F. Scott Fitzgerald: Drei Stunden zwischen den Flügen
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Foto: Carl van Vechten, 1937
F. Scott
Fitzgerald
Drei Stunden
zwischen den Flügen
(Three Hours Between
Planes – erschienen im Esquire, Juli 1941)
Übersetzt von
Ivor Joseph Dvorecky
Es war nur
eine verrückte Möglichkeit, aber Donald war in Stimmung, gesund und
gelangweilt, im Bewusstsein eine lästige Pflicht erledigt zu haben. Nun würde
er sich belohnen. Vielleicht. Als der Flieger landete, trat er in eine
Sommernacht des Mittleren Westens hinaus und steuerte den abgelegenen Pueblo Airport
an, für gewöhnlich als das alte rote »Eisenbahndepot« bezeichnet. Er wusste
nicht, ob sie noch am Leben war oder in dieser Stadt lebte oder wie sie jetzt
hieß. Mit wachsender Erregung suchte er das Telefonbuch nach ihrem Vater durch,
der auch tot sein konnte, irgendwo in diesen zwanzig Jahren.
Nein. Richter
Harmon Holmes – Hillside 3194. Eine amüsierte Frauenstimme antwortete auf seine
Frage nach Miss Nancy Holmes.
»Nancy ist
jetzt Mrs. Walter Gifford. Wer ist da?«
Doch Donald
legte auf, ohne zu antworten. Er hatte herausgefunden, was er wissen wollte,
und hatte nur drei Stunden. An einen Walter Gifford erinnerte er sich nicht,
und da gab es eine weitere Lücke, während er das Telefonbuch durchsuchte.
Vielleicht
hatte sie auswärts geheiratet.
Nein. Walter
Gifford – Hillside 1191. Das Blut floss zurück in seine Fingerspitzen.
»Hallo?«
»Hallo. Ist
Mrs. Gifford da – hier ist ein alter Freund von ihr.«
»Hier ist
Mrs. Gifford.«
Er erinnerte
sich, oder glaubte sich zu erinnern, der lustige Zauber in der Stimme.
»Hier ist
Donald Plant. Wir haben uns nicht gesehen, seit ich zwölf war.«
»Oh-h-h!« Der
Ausruf klang völlig überrascht, sehr höflich, doch konnte er darin weder Freude
noch ein bestimmtes Wiedererkennen feststellen.
»– Donald!«,
fügte die Stimme hinzu. Diesmal lag etwas mehr darin als angestrengtes
Erinnern.
»… seit wann
bist du in der Stadt?« Dann herzlich, »Wo bist du denn?«
»Draußen am
Flughafen – nur für wenige Stunden.«
»Gut, komm
her und besuch mich.«
»Bist du
sicher, dass du nicht ins Bett gehen wolltest?«
»Himmel,
nein!«, rief sie aus. »Ich habe hier vor einem Highball gesessen. Sag dem
Taxifahrer einfach …«
Während der
Fahrt analysierte Donald das Gespräch. Seine Worte »am Flughafen« machten klar,
dass er seine Stellung in der höheren Mittelschicht beibehalten hatte. Nancys
Alleinsein konnte bedeuten, dass sie eine unattraktive Frau ohne Freunde
geworden war. Ihr Gatte mochte entweder weg sein oder im Bett. Und – weil sie
in seinen Träumen immer zehn Jahre alt war –, schockierte ihn der Highball.
Aber mit einem Lächeln berichtigte er sich – sie war fast dreißig.
Am Ende der
gebogenen Auffahrt sah er eine dunkelhaarige kleine Schönheit vor erleuchteter
Haustür stehen, mit einem Glas in der Hand. Aufgeschreckt durch ihre
tatsächliche Erscheinung stieg Donald aus dem Taxi und fragte:
»Mrs.
Gifford?«
Sie drehte
das Verandalicht an und starrte ihn an, weitäugig und vorsichtig. Ein Lächeln
durchbrach die Ratlosigkeit.
