Daniel Ableev: Rotköpfchen
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Daniel Ableev
Rotköpfchen
Eines Tages wurde Rotköpfchen von Mama beauftragt, die
Großmutter zu besuchen und ihr einen Korb mit Käse, Brot, Obst, Gemüse, Kuchen
und Paolos Rotring vorbeizubringen. „Aber bitte bleibe auf dem Hauptpfad, geh
ja nicht in den wilden Wald, sondern direkt zur Oma“, ermahnte sie das kleine
Ding, welches artig nickte und sich sogleich auf den Weg machte.
[…]
„Hallo, kleines Rotköpfchen, wie gehts uns denn heute?
Wieder zur Großmama unterwegs?“, wollte der riesige Wolf wissen. „Vielleicht
sollte ich dich auf deinem nicht ungefährlichen Weg sicherheitshalber begleiten
und dir dabei en passant eine tolle Abkürzung mitten durch den Wald zeigen“,
schlug der Wolf vor, nahm Rotköpfchens Korb und ging voraus.
[…]
Genau 9 Minuten und 37 Sekunden später standen die
beiden vor Großmutters gemütlicher Hütte und klopften an die Tür. „Ach, meine
süße Enkelin und der Herr Wolf, herzlich willkommen, ihr beiden!“, sagte die
Großmutter, als sie die Tür öffnete. „Kommt herein, wir wollen Tee trinken und
Kuchen essen, es gibt ganze drei Sorten zur Auswahl!“ „Klingt verlockend“,
antwortete der Wolf dankbar, „aber heute habe ich gar nicht so viel Zeit, weil
ich noch meinen Wettbewerbsbeitrag fertig machen muss, an dem ich schon seit
über einem Monat feile.“ „Ach ja, ganz der Dichter, wie schön. Aber ein halbes
Stündchen werden Sie für eine so angenehme Gesellschaft wie uns doch wohl
entbehren können, oder? Was sagst du, Rotköpfchen?“ Rotköpfchen nickte artig,
und der Wolf sah ein, dass Widerstand an dieser Stelle zwecklos war.
(Ableev behauptet, er wollte gern, angesichts schwieriger Zeiten, das Diktum "Gute Literatur/Kunst braucht immer einen Konflikt" hinterfragen und habe deshalb versuchsweise ein "obskures jenisches Märchen" neu interpretiert.)