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Armin Steigenberger: Learning by Dying

Diskurs/Kommentare > Diskurse > Das Digitalisieren des poetischen Körpers
Armin Steigenberger

Learning by Dying
oder die gefährliche Rückkehr zur „Normalität“


Kein Mensch trägt gerne eine Maske. Ich hasse das Maskentragen, da es sich nicht gut damit atmen lässt, da sie verrutscht, da sie komisch riecht, da es darunter stickig wird, und weil daran die Brille abgleitet und zu Boden fällt. Und dennoch weiß ich, dass es wichtig ist. Dass es anders nicht geht. Können wir anerkennen, dass sich einiges geändert hat? Dass es ein stetiger Prozess ist und dass wir selber erst lernen müssen, das Virus und seine Ausbreitung Stück für Stück zu begreifen? Vieles hat sich geändert. Aerosole sind besser erforscht. Anfangs hieß es, eine Maske helfe rein gar nichts, aber neue Zahlen beweisen, dass das eine Fehleinschätzung war, wie manch anderes auch. Das ist nicht schlimm. So geht Erkenntnis. Um den Street Art Künstler Banksy in seinen jüngsten Kunstwerken in der Londoner U-Bahn zu zitieren: Wenn du keine Maske trägst, kapierst du’s nicht.

Das könnte mein Spruch sein, denn in etwa dasselbe sage ich jeden Tag, wenn ich mir die Sorglosigkeit anschaue, mit der weltweit immer noch auf die Pandemie reagiert wird. Obwohl das Virus mitnichten beherrschbar ist. Schockierend, wie sorglos man durch die Straßen flaniert, endlich wieder in den Urlaub fahren will und noch bis in den Mai hinein an großen Hygienedemos teilnahm – als wäre da nie ein Virus gewesen. Bewusstes Leugnen? Auflehnung gegen die Beschränkung individueller Freiheit? Macht das Sinn?

Es gibt nach wie vor Massenveranstaltungen, z. B. die Wahlkampfveranstaltungen Donald Trumps zu dessen Election Campaign, bei der (im Vorfeld so umstrittenen) Tulsa Rally: Keine Maske, alles normal und easy, Rolling Stones zum wiederholten Mal als Soundtrack¹ und Trump in seinem Element, redet nur über sich selbst und wie wichtig sein Erfolg doch sei, um am 3. November all diejenigen in die Schranken zu weisen, die „radikal links“ und unfähig sind, das Land zu retten, und beschimpft nebenbei den Boeing-Chef als dumb son of a bitch. Ich habe mir die ganze Rede² angehört, in Teilen mehrfach. Um dahinter zu steigen, wie das Hirn dieses Präsidenten tickt. Es ist so ernüchternd, so durchschaubar, so unwahr – stellenweise kaum zum Aushalten; es ist verlogen, selbstherrlich, degoutant. Dieser Herr trug zum ersten Mal Maske, als er dieser Tage durch ein Krankenhaus ging. Aus Showgründen? Oder weil seine Berater ihm das empfohlen haben? Ist es reine PR oder sind die USA nun doch anhand explodierender Fallzahlen bereit, effektiver gegen das Virus vorzugehen?

Alles normal? Mitnichten. Auf Mallorca wird die Ballermann-Meile geschlossen. Warum? Andere Frage: Hat eigentlich irgendwer von Anfang dran geglaubt, dass die Kombination aus Urlaub, Party, Ballermann und dem Virus dauerhaft funktionieren wird?

In diesen Tagen scheint mir so einiges ausgehebelt, was in normal(er)en Zeiten durch den gesunden Menschenverstand geregelt wird. Dazu gehört ein (zumindest irgendwie) gesundes Verhältnis zu Sicherheit, eine Art (Teil-)Verantwortlichkeit der Mitbürger untereinander, Verständnis für den Mitmenschen, gegenseitige Rücksichtnahme, Rücksichtnahme, Rücksicht-nahme. Dazwischen die Egoisten, die keinen Abstand kennen, sich mit den Ellenbogen im Supermarkt den Weg freiboxen. Weil Corona sie nicht betrifft, ihnen alles scheißegal ist oder sie einfach noch nicht verstanden haben (und es womöglich auch nicht wissen wollen), wie Ausbreitung funktioniert und was ein R-Faktor ist? Ich habe selbst gehört, wie eine Frau minutenlang den Busfahrer angeschrien und am Losfahren gehindert hat, weil sie sich weigerte, eine Maske zu tragen. Im Bus trug dann die Hälfte der eng gedrängten Mitfahrenden keine Masken. Das war Mitte Juli 2020 in München. Eine Art Protest?