»Donald – du
bist es –, wir alle ändern uns so. Oh, das ist unglaublich!«
Während sie
hineingingen, erklangen in ihren Stimmen die Worte »all die Jahre« und Donald
fühlte seinen Magen sinken. Zum Teil rührte das von der Erinnerung an ihre
letzte Begegnung – als sie ihn mit dem Rad geschnitten hatte, ihn völlig
ignorierend – und teils aus Furcht, sich nichts zu sagen zu haben. Es war wie
bei einem Klassentreffen – nur verhüllt dort die Hast die Unfähigkeit, sich in
der Vergangenheit zurechtzufinden. Bestürzt erkannte er, dass dies eine lange
und leere Stunde werden könnte. Fest entschlossen stürzte er sich da rein.
»Du warst
schon immer entzückend. Aber ich bin fast erschrocken, wie wunderschön du
geworden bist.«
Es
funktionierte. Das unmittelbare Bewusstsein ihrer veränderten Rollen, das kühne
Kompliment, machten sie zu interessanten Fremden anstatt Freunden aus
Kindertagen, die einst gemeinsam die Welt entdeckt hatten.
»Einen Highball?«,
fragte sie. »Nein? Denk bitte nicht, ich wäre eine heimliche Trinkerin
geworden, aber es ist eine einsame Nacht gewesen. Ich habe auf meinen Mann
gewartet, doch er telegrafierte, er würde zwei Tage länger bleiben. Er ist sehr
nett, Donald, und sehr attraktiv. Ziemlich dein Typ und hat die gleiche
Haarfarbe.« Sie zögerte, »– und ich glaube, er ist an jemandem in New York interessiert
– ich weiß nicht.«
»Jetzt, wo
ich dich gesehen habe, kling das unmöglich«, versicherte er ihr. »Ich war sechs
Jahre verheiratet, und es gab eine Zeit, da quälte ich mich auch auf solche
Weise. Dann eines Tages habe ich die Eifersucht einfach für immer aus meinem
Leben verbannt. Nachdem meine Frau starb, war ich sehr froh darüber. Es ließ
mir eine Fülle schöner Erinnerungen – nichts Beschädigtes oder Schmutziges,
keine Verbitterung.«
Sie
betrachtete ihn aufmerksam, dann mitfühlend, während er sprach.
»Das tut mir
sehr leid«, sagte sie. Und nach angemessener Weile, »du hast dich ziemlich
verändert. Dreh deinen Kopf um. Ich weiß noch wie Vater sagte, der ›Junge hat
Hirn‹.«
»Du warst
vermutlich anderer Meinung.«
»Ich war
beeindruckt. Bis dahin dachte ich, jeder hätte ein Gehirn. Deswegen blieb es
mir so im Gedächtnis.«
»Was blieb
dir noch im Gedächtnis?«, fragte er lächelnd.
Plötzlich
stand Nancy auf und trat ein wenig beiseite.
»Ah, nun«,
tadelte sie ihn. »Das ist nicht fair. Ich glaube, ich war ein unartiges
Mäd-chen.«
»Warst du
nicht«, sagte er bestimmt. »Und jetzt werde ich einen Drink nehmen.«
Während sie
eingoss, ihr Gesicht noch immer von ihm abgewandt, fuhr er fort:
»Denkst du,
du warst das einzige kleine Mädchen, das je geküsst worden ist?«
»Du magst das
Thema, nicht?«, erwiderte sie. Ihr augenblicklicher Unmut schmolz und sie
sagte: »Zum Teufel! Wir /hatten/ Spaß. Wie in dem Song.«
»Bei der
Pferdeschlittenfahrt.«
»Ja – und
beim Picknick von wem – von Trudy James. Und dort in Frontenac während dieses –
während der vielen Sommer.«
Es war die
Schlittenfahrt, woran er sich am meisten erinnerte, und an das Küssen ihrer
kalten Wangen im Stroh in einer Ecke, während sie zu den kalten weißen Sternen
hinauflachte. Das Pärchen ganz nahe hatte ihnen den Rücken gekehrt, und er
küsste ihren schmalen Nacken und ihre Ohren, aber nicht ihre Lippen.
»Und bei der
Party von Macks, wo sie Postamt spielten und ich nicht hinkonnte, weil ich
Mumps hatte«, sagte er.
»Daran
erinnere ich mich nicht.«
»Oh, du warst
da. Und du bist geküsst worden und ich war verrückt vor Eifersucht wie seitdem
nie wieder.
