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Ben Lerner: Warum hassen wir die Lyrik?

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Kristian Kühn

Ben Lerner: Warum hassen wir die Lyrik? Essay. Übersetzt von Nikolaus Stingl. Berlin (Suhrkamp Verlag, edition suhrkamp) 2021. 100 Seiten. 14,00 Euro.

Das Wesentliche abseits des Gefiedels
oder Wie man Gedichte loswerden kann


Ich feiere mich selbst und singe mich selbst,
Und was ich mir herausnehme, sollst auch du dir herausnehmen,
Denn jedes Atom, das mir gehört, gehört ebensogut auch dir.
      
Mit diesen drei berühmten Zeilen aus Sozialismus und östlicher Weisheitslehre, vom Ich zum Wir, beginnt Ben Lerners vieldiskutierter Essay „Warum hassen wir die Lyrik?“ (The Hatred of Poetry, 2016) nicht, sondern er setzt, statt auf Walt Whitmans „Gesang von mir selbst“, auf den er im Mittelteil seiner Abhandlung dann gern zu sprechen kommt, also dann, wenn es um die Negation der Negation geht, um die Umwanderung des nicht erreichbar Echten, um die Qualifikation des Talents und um das Lächerliche der Nicht-Talentierten, sondern er setzt zu Anfang auf die ebenso enthusiastische Marianne Moore. Ihr ist der erste Teil ihrer ersten Strophe des Gedichts „Poetry“ vorbehalten, den sie in ihren späten Jahren als endgültiges gesondertes Gedicht freigegeben hat, wobei Poetry ja zu Deutsch auch mit Poesie, Dichtung übersetzbar ist, bei Nikolaus Stingl aber durchweg mit Lyrik wiedergegeben wird (auch beim Titel: The Hatred of Poetry):

Ich mag sie auch nicht.
   Wenn man sie jedoch mit absoluter Verachtung für sie liest, entdeckt man in
   ihr am Ende doch einen Ort für das Echte.    

I, too, dislike it.
***Reading it, however, with a perfect contempt for it, one discovers in
***it, after all, a place for the genuine.

Wobei mit dem Wort „genuin“ nicht nur das Echte anklingt, sondern auch der ganze Streit um den Geniekult und das Erkennen des Ursprünglichen. In der längeren Fassung des Gedichts hieß es noch (Übersetzung Eva Hesse:)

Ich mag sie auch nicht: das Wesentliche liegt abseits von solchem Gefasel.
  Liest man sie aber voller Verachtung durch, so entdeckt man,
  daß hier trotz allem Raum ist für Echtes.    

I too, dislike it: there are things that are important beyond all this fiddle.
    Reading it, however, with a perfect contempt for it, one discovers that there is in
    it after all, a place for the genuine.

Wobei ich Lerners Legende, mit der er seinen Aufsatz beginnt, dass er in der Neunten – wie alle anderen beim Auswendiglernen von Lyrik – nicht auf ein Sonett von Shakespeare zurückgreift, sondern diese drei Zeilen wählte, ihm nicht ganz abnehme, doch egal, er ist ja seit The Topeka School (2019 – Die Topeka-Schule, Suhrkamp, 2020, auch übersetzt von Nikolaus Stingl) ein erfolgreicher Romancier.

Und das ist es vielleicht ein wenig, was mich an diesem spannenden, locker geschriebenen Buch auf Abstand hält, das akademische Standing der amerikanischen Elite zu den Dingen der Welt, von einem Wir zu reden, und doch immer das Ich im Blick als etwas Besonderes, als gehörte ihnen die Richtung und sie hätten nur zu überprüfen, wer mit ihnen richtig liegt und wer falsch. Allein schon die Verdichtung der Gefühle auf Hass hin, wenn man als Dichterin, als Dichter auf Ablehnung, oder schlimmer noch, auf Desinteresse trifft, oder auf Selbstzweifel, war auch für den Rezensenten der New York Times, David Orr, 2016, überspitzt (Do People Hate Poetry? According to Ben Lerner, Yes)*.
       Und er kommt zu dem Schluss, dass Lerner oft über „poetry“ redet, obwohl er recht eigentlich eine sehr spezielle Art von Gedicht meint. Und dass gerade diese Art zeitgenössischer Poesie tatsächlich, um es milde auszudrücken, unpopulär ist, und diese Unbeliebtheit wahrschein-lich noch zunehmen wird.**
        Sicher hat Orr im Großen und Ganzen mit seiner Beurteilung recht, dass Lerner selber hochgestochene filigrane Denkmuster in seine Gedichte verpackt, er ist ja nebenbei auch Professor für Englisch, gemäß der uns auch seit Jahren angebotenen Hochlyrik, die dann auch noch mit dem Siegel des „No Art“ versehen wird, um sich zwar komplex, akademisch, rhetorisch, aber dennoch bescheiden und ansprechbar zur Schau zu stellen.***