Das Virus ist auch in München nicht besiegt. Es fällt auf, dass sich die Fälle häufen, wo Menschen es als rebellischen Akt empfinden, sich gegen das lästige Maskentragen aufzulehnen. Dem fiel kürzlich in Bayonne/Frankreich ein Busfahrer zum Opfer³. Das hat mit zivilem Ungehorsam nichts mehr zu tun, mit Auflehnung z. B. gegen unangemessene bürokratische Gesetze. Es ist Mord oder mindestens Totschlag. Es werden also Leute erschlagen, weil sie ihren Job ordentlich machen wollen?

Und genau dieselben Leute, die sonst einen Riesentanz veranstalten, indem sie ständig und überall auf ihr Recht pochen, ihr bisschen Sicherheit sei bedroht, und sich unnachgiebig auf die komplette Wahrung aller ihrer Rechte versteifen, auf gegenseitiges Respektieren usw., auf Sicherheit auf Ordnung, sprich law and order großen Wert legen, gehen zur Coronazeit absurderweise sehr lax und ignorant damit um – wie auch mit den Tatsachen um Covid-19, als gäbe es kein Morgen mehr; und immer noch höre ich gelegentlich dieses Geschwafel, es handle sich „nur“ um eine harmlose Grippe und jedes Jahr stürben weit mehr an Influenza. Können wir endlich aufhören, Corona zu leugnen oder es zu einer kleinen Grippe herunterzureden?

Ein Bekannter meiner Frau sagt: In meinem Bekanntenkreis und direktem Umfeld gibt es keine Coronafälle. Ergo ist es nicht existent. Ergo werden wir von der Regierung und den Medien angelogen? Lernen wir nur, wenn in unserem direkten Umfeld jemand stirbt oder wir selbst erkrankt sind? Scheinbar nicht mal dann. Es gibt Berichte über Fälle, wo Menschen (obwohl Familienmitglieder bereits an Corona gestorben sind) sich weigern, an diese Krankheit zu glauben. Und dort, wo die Wissenschaft und die Forschung der Virologen angezweifelt werden, frage ich mich, wie man in ein Auto steigen und blindlings auf Motor, Lenkung und Bremssystem vertrauen kann, wie man in ein Flugzeug einsteigen und auf dessen Avionik vertrauen kann, wie man über Brücken spazieren kann im blinden Vertrauen auf deren wohlberechnete Statik – und gleichzeitig handfeste Erkenntnisse über das Virus massiv anzweifelt? Wie geht das zusammen? Ist es pures Gottvertrauen?

Die Todesrate liegt weltweit bei über 3.000 pro Tag, Tendenz steigend. Der laxe Umgang mit der Sicherheit der anderen führt nicht nur zu erhöhter Ansteckungsgefahr, sondern hebelt auf die Dauer auch alle Maßnahmen aus, die der Staat bisher mühsam geschaffen hat. Und die übrigens sehr viel gekostet haben. Es geht nicht nur um Geld. Es geht, ganz pathetisch gesagt, um Leben und Tod.

Alles nur Gerede, fake news, „Lügenpresse“? Warum glaubt man ausgerechnet zur Zeit der Pandemie lieber das, was selbsternannte Propheten im Internet daherschwadronieren? Warum versucht man ausgerechnet jetzt, die „Mainstreammedien“ zu diskreditieren? Ist es nur ein grundmisstrauisches Bauchgefühl?

