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Christine Wunnicke: Missouri

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Stefan Hölscher

Christine Wunnicke: Missouri. Roman. Berlin (Albino Verlag – Salzgeber Buchverlage) 2020. 112 Seiten. 16,00 Euro.

Extrem schräge Geradlinigkeit


Der eine ist ein höchst seltsamer Dichter. Ursprünglich Gerichtsschreiber, verabscheut er die Dichtung: „Es graute ihn vor der Poesie. Es graute ihn vor Dichtern.“ Aber er will sie revolutionieren; und vor allem will er berühmt werden, was ihm, Douglas Fortescue, mit einem „Gedicht von zweiundzwanzig Seiten“ 1832 in London auch schlagartig gelingt. Sein Ruhm wächst, er schreibt weitere Werke; doch er schreibt sie auf eine sehr ungewöhnliche Weise: Bei nächtlichen Zusammenkünften in seiner Villa, die das mit dem Ruhm verbundene Einkommen ihm zu erwerben möglich gemacht hat, lauscht Fortescue, was seine durch Alkohol und alle möglichen anderen Rauschmittel in besondere Geisteszustände gebrachten Gäste – allesamt junge Männer – von sich geben: und er schreibt es auf. Ein paar Jahre später, als Fortescue sich von diesem wilden Leben und der Dichtkunst, der gegenüber er sich nun als „Pensionär“ sieht, schon zurückgezogen und der „Lichtbildnerei“ zugewandt hat, wendet sich die Londoner Gesellschaft, als nähme sie dem attraktiv-skandalösen Dichter seinen Rückzug übel, gegen ihn: es wird ihm „Betrug“ und „Sodomie“ vorgeworfen. Auf Anraten seines ihm in Hassliebe treu verbundenen Bruders Jeremy, der Douglas und seinen Haushalt managt, fliehen beide nach Amerika.

Der andere gilt als meistgefürchteter Bandit. Er redet kaum und kann Gefühle, egal ob negative oder andere, nur durch laute Schreie ausdrücken; aber er kann schießen. Er hat es von klein auf von seinem Vater Cyrus, ebenfalls berüchtigter Bandit, gelernt. Und er kann es so gut, dass er noch als Teenager in die Fußstapfen seines gerade gehenkten Vaters als Anführer der kleinen, aber hoch gefürchteten Räuberbande, bestehend aus Absolum, Zadock und Paradise, tritt. So ungewöhnlich wie der besondere Schreibprozess des Dichters Fortescue, so ungewöhnlich ist allerdings auch eine Eigenheit des rohen und blutbadverbreitenden Banditen Joshua Jenkins: Er liebt die Dichtkunst – obwohl er sie in keiner Weise versteht. Sein erster erschossener Mann, ein Landvermesser, den ihm, dem gerade Sechsjährigen, sein Vater eigens als erstes Schießübungsziel, „gefangen“ hatte, trug ein Buch bei sich: „Oh, ein Buch, sagte Cyrus verächtlich, du hast einen mit Buch erwischt.“ Und dieses Buch erweckt Joshuas Begehren. Er bittet den „Professor“, „eine Art Wundarzt“ seines Vaters, ihm daraus vorzulesen, was dieser, um nicht von Cyrus deswegen erschossen zu werden, nur zwei Zeilen, einen Satz lang, wagt. Dieser Satz aber, angeblich aus „Lord Byron, Collected Works, Volume Two“, tut es Joshua an:

If solitude succeed to grief
release from pain is slight relief -“

„Er verstand ihn nicht, aber er war Geheimnis und Trost und Gesellschaft, und man konnte sich still unterhalten mit dem Satz, wenn sonst niemand mit einem reden mochte.“ Später gelangt Joshua Jenkins an ein Buch von Douglas Fortescue. Da er einen Pfarrer zwingt, ihm das Lesen beizubringen, kann er das Buch nun selbst lesen. Verstehen tut er es nicht. Aber er liest es so oft, dass er es auswendig kann, und er sorgt dafür, dass er fortan alles, was an Büchern vom Dichter Fortescue aufzutreiben ist, auch in seine Finger bekommt.

Weil Fortescue mit seinem Bruder nach Amerika flieht und die Postkutsche, in der sie später reisen, von einer Räuberbande überfallen wird, und weil diese Bande die von Joshua Jenkins ist, finden diese zwei hoch seltsamen Vögel zusammen. Und zwar, wie sich mehr und mehr zeigt, in jeder Hinsicht von „zusammen.“ Es entwickelt sich aus dem, was als Geiselnahme beginnt, eine vollkommen unbeholfene und absurde Liebesbeziehung. Eine unaussprechliche und natürlich auch gesellschaftlich unlebbare Romanze, die eine tragische Zuspitzung vorprogrammiert.

Christine Wunnickes Erzählung „Missouri“ entstand schon Mitte der neunziger Jahre und wurde in leicht veränderter Form Teil ihres Debutromans „Fortescues Fabrik“, der 1998 erschien. „Missouri“ wurde danach eigenständig publiziert, war aber die letzten Jahre vergriffen und ist – pünktlich zur Vergabe des Literaturpreises der Stadt München sowie des Wilhelm-Raabe-Preises an Christine Wunnicke – im Albino Verlag neu herausgegeben worden. Dankenswerterweise, denn „Missouri“ ist wunderbar: ein extrem schräger, aber in keiner Weise alberner, sondern spannender Western; es ist ein absurdes Stück über die Unmöglichkeit von Gespräch und Verständigung in einer – nur einen historischen Steinwurf von unserer entfernt – absolut verrohten Welt; es ist eine zarte und kitschfreie Romanze, und eine Bruder- und Beziehungstragödie ist es auch. Erzählt in lakonisch-knappen Worten, gemeißelt klar und phantasietreibend zugleich. Ultimativ wie ein Schuss von Joshua Jenkins und reiche, innere Bildwelten erzeugend wie die Poesiekollektionen von Douglas Fortescue:

Nein, dachte Josh, Tod und Teufel, und ja, dachte Josh, Tod und Teufel, ja. Fortescue hinter ihm, über ihm, nah, viel zu nah, ein Mann, und er selbst ohne Waffe – und Fortescue in ihm, ein scharfer Schmerz, Joshua biss in seine Knöchel, und da war Fortescues Hand, und Joshua biss in Fortescues Knöchel, und dann öffnete er Fortescues Hand und tat sie hin, wo er sie haben wollte, und Schmerz und Entzücken vermischten sich, und Joshua wollte mehr davon, mehr von Fortescue, alles, und er sagte ja, und Fortescue sagte Joshua, und dann war es vorbei.

Aber in den Beiden entsteht der Wunsch nach „noch einmal“ – was immer das ist oder sein soll. Die beiden Helden könnten das gar nicht sagen. Sagen aber lässt sich gewiss: „Missouri“ lesen und miterleben, dabei mitleiden und mitschmunzeln, kann man einmal und auf jeden Fall auch mehr als einmal.


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