Direkt zum Seiteninhalt

Dieter M. Gräf: Die große Chance

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen



Michael Braun


Die große Chance: Wie ich lebe und warum

Rolf Dieter Brinkmann und Dieter M. Gräf als Fotokünstler



In einem Beitrag für die heute vergessene, aber zu ihrer Zeit wegweisende Anthologie „Trivialmythen“ hat der Dichter Rolf Dieter Brinkmann 1970 eine Serie von 36 Fotos zusammengestellt, mit dem lapidaren Titel „Wie ich lebe und warum“. Es ist ein bemerkenswerter Beitrag zu einer Poesie ohne Wörter, die auf das gängige Repertoire moderner Lyrik, auf das  Zeichensystem Sprache und seine Topiken und Metaphoriken gänzlich verzichtet. Bereits in der Notiz zu seinem Gedichtband „Die Piloten“ (1968) hatte sich Brinkmann auf eine Poetik des „snap-shots“ verpflichtet. Seine Foto-Serie montierte dann in demonstrativ unspektakulärer Manier das Setting eines trostlosen Alltags, Signale einer sinnleeren Welt. Es ist die fotografische Inventur einer sehr unauffälligen kleinbürgerlichen Lebenswelt. Markiert werden die Realien einer eher bedrückenden Normalität in einer kleinen Wohnung am Ende der sechziger Jahre in Köln: Waschbecken, Speisekammer, Badewanne, Toilette, Fernsehgerät, Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer, Menschen kommen nur schattenhaft oder verwischt ins Bild. Man entdeckt in dieser fotografischen Ethnografie eines leeren Alltags nirgendwo eine Antwort auf die stolze Ankündigung  des Titels: „Wie ich lebe und warum“. Mit dieser Foto-Serie, die gerade durch ihren Verzicht auf textuelle Signifikanz beeindruckt, betrat Brinkmann einen Grenzbereich, der ihn herausführte aus den Begrenzungen der Literatur. Er hatte hier die ersten Ansätze zu einer rein visuellen Poesie ohne Wörter entwickelt. Später, in seinen großformatigen Tagebuchbänden, die aus dem Collagieren von Fotos, Postkarten, Briefen, Zeitungsausrissen und aggressiven Aufzeichnungen, aus der Verbindung von Ready Mades, dokumentarischem Rohstoff und poetischen Notizen ihre Suggestivität bezogen, erweiterte er noch einmal sein Spektrum an Ausdrucksformen.
Einen ähnlichen intermedialen Weg der Grenzüberschreitung, der ihn aus dem engen Milieu und Spezialistentum der Lyriker und ihres Anhangs herausführt, hat seit einigen Jahren der Dichter Dieter M. Gräf eingeschlagen. „Das Fotografieren“, so schrieb er in einem Essay für die Zeitschrift „Gegenstrophe“ (Heft 7/2016), „entwickelte einen Sog, der mich verblüfft, und nun bin ich kein richtiger Dichter mehr und kein richtiger Künstler, sondern einer, der schreibt, publiziert, fotografiert, postet und ausstellt.“ In einem Brief an den Verfasser dieses Beitrags geht Gräf noch weiter, wendet sich ab von der „posthöfischen Gesellschaft“ der Literaten, die „für den eigenen Vorteil zu jeder Unwahrhaftigkeit bereit“ sei.

Dieter M. Gräf hat sich nun als Foto-Künstler neu erfunden. In diesen Tagen hat er ein „Buch-Hybrid“ vorgelegt, eine Art Katalogband zu seiner Ausstellung „Die große Chance / Maudach-in-Peking“, die bereits 2014 im „Three Shadows Photography Art Centre“ in Peking  gezeigt wurde und derzeit auch im „Port25. Raum für Gegenwartskunst“ in Mannheim zu sehen ist. „Die große Chance“ führt die fotografische Alltags-Ethnografie Rolf Dieter Brinkmanns fort – als eine meditative Poesie fast ohne Wörter, in stummen Lektionen über die Vergänglichkeit. Die iPhone-Fotos mit ihren Unschärfen, Spiegelungen und betörenden Licht- und Schattenspielen werden als ein memento mori lesbar, als ein bewegender Nachruf des Dichters auf seine im Jahr 2012 verstorbene Mutter.

