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Arne Rautenberg: betrunkene wälder

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Jürgen Brôcan

Arne Rautenberg: betrunkene wälder. Gedichte. Heidelberg (Verlag Das Wunderhorn) 2021. 112 S. 20,00 Euro.

Wüste Hurras an der Abbruchkante


»Sylvae« bzw. »poetische Wälder« sind uns aus der Barockdichtung geläufig, man erinnere sich etwa an die Sammlungen von Christian Gryphius, Paul Fleming oder Jacob Balde, in denen man aufs Schönste umherstreifen und sich zuweilen auch genüßlich verirren konnte, ähnlich wie nun in Arne Rautenbergs »betrunkenen wäldern«, deren abwechslungsreiche Landschaft – ob zufällig oder beabsichtigt – mit ihren mal übers Papier rauschhaft taumelnden und torkelnden, mal zeilentreu gereimten Prospekten nicht von ungefähr an die barocke Wortopulenz erinnert.

Sofort auf der ersten Seite nur ein einziges Wort, als Auftakt und Impetus: »wi’nd«. Er fährt dann hinein, durch den Blätterwald, durchs Silbenlaub, »aus allen himmeln stürzt es« mit apokalyptischer Wucht in Gestalt eines Tornadoschlauchs zu Boden, rutscht und gleitet von rechts nach links oder von links nach rechts über die Buchseite, tröpfelt, fädelt, hackt und saust wie ein Samuraischwert übers Papier, türmt sich zu Kolonnen oder reißt die Worte entzwei und entdrei. Allerdings ist diese Art von ›Konkreter Poesie‹ tatsächlich sehr konkret, indem sie nämlich nicht nur ein simples Abbild der Dinge in Textform erschafft, sondern die Gedichte mit Inhalt und Leben füllt. Zugleich ist das Zeilengefüge eine rhythmische Darstellung, das die Worte zwar aus den Zeilen, nicht aber aus der syntaktischen Bindung vollends entläßt.

Das spielerische Element ist bei Rautenberg immer die Vorbereitung auf den Ernstfall. Öffnet man als Leser den Mund zum Gelächter, ist das für den Dichter die Gelegenheit, ihm einen bitteren Apfel in den Rachen zu werfen. Warum sind denn die Wälder betrunken, sowohl die realen als auch die papiernen? Sind sie trunken vor Freude oder betrunken durch ein ihnen verabreichtes Gift? Die Antwort lautet wohl: beides, zu unterschiedlichen Zeiten und bei verschiedenen Gelegenheiten. Rautenbergs Gedichte stellen bei aller (gesellschafts-)kritischen Elaboriertheit auch ein Bekenntnis dar zur Suche nach einer gewissen Einfachheit, Klarheit und Gradlinigkeit.

Es sind oft mehr als »ahnungen der selbstvernichtung«, die Rautenberg heraufziehen sieht; kein Augurentalent ist dafür nötig, nur die Erkenntnis, »es gibt auch diejenigen / die keine argumente gelten lassen« und der unverstellte Blick auf die Vernichtung, der plötzlich die »urendlichkeit« enthüllt:

der mond
im traum reclamgelb
und hundert lilien weit entfernt
wo es am lautesten rauscht

liege ich
neben einem toten kormoran
auf der sandbank
weit weg vom leuchtturm

die urendlichkeit greifend
alle leichenkraft
abzuleiten
mit öligen händen

Die wunderbare Vieldeutigkeit solcher Bilder verschweigt nicht, daß sie an einer Abbruchkante geschrieben wurden, immer in Sichtweite der Bedrohung, des Absturzes, Verlöschens, und gerade aus diesem Bewußtsein ihre erheiternde Kraft beziehen. So kommt trotz aller friedlichen Momente nie der Eindruck einlullender Idyllik auf, denn die Gedichte reagieren alert auf die Gegenwart, über vieles fällt auch der bleierne Schatten der Coronapandemie, die allerdings nicht reflexhaft herbeizitiert wird, sondern sich auf zwei, drei kurze Erwähnungen beschränkt. Es geht vielmehr um vernunftlose Haltungen im allgemeinen, die Rautenberg kritisiert und mit souverän lächelndem Hohn überschüttet, so zum Beispiel die Eitelkeit der Künstler in der eindrucksvollen Elegie »schlaft idole schlaft«. Manchmal greift Rautenberg sogar zum Imperativ des engagierten Gedichts, doch steckt auch darin weniger Aufruf als Weckruf und melancholischer Abgesang.

was ist mit den revolutionären
alles was ich sah ist schwach
endlos verpuffende lehren
ein piff ein paff ein puff und ein ach

Ziel bleibt »das gegenteil von eitelkeit«, das sich zum Beispiel im »tannenspitzenduft« manifestiert. Naturphänomene sind eine sinnliche und geistige Kraftquelle. Aber auch die Sprache selbst, die diese Dinge verfügbar macht, sie wie Enzyme aufspaltet und dem Hirn verdaulich vorlegt. Das gesamte Buch präsentiert sich als rauschendes Fest der Metaphern, denn die Sprache ist die Feier der Dinge, deshalb scheut Rautenberg sich nicht, uns zu einem selbstbewußten »bediademe dich« aufzufordern. Denn soviel steht zur Verfügung, das zu sehen und zu beschreiben lohnt.

wie issas vater
im todeskampf bettelte
nach einer birne

die birne liegt hier
zweihundert jahre später
in meiner küche

Freilich sind nicht alle Gedichte dieses Bands ähnlich dicht gebaut, einige sind eher improvisatorisch, flüchtige Notate eines noch flüchtigeren Einfalls, spielerische Schnurr-pfeifereien, hintersinnig, doch nicht weltbewegend – vielleicht sind sie die unterhaltsamen Verschnaufpausen zwischen den struppigen Gehölzen. Eines trifft jedoch nicht zu: daß man über sie sagt, was der »arrivierte« behauptet, dem ein neues Gedicht geschickt wird: »ach arne / das ist doch alles so egal«. Vielmehr gelingt es ihnen, nach den Worten in »winter-op«, »das herz offen zu halten«: verwundet und deshalb hochempfindlich gegenüber den Dingen. Man muß Rautenberg bewundern für seinen Mut, im Zeitalter der Komplexität auch wieder zwischendrin das Einfache zu wagen:

ich / steige mit den halmen dieses frühlings in den himmel

Oder:

du mein lieblingsvogel stehst derweil über mir
wie ein singender stern

Oder:

die jugendstilhafte
bewegung des im jetzt
zerstiebenden rauchs


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