Was zurück zum Anfang führt, zum sogenannten „poetischen Denken“ der Postmoderne. Und so kommt es nicht von ungefähr, dass auch Lerner mit einem Gedichtband debütierte, der The Lichtenberg Figures (2004) hieß und dann 2011 bei luxbooks auf Deutsch (übersetzt von Steffen Popp) zweisprachig herauskam und sich auf hochästhetische farnartige Muster bezieht, entdeckt von Georg Christoph Lichtenberg, die im Staub auf der Oberfläche einer geladenen Isolator-Platte entstehen. Es ist dies zugleich das Prinzip der Fotografie, der sog. Blitzaufnahme.

Im Vorwort zu der deutschen bei Suhrkamp 2021 erschienenen Ausgabe von No Art, Ben Lerners Gedichtsammlung, bestehend aus den Originalbänden The Lichtenberg Figures, 2004, Angle of Yaw, 2006, und Mean Free Path, 2010, sowie der Gedichte Index of Themes und No Art, allesamt übersetzt von Steffen Popp, in Zusammenarbeit mit Monika Rinck, schreibt Alexander Kluge in seinem Vorwort:

„Poetik hat auch mit Architektur in den Köpfen zu tun. Zugleich geht es um Straßenbau des Geistes.“

Ja, wie gesagt, Lerner ist in diesem Poesie-Essay, der mit dem Gedichtsammelband 2021 auf Deutsch herauskam, sehr prosaisch, fast umgangssprachlich und einnehmend, eben weil immer auch rhetorisch, sprich in mitschwingender Absicht. Und deshalb hat er die Kurzfassung des Gedichts von Marianne Moore an seinen Anfang gesetzt, er hätte (mit dem längeren Gedicht) auch bei ihr bleiben können, wählt aber einen anderen, lustigeren und damit anschaulicheren Erklärungsweg, warum uns die Lyrik ärgert, beschäftigt, fertig macht.

Ich mag sie auch nicht. Das können eigentlich alle sagen. Ähnliches sagt auch Martin Scorsese über seine Muster, wenn er zum ersten Mal den Rohschnitt sieht. Das ist nicht, was er gedreht hat, zumindest nicht, was er beim Drehen vorhatte, oder was er zu drehen glaubte. Man ist entsetzt über den Unterschied von Vorstellung und Absicht sowie dann der plötzlich konkret belichteten Realität, die nur ein Abklatsch ist der Innenwelt, aber auch der Erinnerung vom Geschehen am Drehort bzw. am Schreibtisch. Hier wird etwas „gedreht“ im Sinne von umgedreht. Die Realität zeigt ihre andere Seite, die Magie des innerlich aufgehenden Augenblicks ist futsch. Verachtung macht sich breit. Misstrauen. Ben Lerner fährt fort: „Und auch beim verächtlichen Lesen gewinnt man das Echte nicht.“

Als Beispiel dieser Diskrepanz von dem geplanten Gedicht hin zur Gestaltung geht er auf das Erlernen der Kunst im Traum ein und zitiert Bedas Historia, der von Caedmon (dem ersten englischsprachigen Dichter) als einem unwissenden Schafhirten spricht, der aufgefordert wird, Gott zu besingen, bzw. den Anfang der Schöpfung“, und siehe, Caedmon öffnet den Mund und zur eigenen „Verblüffung strömen herrliche Verse zum Lobe Gottes hervor.“ Doch es war nur ein Traum, Caedmon erwacht, aber das Gedicht, das er beim Erwachen dann der Gemeinschaft vorträgt, ist laut Beda nicht so gut wie das Gedicht, das er im Traum gesungen hat, „denn Lieder, und seien sie noch so gut verfertigt, können nicht Wort für Wort von einer Zunge in die andere übertragen werden, ohne dass es ihrer Anmut und ihrem Wert Abbruch tut.“

Nun, nach Beda und Caedmon geht Lerner mit dem, was er vorbringen bzw. zur Diskussion stellen will, über zu dem amerikanischen Caedmon-Deuter Allen Grossman, selber Dichter, Kritiker und Professor, der dieses Manko von Lyrik darin sieht, dass der Mensch nicht zum Transzendenten gelangt, sondern in „Gewalt und Differenz“ verstrickt bleibt.
       Lerner, der stets daneben bleibend mitgeht, fasst zusammen: „Wegen dieses transzendenten Drangs wird man dazu bewogen, ein Gedicht zu schreiben, fühlt man sich berufen zu singen. Aber sobald man von diesem Drang zum konkreten Gedicht übergeht, wird das Lied vom Unendlichen durch die Endlichkeit seiner Bedingungen kompromittiert.“
    Deshalb ist der Dichter, die Dichterin eine tragische Gestalt. „Das Gedicht ist stets die Manifestation eines Scheiterns.“ Lerner verlässt nun die Gedankengänge Grossmans, mit dessen Unterscheidung zwischen dem virtuellen (noch ungeschriebenen) und dem konkreten Gedicht.