»Komisch,
kann ich mich nicht daran erinnern. Vielleicht wollt ich’s vergessen.«
»Aber
warum?«, fragte er vergnügt. »Wir waren doch zwei vollkommen unschuldige
Kinder. Nancy, wann immer ich meiner Frau von der Vergangenheit erzählt habe,
sagte ich ihr, du wärst das Mädchen, dass ich fast so sehr liebte, wie ich sie
geliebt habe. Aber ich
glaube, in Wirklichkeit liebte ich dich genauso sehr. Als wir aus der Stadt
gezogen sind, trug ich dich in mir wie eine Gewehrkugel.«
»Warst du so
sehr – erregt?«
»Mein Gott,
ja! ich –« Auf einmal bemerkte er, dass sie nur zwei Fuß voneinander ent-fernt
standen, dass er sprach, als würde er sie gerade jetzt lieben, dass sie zu ihm
mit halbgeöffneten Lippen und einem verklärten Blick in den Augen aufsah.
»Sprich
weiter«, sagte sie. »Ich schäme mich, aber – ich mag es.
Ich wusste
nicht, dass du damals so erregt warst. Ich dachte, ich war es,
die erregt war.«
»Du!«, rief
er aus. »Erinnerst dich nicht, wie du mich in der Drogerie geschnitten hast.« Er
lachte. »Du hast mir die Zunge rausgestreckt.«
»Ich erinnere
mich überhaupt nicht. Mir schien, du warst es, der mich nicht beachtet hat.«
Ihre Hand fiel leicht, fast tröstend auf seinen Arm. Ich habe ein Album oben,
dass ich seit Jahren nicht mehr angeschaut habe. Ich werd’s rausholen.«
Für fünf
Minuten blieb Donald mit zwei Gedanken allein sitzen, – zunächst einmal ohne
Hoffnung, der Unmöglichkeit die Erinnerungen von zwei Menschen an dasselbe
Ereignis in Einklang zu bringen, – und dann, dass Nancy ihn in jener
beängstigenden Weise anzog, in der sie ihn als Kind angezogen hatte. In einer
halben Stunde hatte sich ein Gefühl entwickelt, wie er es seit dem Tod seiner
Frau nicht mehr kannte – wie er nie gehofft hatte, es wieder zu erleben.
Seite an
Seite auf der Couch, öffneten sie das Buch zwischen ihnen. Nancy sah ihn an,
lächelnd und sehr glücklich.
»Oh, ist das
schön«, sagte sie. »So schön, dass du so nett bist und dich an mich so –
wunderbar – erinnerst. Lass dir sagen – ich wünsche, ich hätte es damals
gewusst! Als du gegangen warst, habe ich dich gehasst!«
»Wie schade«,
sagte er sanft.
»Aber jetzt
nicht mehr«, versicherte sie ihm, und dann impulsiv, »küssen und vergeben wir
uns –«
»Das war
jetzt keine brave Ehefrau«, sagte sie nach einer Minute.
»Ich glaube wirklich,
nicht mehr als zwei Männer geküsst zu haben, seit ich verheiratet bin.«
Er war aufgewühlt
– vor allem aber verwirrt. Hatte er Nancy geküsst? oder eine Erinnerung?, oder
diese liebenswürdige zitternde Fremde, die rasch von ihm fortblickte und die
Seite im Album wendete.
»Warte!«,
sagte er. »Ich glaub nicht, dass ich das Bild so schnell erkennen konnte.
»Wir tun’s
nicht wieder. Ich fühl mich nicht wohl dabei.«
Donald sagte
eins dieser trivialen Dinge, die so vieles bedeuten. »Wäre es
nicht ent-setzlich, wenn wir uns wieder verlieben würden?«
»Hör auf
damit!« Sie lachte, doch ziemlich ohne Atem. »Das alles ist vorbei. Es war nur
ein Moment. Ein Moment, den ich vergessen muss.«
»Sag’s nicht
deinem Mann.«
»Warum nicht?
Für gewöhnlich erzähle ich ihm alles.«
»Es wird ihn
verletzen. Sag einem Mann nie solche Dinge.«
»Gut, werd
ich nicht.«
»Küss mich
noch einmal«, sagte er unsicher, doch Nancy hatte die Seite umgedreht und
zeigte eifrig auf ein Foto.
»Da bist du
ja«, rief sie aus. »Gleich hier!«
Er sah hin.
Da war ein kleiner Junge in Shorts, der auf dem Pier stand, mit einem Segelboot
im Hintergrund.
