Love-god Lying
once asLeep | Laid by …») entfallen in der
deutschen Fassung, und schon gar nicht vermag die künstliche Intelligenz ein
wesentliches Charakteristikum des englischen Reims festzuhalten, nämlich die
Möglichkeit, typographische Reimpaare zu bilden, wie es hier in Strophe
3 («well by» :: «remedy») und in den beiden Schlussversen geschieht: «prove» ::
«love» – die beiden Wörter reimen sich, unabhängig von ihrem ganz
unterschiedlichen Klang (pruv :: lav), einzig aufgrund ihrer Schriftform.
Angesichts solcher Versäumnisse
beziehungsweise Verluste ist die Übersetzungsleistung der KI klar ungenügend.
Zwar gibt sie die Aussage des Texts in der Zielsprache recht verlässlich
wieder, doch scheitert sie konsequent an sämtlichen stilistisch oder rhetorisch
bedingten, von der gemeinsprachlichen Norm abweichenden Besonderheiten des
Originals. Diese vom Autor gewollten Besonderheiten kann allerdings auch eine
individuell gefertigte Übersetzung, selbst bei höchstem Gelingen, nie restlos
nachbilden. Doch im Unterschied zum Computer hat der Übersetzer, die
Übersetzerin die Möglichkeit (die Souveränität!), unvermeidliche
Transferverluste auszugleichen durch eigens eingebrachte poetische Qualitäten,
die dem Originaltext abgehen.
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Zu überprüfen
und zu würdigen ist dies am Beispiel zahlreicher Nachdichtungen, von denen die
meisten das Reimschema, die Vers- und Strophenform beibehalten, dafür aber auf
der Bedeutungsebene manche Kompromisse eingehen müssen. Zum Vergleich mit der
Original- und der KI-Fassung füge ich an dieser Stelle eine Neuübersetzung von
Sonett 154 ein, Teil einer entstehenden Gesamtausgabe von Markus Marti, die als
work in progress auf https://shine.unibas.ch/Sonette2.htm
zugänglich ist – auch hier sind Gewinne und Defizite literarischer Übersetzung
gleichermassen deutlich zu erkennen, und als solche verdienen sie
entsprechendes kritisches Interesse.
Der kleine Liebesgott lag auf dem Ohr,die Liebesfackel neben sich gelegt,als eine Nymphenschar, die Keuschheit schwor,vorbeigetrippelt kam. Wohl überlegtergriff die Schönste diesen heißen Pfahl,durch den so manches Herz schon Wärme fand.Schon fand sich der Begierde Generalentwaffnet von der keuschen Jungfrau Hand.Sie löscht' die Fackel aus im kühlen Quell,der, durch das Liebesfeuer ewig heiß,ein Badeort nun ist, wo Kranke schnellsich Heilung hoffen. Ich kam solcherweisals meiner Herrin Sklave hier zur Kur,doch Liebesfeuer heizt das Wasser
Ob künstliche Intelligenz jemals kompetent
genug sein wird, eine auch nur annähernd so stimmige Übertragung zu bieten,
muss sich erst noch weisen; und das kann lange dauern – falls es denn jemals
gelingen sollte.
2023-06-15