Das virtuelle Gedicht ist das, das uns im Kopf kreist, ungeschrieben, (Benn spricht da von den „Flimmerhärchen“). während das konkrete jenes ist, das aus diesem Kreisen, diesem Flimmern, in Sprache gebracht, entsteht.

Wie es auch Marianne Moore in ihrer ausführlicheren Variante des Gedichts über Poesie an dieser Stelle tut, indem sie das Talent der Umsetzung ins Spiel bringt, aber auch die Künstelei („When they become so derivative as to become / unintelligible“ – so dass wir dann nicht mehr die Dinge und Ideen richtig erschauen können, weil sie nun als das wahrgenommen werden, „was wir nicht begreifen“):

„Doch muß man einen Unterschied machen –
wenn Dichterlinge (half poets) sie ans Licht zerrn, ist das Ergebnis nicht Dichtung“

Lerner hingegen führt an dieser Stelle den enthusiastischen doch krass minderbegabten, als schlechtesten Dichter der englischen Sprache aller Zeiten verrufenen William Topaz McGonagall an und dessen Gedicht „The Tay Bridge Desaster“ mit dem legendären Anfang:

Beautiful railway bridge of the silv’ry Tay
Alas! I am very sorry to say
That ninety lives have been taken away

Er wolle sich nicht über manche Dichterinnen und Dichter lustig machen, sagt Lerner. Und das glaube ich ihm. Denn in den Lichtenbergfiguren heißt es an einer Stelle so schön:

„Der Himmel hört auf zu malen und wendet sich der Kritik zu.
Wir beneiden den Himmel um seine Widersprüche. Wir beneiden den Himmel
Um seine offenen Stellen, unbehandelte Leinwand,
ihre stumme Kritik an gemaltem Glanz.“

Links Marianne Moore,
rechts William Topaz McGonagall

Er „führe sie als Beispiele dafür an, welche Kraft der implizite Zusammenhang zwischen Lyrik und der sozialen Anerkennung der Menschlichkeit“ habe, unterstreicht Lerner. Es mache ihnen, den vielen, die schreiben, nichts, in Publikationen mit ihrem Namen zu erscheinen, die von niemandem gelesen werden. „Es ist, als käme es nicht auf das konkrete Gedicht und seine Veröffentlichung an; worauf es ankommt, ist,“ dass die Dichter*innen wissen und anderen berichten können, „ihre Gedichte seien veröffentlicht worden, eine Auszeichnung,“ die ihnen niemand mehr nehmen könne, auch der Tod nicht. Zusammenfassend könne man sagen: „Das Gedicht ist eine Technik der Vermittlung zwischen mir und meinen Leuten; das Gedicht muss mich einschließen, muss mich erkennen und erkennbar sein – so erkennbar, dass ich imstande sein müsste, mich daran zu erinnern, ohne es je gesehen zu haben, wie das Antlitz Gottes.“

Damit ist Lerner da, wo er hinwollte. Beim negativen Abbild des Verschwindens.

„Wir können vielleicht sagen, Sokrates („derjenige, der nicht schreibt“, wie Nietzsche es formuliert) sei eine neue Art von Dichter, der dahintergekommen ist, wie man Gedichte loswerden kann.“

Und um das zu untermauern, sieht er aber nicht nur das grottenschlechte, sondern überhaupt jedes Gedicht, vor allem das große, enthusiastische, als eine Art Wortopfer an. Eine seiner eigenen Entwicklungsstufen: „Es war, als wäre das Schreiben ein Stadium, das wir durchlaufen, als wären Gedichte wichtig, weil sie sich auf dem Altar der Dichtkunst opfern ließen, um das Schweigen mit poetischer Virtualität zu erfüllen. (Und so zu tun, als gäbe man die Dichtkunst auf, ist etwas, was sich überall in Gedichten findet – die Aufgabe ist eine Konvention: Man beklagt die Unzulänglichkeit seines Liedes, man zerstört seine Rohrflöte.“)
     Aufzuhören und es doch nicht tun, verleihe dem Vorgang eine Art Verheißung des Virtuellen. Doch um Platons Argument der Unvollkommenheit (im Phaidon) verstehen zu können, müssten wir ein Ideal von Vollkommenheit im Kopf haben. Und dieses habe er bei der Beschäftigung mit Fehlschlägen wie dem McGonagalls gefunden: „dass ich stillschweigend ein Gedicht unterstelle, das in etwa Folgendes leisten könnte: einen Rhythmus schaffen, der zugleich erkennbar kollektiv (weil er den Rahmen der überlieferten Prosodie nutzt) und zugleich irreduzibel individuell ist (weil McGonagall innerhalb dieses Rahmens seine besondere poetische Stimme zum Ausdruck brächte), einen Rhythmus, der somit nachvollzieht, was das Gedicht zu beschreiben versucht: die Integration individueller (verlorener) Leben in eine menschliche Gemeinschaft, die durch die Zeit hindurch fortdauert.“