Die Fotos führen uns in sein verlassenes Elternhaus in Maudach/Ludwigshafen, wo Gräf 1960 als Sohn eines Maschineneinstellers und einer Krankenkassenangestellten zur Welt kam. Dort werden die Relikte einer versunkenen Welt dokumentiert: „Das Bett der toten Eltern“, der Keller mit alten, nutzlos gewordenen Werkzeugen, einem Schraubstock, einem „Mückenschrank“, dazu rostende Projektile, alte Briefe und schließlich der „Plattenspieler“, dem mythischen Objekt in den Jahren des sogenannten Wirtschaftswunders. Es ist eine menschenleere Welt, ein Warteraum mit offen stehenden Türen, in der man aber nicht mehr eine Zukunft oder Verheißung erwartet, sondern nur noch den Tod. Flankiert werden die Fotos durch einen begleitenden Essay und einige Gedichte, die im Zusammenhang mit dem Projekt „Die große Chance“ entstanden sind. Neben die neuen Texte treten einige provozierend anmutige „Heimat“-Gedichte aus dem 1997 bei Suhrkamp erschienenen Band „Treibender Kopf“. Aufschlussreich für Dieter M. Gräfs neue Form der intermedialen Intervention ist sein Umgang mit dem mythenbesetzten Gegenstand „Plattenspieler“. Bereits 2002 hatte er in seinem Gedichtband „Westrand“ (Suhrkamp Verlag) ein Langgedicht mit dem Titel „Plattenspieler“ veröffentlicht. Es ist ein Gedicht, das in dem damals für Gräf typischen Verfahren der schroffen Fügung und historischen Übermalung einige Urszenen deutscher Geschichte miteinander verknüpft. Die Eingangsverse benennen dort ein prekäres Detail aus der Zeit der Inhaftierung der führenden RAF-Aktivisten Andreas Baader und Gudrun Ensslin im berüchtigten Hochsicherheitsgefängnis in Stuttgart-Stammheim. Hier wird nämlich der Plattenspieler ausgerufen, in dem Baader in seiner Stammheimer Zelle die Pistole versteckt hatte, mit der er später im Oktober 1977 Suizid beging. Gräf verknüpft die Gewaltgeschichte der RAF mit dem Mythos der Hermannsschlacht (dort ging der römische Feldherr Varus im Kampf gegen den Cheruskerfürsten Arminius zugrunde), dem daraus entstandenen Drama Heinrich von Kleists und den mörderischen Folgen der „Goebbelsgosche“: „Man ist verbandelt mit / Toten, sie schlagen / noch nach aus / fernsten Fernen, / größter Nähe also: / verbannt ins Innerste / der Zellen (Rote / Zellen), ausgeknipst / auf dem Bildschirm / Bewusstsein ist ihr / Träufeln zerquetschte / Liebe.“ Nun zeigt uns auch „Die große Chance“ ein Exponat mit dem Titel „Plattenspieler“. Wir sehen einen vielleicht sieben- oder achtjährigen Jungen auf einem Sofa mit Jaguarmuster andächtig vor einem Plattenspieler sitzen, der oberste Knopf seines Hemdes ist geschlossen: Der Autor als Kind in einer typischen Wohlstandsidylle der sechziger Jahre. Auf dem Plattenspieler sind vielleicht schon die Tonspuren der beginnenden Revolte zu hören – oder doch die schaurige Volksmusik, die noch den Großmachtstraum der Nazis im Herzen trug. Diese faktographischen iPhone-Fotos von Dieter M. Gräf haben etwas sehr Schutzloses, Unverstelltes und daher Berührendes, weil sie einen Raum der Einsamkeit ausleuchten, das Subjekt in seiner Ausgesetztheit an die letzten Dinge. „Fotos erden“, schreibt Dieter Gräf in seinem „Gegenstrophe“-Essay, „sie zeigen, was zu sehen ist. Ich halte es damit so einfach wie möglich und da ich darauf verzichte, mich artistisch auszutoben, bin ich immer wieder überrascht, wie mich die Wirklichkeit belohnt.“ Die Fotos in „Die große Chance“ sind das Tagebuch eines Künstlers, der das inzestuöse Spezialistentum hinter sich gelassen hat und sich fortan zwischen den Gattungen bewegen wird. In der Fotografie hat er die Möglichkeit entdeckt, an das Initialerlebnis als Künstler wieder heranzukommen – in Bildern von sinnlicher Evidenz.


Renate Matthaei (Hrsg.): Trivialmythen. Frankfurt, März Verlag 1970. 226 Seiten, antiquarisch ab 15 Euro.

Dieter M. Gräf: Die große Chance / Maudach-in-Peking. (Mit Nina Zlonicky). Publikation anlässlich der Ausstellung „Das, was bleibt“ (bis 5. März 2017) bei Port25 – Raum für Gegenwartskunst, Mannheim 2017. Oder direkt unter der Webseite. 96 Seiten, 20,00 Euro.

Zurück zum Seiteninhalt