Dagmara Kraus: wehbuch (undichte prosage)
Jan Kuhlbrodt
Spiel mir das Lied vom Tod
Die Mundharmonikasequenz in der hier zitierten Filmmusik von Ennio Morricone reproduziert das klagende Weh und schließt es mit der Popkultur kurz. Nun befinden wir uns in Zeiten des Postpop und der Postmoderne. Dass heißt die Pegel stehen überdreht und in das künstliche Rauschen fügen sich fast unvermeidlich Rückkopplungen. Begeleitgeräusche der zerstückelten und wieder zusammengefügten Geschichte. In diesem Klangfeld zerfasert natürlich auch die Sprache. Auch sie hat sich als unzuverlässig erwiesen, hat damit Autorität eingebüßt. Man könnte meinen, ihr wäre nur noch zu trauen, wo sie auf Semantik verzichtet. Im Wehgeschrei zum Beispiel. Aber so einfach ist das nun auch wieder nicht.
Als Roughbuch 36 ist jüngst Dagmara Kraus' Wehbuch erschienen. Auf dem Cover finden sich Buchstabenfolgen, die man im Kontext des Titels schnell als altgriechisch klagende Klangfolgen erkennt.
papai mu au
papai mu au
In der Antike hatte man die wundervolle Einrichtung der Klageweiber. Es war ein Beruf, der den Angehörigen der Verstorbenen sozusagen die Trauer und das Wehgescheschrei am Grab abnahm.
Sie wurden bestellt und je nach Vermögen des Verstorbenen erklangen die die Klagegesänge mal lauter, mal leiser. Von dieser Tradition ist nicht allzu viel übrig geblieben, vielleicht nur der Rest in Form einer Trauerrede durch einen Geistlichen oder einen säkularen Trauerredner. Nach einer kurzen Unterhaltung mit den Hinterbliebenen wird ein Redetext gefertigt, dessen Inhalt im wesentlichen darin besteht, dass der oder die Tote gelebt hat, und dass dieses Leben jetzt aus und vorbei sei.
Die Trauer wird im Regelfall in die Privatsphäre delegiert. Allzu öffentliches Weinen gilt als unschicklich und peinlich. Bei aller Trauer.
Lustvoll aber spielt Kraus den Gedanken der Berufstrauenden aus und durch, bis in die letzten Eigenarten des Klagegeschäfts. Dabei mutet der Aufbau des Ganzen sehr streng an. In XV römisch nummerierten Kapiteln geht die Autorin dem Klagegeschäft und der Klagesgeschichte in Versen, aber quasi wissenschaftlich nach. Die Kapitel sind in 38 arabisch bezeichnete Unterpunkte gegliedert, und ähnlich wie Wittgensteins Tractatus in weitere Unterunter- und Unterunterunterpunkte.
21.1.1.1.1.1.1.
mit veschränkten phalangen
der bahre vorangehen
dahiter Kinder
spielen fangen
Dagmara Kraus liefert nun in ihrem Wehbuch zweierlei. Einmal eine Anleitung zum Nonverbalen Geschluchze, dass das Trauern nur so eine Freude ist, und andererseits eine vollkommen abgedrehte Abhandlung über die Geschichte und Praxis des Wehgeschreis inklusive einiger Benachbarter Sachverhalte, wie zum Beispiel die Mullbeschaffung in China hinsichtlich ägyptischer Mumifizierungsvorlieben. Großartig!
Dagmara Kraus: wehbuch (undichte prosage), hrsg. von Urs Engeler. Berlin und Schupfart (roughbook 036), 2016. 110 Seiten. 10,00 Euro.