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Bertram Reinecke: Daphne, ich bin wütend

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Meinolf Reul

Bertram Reinecke: Daphne, ich bin wütend. Leipzig (Poetenladen Verlag) 2024. 164 Seiten. 19,80 Euro.

Mehr als Barocktinte. Neue Gedichte von Bertram Reinecke


„Das Montieren von neuen Texten aus unveränderten Zeilen anderer Werke bildet das Herzstück meiner Arbeit“. – Bertram Reinecke

„Aber Pantum erklärst du noch?“, fragte Verleger Andreas Heidtmann seinen Autor Bertram Reinecke anlässlich einer Lesung bei der Leipziger Buchmesse. Der wiegte bedenklich den Kopf und tippte auf sein Handgelenk: Der Auftritt war sowieso schon knapp angesetzt. So erzählte es der Autor bei einer großzügiger bemessenen Lesung in Berlin.

Wer Daphne, ich bin wütend zur Hand nimmt, weiß da schon Bescheid. Strenge Gedichtformen werden verwendet – neben Pantum weitere Montage-Typen, Sonett, Vokalsestine und Haiku –, und man hat viel zu lesen, hundertsiebzig Seiten, „ne Menge Holz“ (E-Mail an mich, 11.5.2024).

Zur Beschwichtigung und Ermutigung sei vorausgeschickt, dass die in sieben Kapitel unterteilten Gedichte nur die ersten hundert Seiten einnehmen. Danach folgt ein Anhang mit
- Anmerkungen und Register,
- einer Nachbemerkung von Jan Kuhlbrodt, der gemeinsam mit Jayne-Ann Igel die Reihe Neue Lyrik im Poetenladen Verlag herausgibt,
- und einem Essay Reineckes: „Jedes Gedicht laboriert an seiner eigenen Sprachnot – Zur Poetik und dem Gespräch darüber“,
- nebst Dank.
Im August 2021 verbrannten große Flächen der griechischen Insel Euböa, zahlreiche Dörfer wurden ein Raub der Flammen: Farakla, Limni, Murtia, Kechris, Daphne und andere. Kurz zuvor hatte sich zusätzlich auf dem grie-chischen Festland eine Feuersbrunst entwickelt, die Athen bedrohte und deren Bekämpfung Priorität eingeräumt worden war.
     „Ich bin wütend – ich habe mein Zuhause verloren“, zitierte die deutschsprachige Presse damals einen Bürger Euböas. „Man hat uns brennen lassen.“
        Der Buchtitel, Daphne, ich bin wütend, kombiniert den geographischen Namen, Daphne, und den O-Ton, „Ich bin wütend“, und bildet daraus eine eigen-sinnige Einheit, die ihre Konstruktion geschickt verbirgt:
Das (lyrische) Ich wendet sich an Daphne, die in einen Lorbeer verwandelte Nymphe, oder präziser: an die Dichtung, die seit alters her mit dieser Pflanze verbunden ist, man denke an den poeta laureatus, oder an die Laura bei Petrarca, Symbol des dichterischen Ruhms, Petrarcas wahre Besessenheit, und klagt ihr sein Leid.
     Daphne wird durch die vermeintliche Affektgeladenheit der Aussage gleichsam in die Gegenwart katapultiert.

Was der Titel im Kleinen vorführt, setzen die Gedichte im Großen fort.

Wuchtig, komplex, geht es mit „Nachtwachen“ los.
   Unter dieser Überschrift sind vier Pantum-Gedichte zusammengefasst, die auf Bruch-stücken aus zeitgenössischer deutschsprachiger Poesie basieren; auch Verse älterer Werke wurden auf Verwendbarkeit hin abgeklopft; selbst eine Kritik von Harald Hartung wies die gewünschten fünfhebigen Syntagmen auf.

„Der Zyklus lässt sich als Abbild des Gedankenprozesses beim Einschlafen auffassen. Während der erste Text noch ein poetologisches Gedicht im fast herkömmlichen Sinne darstellt, beginnen sich im Weiteren immer reichere und entlegenere Bilder zu verschränken.“ (Bertram Reinecke)

Geröll der geschichte die dichterstimme: zu nachtwachen
Erblühen aus den relikten der avantgarde
Liebstöckel, herzenstrost und immenblatt
Nicht grün die blätter, nein, von düstrer farbe.
(Nachtwachen I, erste Strophe)        

Aber Pantum erklärst du noch?

Das Pantum ist eine ursprünglich mündlich vorgetragene malaiische Gedichtform, die später verschriftlicht wurde. Seit dem 19. Jahrhundert existiert sie auch in den Literaturen Frankreichs, Englands und Deutschlands. Ihr Kennzeichen ist, dass der erste und der dritte Vers einer Strophe in der nachfolgenden Strophe als zweiter und vierter Vers wiederkehren, und so weiter. In der letzten Strophe werden der zweite und vierte Vers der Anfangsstrophe wieder aufgenommen. So ergibt sich ein dichtes Geflecht mit einer Schleife am Schluss, vereinfacht gesagt.