Er geht nunmehr auf Keats ein, einer Dramatisierung der Unmöglichkeit, das Paradies tatsächlich auf Erden zu erreichen. Auf Dickinson: „sie schaffen einen Ort für das Echte, indem sie ein negatives Bild des idealen Gedichts erzeugen, das wir in der Zeit nicht schreiben können. Das Schreckliche und das Großartige (und das Stumme) haben mehr gemeinsam als das Mittelmäßige oder ganz Anständige oder sogar ziemlich Gute, weil sie gegen das bloß Konkrete wüten, vollkommene Verachtung dafür empfinden (oder, im Falle des quälend ernsthaften McGonagall, eine solche Verachtung zumindest leicht erwecken), um sich auf einer via negativa jenem imaginärem Werk zu nähern, welches das Endliche mit dem Unendlichen, das Individuelle mit dem Gemeinschaftlichen versöhnen könnte – das aus den sprachlichen Materialien dieser Welt eine neue erschaffen kann.“
    So gibt er indirekt zu, große Gedichte seien beides, virtuell erahnbar und konkret, virtuell im Unerreichbar Geistigen, und konkret im Aufbau einer neuen Welt:

„Große Dichter, die so unterschiedlich sind wie Keats und Dickinson, drücken ihre Verachtung für bloß konkrete Gedichte dadurch aus, dass sie Techniken zur Virtualisierung ihrer eigenen Kompositionen entwickeln – das konkrete Gedicht zu einem Bild des idealen Gedichts auflösen, das die literarische Form nicht erreichen kann.“

Nun führt er Walt Whitman ein, als Negation der Negation durch eine Überhöhung des Diesseitigen, als eine Mimesis, die sich erhebt und doch zugleich Täuschung ist. „Und wenn ich das Gefühl hatte, ich hätte ein Wort endlich gemeistert, wenn ich es mit zufriedenstellendem Klicken in einen Satz einpassen konnte, dann war das keine Dichtung mehr – es war etwas anderes, etwas Funktionales innerhalb einer Welt, nicht die Verflüssigung ihrer Grenzen.“
      Danach ist er beim Kollektiv, als deren Wirkung wie mal verflüssigte, mal verfestigte Energie, und dass er deshalb lieber in etwas dumpf Archetypisches eintaucht, das er nach Wallace Stevens Geld nennt und irdischen Erfolg. Lieber das Suchen nach einer Vermittlung zwischen Individuum und Kollektiv beim Schreiben, statt den Weg nach Innen zu gehen, Geld löse „Ersteres in Letzterem auf oder lässt Ersteres aus Letzterem neu erstehen, worauf es sich wieder auflöst. Erinnern Sie sich an dieses Gefühl (oder haben Sie es jetzt), ein vorläufiger Knotenpunkt in einem grenzenlosen Netzwerk von Waren und Flüssen zu sein? Denn auch das ist Dichtung, wenngleich in pervertierter Form, in der Beziehungen zwischen Menschen als Dinge escheinen müssen. Der Affekt des abstrakten Austauschs, das Gefühl, dass alles austauschbar ist – was ist sein Lied?

Wenn ich das richtig verstehe, sagt er indirekt, ironisch und verstohlen etwas Calvinistisch-Amerikanisches: Mit dem Erfolg und Geld lernt man Gott und sich selber kennen. Ohne Falsifizierung sei aber auch hier nichts zu objektivieren, fügt er noch hinzu. Ein bisschen Disney-Poesie am Ende: the show must go on, der Hass und das Gefiedel also weiter, hier Gut, da Böse.

Und dennoch ist Lerners Text deshalb so stark, weil er genau alles das über Lyrik thematisiert, was heute noch bewegt, manchmal ernst, manchmal humorvoll distanziert.


* If you’re a poet, it’s easy to spend a lot of time worrying about how people feel about poetry.
**Various surveys of American reading habits suggest that the potential audience has shrunk by nearly two-thirds since 1992.
*** Zu dem Sammelband Lernerscher Gedichte mit dem Titel „No Art“ 2021 siehe die beiden Besprechungen von Jan Kuhlbrodt.


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