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Der pointierte Blick des Mario Steigerwald

Portraits
Der pointierte Blick des Mario Steigerwald

„Ich hatte nasse Füße bekommen und fror, dennoch blieb ich noch eine ganze Weile wartend stehen. Nichts mehr. Während ich noch stand und dachte, wie hübsch die zarten bunten Buchstabenirrlichter über die feuchte Mauer und den schwarzglänzenden Asphalt gegeistert waren, fiel mir plötzlich wieder ein Bruchstück aus meinen vorigen Gedanken ein: das Gleichnis von der golden aufleuchtenden Spur, die so plötzlich wieder fern und unauffindbar ist.“ (Hermann Hesse: Der Steppenwolf, Harry Hallers Aufzeichnungen)

Wer literarische Veranstaltungen in München besucht, wird früher oder später auf ihn stoßen, vor allem, wenn es sich um alternative oder lyrische Events handelt, etwa die jährlichen „Kooperationen“ oder die halbjährlichen „Meine drei lyrischen Ichs“. Meist sieht man ihn am Rande dann, leise, fast schleichend, um nicht aufzufallen, vorsichtig durchs Okular seines Fotoapparats guckend, den Ausschnitt suchend, den er im Kopf zu haben scheint und für geeignet hält. Ohne seine Schwarzweißaufnahmen wäre eine Lesung in München kaum anschließend komplett.

Mario Steigerwald führt im Grunde jetzt als Künstler ein drittes Leben. Sein erstes, als Jugendlicher in Montevideo, endete, als sein Vater, ein gutsituierter Damenfriseur dort, Wind davon bekam, dass er nicht nur zur Schule ging, sondern sich Anfang der Siebziger auch als Aktivist der Tupamaros betätigte und dann von der Polizei verhört wurde. Er sollte schnell verschwinden, zu einer Tante nach Genf. Da begann sein zweites Leben. Nicht mehr vom Vater unterstützt, ohne Kontakt zu den ängstlichen Eltern, ging es 1974 dorthin, wo er über zwei Jahre als Pfleger in einem Krankenhaus arbeitete und seine Frau kennenlernte, danach gemeinsam nach Buenos Aires, doch 1976 gab es den Putsch und die Militärdiktatur in Argentinien, und es zog das Paar für drei Jahre nach München, schließlich nach Brüssel, über ein Jahrzehnt blieb er dort, studierte Fotografie und Grafik, gründete gemeinsam mit einem Freund eine Werbeagentur, die er acht Jahre lang erfolgreich mitbetrieb. Seine Tochter, die heutige Lyrikerin und Dramaturgin Ayna Steigerwald, wurde geboren; auf Dauer war ihm aber ein Leben mit Werbung zu eng, und die klatschenden Agenturvorstellungen zogen ihn hin zu einem puristischen Stil von Aussparungen, zum bewusst Unperfekten, sprich zur Kunst, und auch weil die Einschulung Aynas anstand, fand er sich ein zweites Mal in München ein, wo sein drittes Leben als Hausmann, Sozialpädagoge und Künstler begann. Hier 1993 fand seine erste Ausstellung statt, unter dem Titel „Das Spiegelgrab“.

Links: Ausstellung im Atelierhaus Theresienstraße, rechts: vestigios - Spuren


Links: Das Poema und seine Zeichen,
rechts: Notizkoffer.


Seitdem bezieht er Stände auf alternativen Buchmärkten mit seinen Fotoarbeiten, seinen Cuadernos (Schreib- und Notizkoffern, Heften und Taschen) und seit 2014 auch mit der Zeitschrift mo/men/tos, die in freier Folge erscheint und für Foto- & Textinstallationen da ist, vornehmlich mit Arbeiten von ihm, seiner Tochter Ayna und der Münchner Poetin Désirée Opela, sowie dem Dichter und Literaturprofessor Daniel Graziadei. Hier, mit diesem Kunstkollektiv, werden neue Ausdrucksmöglichkeiten und kooperative Prozesse gesucht, auch Interkulturelles, ebenso zur Musik, zum Film. Aber Steigerwald taucht auch regelmäßig mit mo/men/tos bei Gruppenausstellungen im Atelierhaus Theresienstraße auf oder, wie zuletzt im Oktober 22, beim Bookmarkt im autonomen Köşk Loft München. Er hat zudem auch in Kirchen ausgestellt, und nicht zu vergessen: als Fotograf ist er bei lyrischen Veranstaltungen unentbehrlich. Doch will er im Hintergrund bleiben, in der Gruppe vereint, nicht sich oder seine Arbeiten sonderlich hervorstellen.