»Ich erinnere
mich genau –«, lachte sie triumphierend, »– an den Tag, als es gemacht wurde.
Kitti hat’s gemacht und ich hab’s ihr gestohlen.«
Einen
Augenblick lang vermochte Donald nicht, sich auf dem Bild zu erkennen, – dann,
näher herangebeugt, misslang es ihm völlig sich wiederzuerkennen.
»Das bin ich
nicht«, sagte er.
»Oh doch. Es
war in Frontenac – in dem Sommer als wir – als wir so oft in die Höhle gegangen
sind.
»Was für eine
Höhle denn? Ich war nur drei Tage in Frontenac.« Wieder
strengte er seine Augen an, das leicht vergilbte Foto zu erkennen. »Und das bin
ich nicht. Das ist Donald Bowers. Wir sahen uns ziemlich ähnlich.«
Nun starrte
sie ihn an – weggelehnt, im Begriff, aufzustehen. »Aber du bist
Donald Bowers!« rief sie aus; ihre Stimme hatte sich ein wenig gehoben. »Nein,
bist du nicht. Du bist Donald Plant.«
»Ich habe es
dir am Telefon gesagt.«
Sie war auf
den Beinen – das Gesicht leicht entsetzt.
»Plant!
Bowers! Ich muss verrückt sein. Oder war’s der Drink? Ich war ein wenig
durcheinander, als ich dich zuerst gesehen habe. Schau her!
Was hab ich dir gesagt?«
Er rang um
mönchische Gelassenheit, als er im Album blätterte. »Keins
davon«, sagte er. Bilder, auf denen er nicht vorkam, erschienen und formten
sich aufs neue vor seinen Augen, – Fontenac – eine Höhle – Donald Bowers, – »Du
hast mich ignoriert!«
Nancy sprach
von der anderen Seite des Zimmers.
»Du wirst
diese Geschichte nicht weitererzählen«, sagte sie. »Geschichten
finden immer einen Weg sich herumzusprechen.«
»Es gibt
keine Geschichte«, zögerte er. Aber er dachte: So, sie war also ein unartiges
kleines Mädchen.«
Und plötzlich
war er jetzt voll wilder wütender Eifersucht auf den kleinen Donald Bowers –
er, der die Eifersucht für immer aus seinem Leben verbannt hatte. Mit den fünf
Schritten, die er benötigte, um das Zimmer zu durchmessen, vernichtete er
zwanzig Jahre und die Existenz von Walter Gifford.
»Küss mich
noch mal, Nancy«, sagte er, sank auf ein Knie neben ihrem Stuhl, die Hand auf
ihre Schulter legend. Aber Nancy machte sich los.
»Du hast
gesagt, du müsstest deinen Flieger kriegen.«
»Das ist
unwichtig. Ich kann ihn verpassen. Es ist bedeutungslos.«
»Bitte geh«,
sagte sie in einem kühlen Ton. »Und versuche bitte dir vorzustellen, wie mir
zumute ist.«
»Aber du tust
so, als würdest du dich nicht an mich erinnern«, er schrie beinahe, »als
würdest du dich nicht an Donald Plant erinnern!«
»Doch, das
tue ich. Ich erinnere mich auch an dich … aber es war alles vor so langer
Zeit.« Ihre Stimme verhärtete sich wieder. »Die Taxinummer ist Crestwood 8484«.
Auf seinem
Weg zum Flughafen schüttelte Donald den Kopf von einer Seite auf die andere. Er
war jetzt ganz er selbst, aber er konnte die Erfahrung nicht verdauen. Erst als
sich die Maschine röhrend in den dunklen Himmel erhob, und die Reisenden zu
einer anderen Lebensgemeinschaft wurden als die Geschäftswelt da unten, zog er eine
Parallele zu seinem Flug. Für fünf blendende Minuten hatte er wie ein
Verrückter in zwei Welten zugleich gelebt. Er war ein Junge von zwölf Jahren
gewesen und ein Mann von zweiunddreißig, unlöslich und hilflos miteinander
verbunden. Donald hatte sehr viel verloren, auch er, in diesen Stunden zwischen
den Flügen – aber da die zweite Lebenshälfte ohnehin ein langer Prozess des
Loslassens von Dingen ist, machte dieser Teil der Erfahrung vermutlich nicht so
viel aus.