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Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland (Auszug)

Gedichte > Zeitzünder



Ernst Toller

Eine Jugend in Deutschland

Zwölftes Kapitel
Flucht und Verhaftung
(Auszug)



(...)

Das Schicksal hat mich wieder verschont; aber jetzt ist keine Zeit zu verlieren, ich muß das Haus verlassen. Wohin soll ich?

Erschießungen, Mißhandlungen, Verhaftungen haben die Mutigsten eingeschüchtert, endlich, am Abend, ist eine junge Frau bereit, mich für eine Nacht in der Wohnung ihrer Eltern zu beherbergen.

Vor dem Haus, in dem sie wohnt, stehen Soldaten, sie flirten mit den Hausmädchen, ich zögere, ich kann nicht mehr zurück, unerkannt drücke ich mich an ihnen vorbei ins Haus.

Der Vater der jungen Frau ist Arzt, er wohnt auf der einen Seite des Stockwerks, auf der andern liegen die ärztlichen Sprechzimmer und die Zimmer der Tochter. Er darf nichts merken, er würde mich verraten.

Müde von den Erregungen dieses Tages lege ich mich auf das Sofa des kleinen Wohnzimmers, immer, wenn ich eingeschlafen bin, höre ich die Stimme der jungen Frau:

»Eben wird die Tür aufgeschlossen.«

»Jetzt hat man geklopft.«

»Da kommen Menschen.«

Ich lausche. Nichts.

Ich sehe nach der Uhr. Es ist halb sechs.

Die junge Frau steht in meinem Zimmer.

»Gleich wird das Hausmädchen das Wohnzimmer reinigen, verstecken Sie sich.«

Ich kauere auf dem Boden des Schlafzimmers, über mir Wäsche und Decken, ich kann kaum atmen, das Mädchen räumt nebenan auf, ich darf mich nicht bewegen, im Spiegel des Wohnzimmers kann sie das Schlafzimmer überblicken.

Das Mädchen ist gegangen.

»Gleich wird mein Vater mir guten Morgen sagen: Gehen Sie ins Badezimmer. Hocken Sie sich in die Badewanne. Werfen Sie das Badelaken über sich.«

Ich sitze in der kalten Badewanne und horche, ich höre Schritte, höre die Tür sich öffnen, ich warte, höre wieder Schritte, die sich entfernen, ich schleiche rasch ins Wohnzimmer.

»Mein Vater hat nichts gemerkt, aber noch eine Nacht können Sie nicht bleiben.«

»Wissen Sie jemand?«

»Vielleicht nimmt Rainer Maria Rilke Sie auf. Ich werde ihn fragen.«



Am Nachmittag kommt Rilke.

Immer wenn ich ihn sehe, denke ich an ein Bild, das ich in irgendeinem Buch fand, es zeigte einen Tataren, der, beutebeladen, auf kleinem Steppenpferd müde durch die gelbbrennende Wüste ritt. Der jungen Frau bringt er langstielige Maréchal-Niel-Rosen, die er, man sieht es, sorgfältig gewählt hat, sie sind nicht mehr Knospen und noch nicht zur Blüte geöffnet, sie stehen in jener süßen Schwebe, wo sie nicht wissen, ob sie sich schließen oder entfalten sollen.

Mattgraue Augen unter schweren Lidern sehen mich traurig und behutsam an, dann senken sich Blick und die Spitzen des hängenden Schnurrbarts auf seine Hände.

»Ich bin sehr betrübt, bei mir sind Sie nicht sicher, zweimal schon wurde mein Haus durchsucht. Sie hatten meine Wohnung unter den Schutz der Räterepublik gestellt, ich vergaß, den Anschlag zu entfernen, das wurde mir zum Verhängnis. Vor zwei Tagen war die Polizei wieder da. Detektive haben beim Photographen eine Mappe gefunden, in der Ihr Bild neben meinem lag. Dieser Zufall war der Anlaß zu neuer Verfolgung.«

Rilke geht, bald danach wird er aus München ausgewiesen. Die Kämpfe der Politik berührten ihn nie, daß er ein Dichter war, machte ihn der Polizei verdächtig.



Endlich ist ein Mensch bereit, mich aufzunehmen, der Maler Lech. Ich darf nicht länger zögern, aber wie komme ich zu ihm, mein Steckbrief hängt an allen Litfaßsäulen, mein Gesicht ist allzu vielen bekannt. Ich verkleide mich. Der Schauspieler Werin hilft mir. Ich ziehe einen Gehrock an, Haar und Augenbrauen werden weiß gepudert und geschminkt, einige Minuten später verläßt ein soignierter alter Herr, sichtlich Rückenmärker, mit leichtem Knickschritt das Haus.



Der Maler Lech wohnt in einem Gartenhaus Schwabings. Drei Wochen bleibe ich dort verborgen. Tagsüber schleiche ich gebückt durch die Zimmer, damit niemand mich am Fenster erblicke, abends wage ich mich für Minuten in den Garten und atme die Luft des Frühlings. Lech und seine Frau haben nicht viel zu essen, das wenige teilen sie mit mir. Leer verrinnen die Tage. Ich lese in den Zeitungen, daß die Polizei nach mir fahndet, kaum eine Stadt, in der man mich nicht gesehen haben will. Eisenbahnzüge werden angehalten, Dörfer umzingelt. Einmal sucht man mich in Österreich, Soldaten dringen in das Schloß Ottensheim an der Donau, wo Verwandte wohnen. Die Schweizer Grenzbehörden verhaften einen Arzt, er habe mich heimlich über die Grenze geschafft. Man bedroht meinen Bruder, der in Ostdeutschland wohnt.

Man verhaftet meinen Vetter, obschon er als Leutnant der Weißen Garde im Freikorps Epp dient und geschworen hat, er werde mich erbarmungslos niederknallen, wenn er mich träfe.

Mein Steckbrief ist selbst in den kleinsten Weilern Deutschlands plakatiert. Arbeiter und Arbeiterinnen versuchen mir zu helfen, sie zerstören mein Bild im Steckbrief.

Man sucht mich im Atelier des Malers Sohn-Rethel, dem Enkel des Totentanzzeichners. Rethel muß mit erhobenen Händen der Haussuchung folgen, da man mich nicht findet, wird er geohrfeigt und mißhandelt.



Polizisten, Soldaten, Denunzianten wollen den Kopfpreis von zehntausend Mark verdienen.
(...)

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