„die cuaderno-handtasche (ich nenne alle „cuadernos“) habe ich 2008 angegangen, dann verdrängt; sogar vergessen mit vielen anderen cuadernos, ende letztes jahr habe ich sie wieder „gefunden“ – und jetzt, was da drinsteckt? sind zeichnungen und mit der hand geschrieben, wie alle meine cuadernos (mittlerweile sind über 25 fertig, und ich arbeite gerade noch an sieben, ein paar hatte ich schon 2004 angefangen), und jedes einzigartig bzw. als einzelstück ...    

Seine Mission ist – seit seiner Flucht und den Misshandlungen in Südamerika – das Detektivische, die punktuelle Auffindung, die Sichtbarmachung sowie wieder Löschung von Spuren. Wie ein Ermittler macht er Momentaufnahmen, geht von Situationsräumen aus, die zu Ereignissen führen könnten, ist quasi Schöffe bzw. Zeuge in Sachen Kunst. Genau mit diesen Spuren, die er aufdeckt oder erfindet, mit diesen Ansätzen und überklebten Zeichen,  misstraut er der Sprache, der Aussage und macht lieber Stills, konzise Standfotos, bleibt im Hintergrund, wartet auf die Anordnung der Energien im Raum, auf das sich ergebende Stillleben, statt einer Wortanordnung zu folgen, die aus irgendeinem Mund kommt. So ist er ein Pointilist, aber nicht wie damals die Kunstrichtung für ein zusammenhängendes Puzzlebild, sondern in Auflösung, in einer derangierten Struktur nicht mehr zusammensetzbarer einzelner Zeichen.

Wie Fetzen einer flackernden Lichtreklame bei Regen, fällt mir Hesses Steppenwolf ein, gespiegelt in einer aufgebrachten Pfütze oder als ein gesprenkeltes Menetekel an der nächtlichen Wand – das magische Theater, "Eintritt nicht für jedermann, nur für Verrückte", fällt mir ein. Denn Sprache lässt sich auch als Haufen entgliedern, entgrenzen und sezieren – in Sinnschnipsel oder auch Sprach-Konfetti. Nicht aber wie bei Mallarmé, der mit Lücken und Leerstellen arbeitet, die aber auf einer zweiten Ebene im gewürfelten Wurf zusammenhängen, indem ein rhythmischer Knoten, trotz der äußerlichen Störungen, Sprache als wiederkehrende rhythmische Schleifen vorgibt, als eine aufkommende und wieder verschwindende Form. Für Mario Steigerwald ist ein Gedicht ein Gedicht, aber zugleich ein loser Haufen von Buchstaben, eine geschüttelte oder geworfene Sinnschicht, mit teils überlagerten Zeichen, woraus sich für ihn eine Anordnung von Einzelteilen ergibt, die dem soeben ausgehauchten Gedicht nicht mehr entspricht, mit dem Vorteil, zwar verflogen und nicht mehr fixiert zu sein, aber zugleich Material für ein neues, einen Anfang. Darin steckt im Musikalischen ein bisschen das, was Hamel und Cage beim Komponieren mit dem I Ging vorhatten, einen dekonstruierten Pointilismus, der aus dem Chaos heraus für den Moment (siehe mo/men/tos) ein Bild, eine Struktur, einen Rhythmus zeigt. Dessen Anordnung oder Klangfolge im nächsten Moment wieder zerfällt und nicht mehr rekonstruierbar ist. Doch Steigerwald geht einen Schritt weiter, macht das kleine Chaos, das sich in der cuaderno-Handtasche befindet, in potentia nutzbar, als Komplex, Gruppe, Spur, als Versuchsanordnung, indem die Tasche einen Henkel bekommt und als inneres Chaos unauffällig mitgenommen werden kann, um – bei Glück, Zeit und Gelegenheit in einer erneuten Versuchsanordnung neue Zeichen und Spuren zu erzeugen. Vielleicht lebenswertere.

Kristian Kühn


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