Auch deinem Mund ist scheu und dumpf entglitten
Geröll der geschichte, die dichterstimme zu nachtwachen –
Auch natterkopf, hauhechel wächst umher
Liebstöckel, herzenstrost und immenblatt.
(Nachtwachen I, zweite Strophe)
         
Die Pantumuri sind ein Grenzfall innerhalb der collagierten Gedichte Reineckes, weil die Charakteristika seiner Arbeitsweise, Fremdzeilen ihrer ursprünglichen Zusammenhänge zu entkleiden und neue, eigene Gedichte aus ihnen zu bilden, in ihnen noch einmal potenziert werden. Denn der, bezogen auf seinen (primären) Gedicht-Ursprung, bereits dekontex-tualisierte Vers, mit dem das Pantum-Gedicht beginnt, und der wortgleich in der zweiten Strophe wiederkehrt, steht dort in einem anderen Zusammenhang, muss sich in eine andere Sinn-Umgebung einfügen, die seinen semantischen Wert abermals verschiebt.

Diese vertrackte Art, ein Gedicht zu schreiben, würde bei ungeübten Schriftstellern wahrscheinlich zu Ergebnissen führen, die schwergängig sind, bei denen jeder Vers, jeder Übergang knirscht und stockt, und wo eines nicht zum anderen passt.
        Bertram Reinecke ist aber ein Meister der Form. Textmontagen, wie er sie spätestens seit Sleutel voor de hoogduitsche Spraakkunst (2012), seinem dritten Gedichtband, schreibt, sind keine plumpe Kulissenschieberei, sondern eine minutiöse Operation, in der akribische Vorbereitung, Akkuratesse und hochgespannte Konzentration zusammengehen (müssen), um die geschmeidigen Amalgame hervorzubringen, die uns hier als originale Dichtungen vorliegen. So disparat die Quellen – Reinecke hat seinen Blick für das geschult, was er „poetische Synonymie“ nennt, und ein Gespür für „Atmosphären in der Dichtung“ entwickelt. Seine Vorauswahl, als Kompositionsskizze, schafft die Bedingung dafür, dass im jeweils ausgeführten Montagegedicht die diversen Partikularitäten schlüssig zusammenkommen und sich darin wie in ihrer natürlichen Umgebung bewegen.
   Der Autor beschreibt im Nachwort, dass er wochen-, manchmal monatelang Materialcorpora von bis zu 90.000 Einzelzeilen durchkämmt (eine geradezu erschreckende Zahl), um geeignete Verse für seine Montagen zu finden. Den billigen Vorwurf, das, was in diesen ausgedrückt ist, müsse so oder anders im Ausgangsmaterial bereits präfiguriert sein – wo sei da also die Kunst? –, weist der Autor von sich. Wäre es anders, er bekäme es mit den Justitiaren der Partei DIE LINKE zu tun, deren Parteiprogramm und andere parteispezifische Skripte er ausgeschlachtet hat, um daraus einen „irren Gegengesang“ zu kreieren, der die ursprünglichen Aussagen in ihr Gegenteil verkehrt:
    „Wir wollen Reiche und Reichtum, Millionäre / Milliardäre, Kapitalvermögen / Verteidigen – die uns am Herzen liegen, die Lobby / Ausbauen und verbessern. Wir stehen für // Den Eingriff in Bürger- und Menschenrechte / ...“ („Gemeinsam können wir Politik entwickeln“).

Ein weiterer Grenzfall von Bertram Reineckes Montagen sind die Gedichte, die sich alten Wörterbüchern widmen: „eine Montage eher im Sinne des Kompilierens“, wie es in den Anmerkungen heißt. Geht es ihm sonst darum, Denotationen und Konnotationen des Ausgangsmaterials zu camouflieren, Bedeutungen umzudeuten, so streichen die Gedichte von „Sleutel voor de hoogduitsche Spraakkunst, neue Folge“ und „Lehrbuch für Dolmetscher; Russisch 1943“ den Inhalt der jeweiligen Lehrwerke heraus, akzentuieren ihn. Im letzteren Fall ist die Wirkung beklemmend, im ersteren erheiternd: „Haben Sie das gute Pferd des guten Bäckers? – Ich habe es.“

