César Vallejo: Mein Selbstportrait - im Licht des historischen Materialismus
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César Vallejo
Mein Selbstportrait
im Licht des historischen Materialismus.
Aus "El arte y la revolución"
(1924 - 1928)
übersetzt von Ivor Joseph Dvorecky
Ein Portrait muss die Essenz eines Lebens beinhalten,
das heißt, die an sich uneingeschränkte Persönlichkeit, ihre vergangene,
zukünftige und gegenwärtige Erscheinung, kurz, die gesamte Rolle
eines Lebens. Der Künstler wird im Mysterium dieses Lebens
herumstöbern, wird sowohl seinen dauerhaften wie wechselnden Sinn
für die Schönheit entdecken, und er wird das durch Linien, Farben,
Flächen, Bewegungen, Reihen oder Richtungen spürbar machen. Ein Portrait,
das sind die Daten aus einem Orakel, Chiffren einer Prophezeiung,
die Erklärung eines Geheimnisses und das Ans-Licht-Bringen einer
Fabel. Alles das macht den Charakter eines Portraits aus.
Doch das Erstellen eines Portraits hat, wie alle
Schöpfungen, eine heroische Seite. Dieser Heroismus entspringt der
Schlacht zwischen der prinzipiellen Unbeschränktheit eines Lebewesens, oder besser
seines Charakters, der durch den Künstler enthüllt wird, und
der Situation oder der Lebensumstände dieses Wesens in Raum und
Zeit. Diese Situation, diese Endlichkeit ist seine Gestalt, das,
als was sie erscheint. Der Künstler wird die Aspekte dieses
Konflikts gemäß seinem Empfinden herausarbeiten. Und dabei dürfen die in Raum
und Zeit stattfindenden Umstände, innerhalb der uns die
Unendlichkeit eines solchen Lebens auf unerwartete Weise begegnet, nicht
bis zu dem Punkt untergeordnet werden, dass man die Person im Portrait
nicht wiedererkennt. Ein gewisses mysteriöses Gleichgewicht
zwischen dem, was sichtbar ist, und dem, was unsichtbar bleibt in
einem Portrait, zwischen den Wechselfällen und dem Bleibenden, oder,
was auf dasselbe hinausläuft, zwischen Erscheinung und Charakter, das
ist das, was die Größe einer künstlerischen Erschaffung ausmacht.
Charakter und Erscheinung sind die umkämpften Werte
eines Portraits, und deswegen harmonisieren sie miteinander und
durchdringen einander. Der empfundene Reichtum eines Portraits
entspringt diesen beiden Kräften. Sie bilden die These und die Antithese
der dialektischen Bewegung in dieser Kunst.