Speziell der im Titel aufgerufene Themenkomplex wird in einer engagierten Tetralogie über globale Krisen, die man aus Bequemlichkeit sich angewöhnt hat, „griechisch“ zu nennen, breiter ausgeführt.
      „Die gedichte können nicht mehr schön sein, gelangt weinen auf das papier“, „Vasilis, müllsammler“ (Schuldenkrise), „Moria – hinter den maschen“ (Flüchtlingskrise), und „Euböa – griechische feuer“ (Klimakrise) kontrapunktieren unveränderte Zeilen meist zeitgenössischer griechischer Gedichte, die nur hinsichtlich Rechtschreibung und Inter-punktion angepasst werden, mit Aussagen von Betroffenen. Es ist Reineckes Ziel, die Schiefheit, dass medial oft über Menschen gesprochen wird, sie selber aber kaum zu Wort kommen, zu korrigieren.
     Dokumentarische Anklage und Zeugenschaft, der verfremdende Effekt der zitierten Gedichte, die wirklichkeitssteigernde Kraft der Künstlichkeit oder Konstruiertheit, wie sie Montagen eignet: Reinecke zeigt, was politische Dichtung vermag, die nicht bei den Schlagzeilen stehenbleibt, die ein Gehör für das Leid der Kreatur hat und ein Gespür dafür, dieses im Gedicht nicht zu verraten. Die exponierte Platzierung dieser Texte an den Schluss von Daphne verrät, wie wichtig Reinecke diese Spielart der Poesie ist. (Im Nachwort bekennt er: „Ich schätze es ja, wenn das seit Jahrzehnten stereotyp verunglimpfte gesellschaftskritische Gedicht heute wieder wachsenden Zuspruch genießt.“)

Trotz, oder wegen, ihrer strikten formalen Regeln, zeichnen sich Reineckes Gedichte durch eine erstaunliche Facettenvielfalt aus. Hinzu kommt ein feiner, sanft-ironischer Witz, der bei Bedarf in idyllischen Graus übergehen kann („ein zwangloses arrangement / Brennender häuser, ein weltuntergangsstilleben.“).

Ob sich der Autor einen Gefallen damit getan hat, seinen Gedichten einen knapp dreißigseitigen, in fünfzehn Kapitel gegliederten Essay samt zweiundsechzig Fußnoten anzuhängen, bleibe dahingestellt. „Jedes Gedicht laboriert an seiner eigenen Sprachnot – Zur Poetik und dem Gespräch darüber“, so heißt dieser Programmtext. Bertram Reinecke erläutert darin seine poetischen Verfahren, skizziert das Panorama der Lyrik heute und kreuzt an, wo seine eigene Position darin zu finden ist (eher beiseitestehend). Darauf bedacht, niemandem zu nahe zu treten, werden doch Skepsis und Kritik hinsichtlich bestimmter Tendenzen formuliert. Leider bleibt Reinecke Namen oft schuldig, so dass seine Beobachtungen für den, der im andauernden Gespräch der Community nur punktuell zugeschaltet ist, mitunter abstrakt bleiben. Es ist dann, als schlage ein geschärftes Schwert in eine Nebelbank.

Vielfach scheint der Humor des Dichters auf, beispielsweise wenn er einen Druckfehler der Zeitschrift Die Horen, die den Sinn eines Gedichttitels von Brigitte Oleschinski durch ein überzähliges n verfälscht wiedergab, in einem Haiku aufspießt: „Die Ohren ohne / Hymen geboren, ohne / Hymnen die Horen“, oder als – mies bezahlte – Auftragsarbeit, passender-weise zum Lessing'schen „Die Kunst geht nach Brot“ (aus Emilia Galotti), folgende Vokalsestine ablieferte, mit deutlichem Wink auf seine Verschnupftheit:

Verstimmte Sestinen

Alles im Lot. Kunst
Nutzt als Show, denn
In sich ruht wer hat. Lohnt
Stolz? Wird dadurch Mehr-
Wert? – Wohl nur im Wahn!
Lass Lessing doch ruhn!

Klagen ist Tortur
Kunst war so schlecht nie
Die Kunst geht nach Brot?
Oh, ich lach. Kunst strebt
Sehr hoch. Und sie fragt
Nach mehr: Will och die Wurscht.

Auch die konsequente Sachlichkeit hinsichtlich der Gattung Gedicht und des Umgangs damit gehört für den Rezensenten dazu: den gängigen Begriff „lyrisches Ich“ für sich ablehnend, spricht Bertram Reinecke lieber von „Sprechinstanz“. Hochgespannten Erwartungen an das Gedicht als genialen Wurf oder göttliche Inspiration („Wo der Verstand dabei ist, scheint das Beste der Dichtung schon verflogen“) tritt er entgegen, indem er das Machen, die Arbeit des Schreibens, betont. Keine Kunstreligion, kein Weihrauch, kein Altar für das Gedicht, auch keine Deutungs-Exerzitien – Bertram Reinecke zieht die ungenierte „Ingebrauchnahme“ vor: Hier, Leser, sind meine Gedichte. Nun lies! Keine Angst, es gibt kein Vertun, „denn hier liegt nichts versteckt.“

Anspieltipps: Nachtwachen I, Baubericht Babel, Die Wolken tun sich färben, Rondo, Hohenschönhausen, Mit bloßen Händen eine Fliege fangen, Halbe Strecke, Als wir den Namen wussten (Elbe bei Dresden), Die Gartenfeuer, Noch waltet tiefes Schweigen, leinenwurf im seetang, Verstimmte Sestinen.


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