Nicht nur ich habe die Bilder aus Bergamo gesehen im März dieses Jahres. Nicht nur ich weiß, dass wir die Krise hierzulande halbwegs gut bewältigt haben und nicht nur ich weiß, dass es anderswo bereits zweite Wellen gibt. Damit geht das Ganze von vorne los. Eine einzelne unachtsame Person kann x Leute anstecken. Es gab nach jetzigem Stand einen Patient Null. Eine Person hat also inzwischen eine Ansteckung von knapp 14 Millionen [Stand 17. Juli 2020] verursacht. Und wenn jeder Mensch ein potentieller Überträger ist, kann jeder ein weiterer „Herd“ ähnlich dem ursprünglichen Patienten Null sein. Nicht nur ich weiß, dass die erste Welle hierzulande noch gar nicht zu Ende ist, denn nur etwa 1% der Bevölkerung hat sich bislang infiziert. Nicht nur ich weiß, dass in anderen Ländern wie Indien und Bangladesch der Staat das Virus nicht in dem Maße eindämmen kann wie bei uns. Wo es bei uns heißt‚ #wirbleibenzuhause, haben dort viele gar kein Zuhause. Ein Bekannter von mir aus Dhaka hat seit Ende März seine Wohnung nicht verlassen. Immerhin hat er eine Wohnung.

Und da kommt einem dieses kleinkarierte, übelgelaunte Geschimpfe über Masken und den Sicherheitsabstand so überflüssig, so unnötig und vermessen vor. Für alle, die es noch nicht gemerkt haben: Wir haben einen Staat, der sich kümmert und sich vergleichsweise gut kümmert. Wir haben ein Dach über dem Kopf. Wir haben Netz. Wir kommen alle über die Runden, wenn auch mit Einbußen, aber wir kommen durch. Wir haben Zugang zu Information. Wir bekommen Hilfen von Staat. Die Krankenkasse zahlt im Falle einer Infektion. Es gibt Kapazität in den Krankenhäusern. Das alles ist aber – das sollte man sich vergegenwärtigen – keineswegs selbstverständlich. Was also ist das Problem?

Können wir endlich akzeptieren, dass wir uns – weltweit betrachtet – in einer sehr privilegierten Situation befinden? Wir haben in Deutschland die besten Voraussetzungen und andere Länder blicken bewundernd auf uns, wie wir die Krise bisher gemanagt haben. Der Rest? Jammern auf hohem, auf allerhöchstem Niveau.

Wenn es regnet, werden wir nass. Das versteht ein*e Dreijährige*r. Und es gibt heldenhafte Sprüche wie: Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur falsche Kleidung. Man stelle sich vor, jemand würde dagegen sich auflehnen, dass er bei Regen Regenschutz tragen sollte, einen Anorak also, einen regendichten Umhang, eine Mütze, einen Regenschirm. Oder es wäre gar ein politisches Statement, dass die Regenumhangträger „Leftisten“ seien, „Kommunisten“ (und auf jeden Fall falsch gepolt), Angsthasen, die den jahrtausendealten Lauf der Welt nicht verstünden, also die Evolution, das Einssein mit der Natur, das Recht des Stärkeren – und den Tod, verdrängt hätten oder gar nicht verstünden. Nur die Harten kommen in den Garten. Achso? Hierzulande kann man sich gut zurücklehnen und über natürliche Auslese nachdenken.

Wenn es regnet, werden wir nass. Der erste Unterschied ist: Nasswerden ist harmlos, sich mit Covid-19 infizieren nicht. Der zweite Unterschied ist, dass ich bei Regenschutz mich nur selber schützen kann, aber bei einer Maske hauptsächlich die anderen. Wer also beschließt, keine Maske zu tragen trotz Vorschrift (auf die man geben kann, was man will, aber immerhin ist es Vorschrift), riskiert die Ansteckung anderer Menschen incl. seiner häuslichen Umgebung. Ob ich Regenschutz trage oder nicht, wird nur in den seltensten Fällen tödliche Folgen nach sich ziehen. Bei Corona ist es anders. Es geht um den Schutz der anderen. Da werde ich selbst als (symptomloser) Überträger der Pandemie viele Menschen anstecken. Und da die Krankheit bisher gar nicht so wirklich verstanden und erforscht ist, gebe ich evtl. etwas weiter, was ich nicht kontrollieren kann. Das Virus sprang nach heutiger Erkenntnis vermutlich von Fledermaus auf einen Menschen über. Diese zunächst unkontrollierte Ausbreitung schuf das Szenario, das wir jetzt haben. Es sind weltweit fast 14 Millionen Infizierte und annähernd 600.000 Todesfälle(Datum: 18. Juli 2020), Tendenz rasant steigend.

Wenn es regnet, werden wir nass. Das versteht ein*e Dreijährige*r. Doch heutzutage zählen Fakten nichts. Was sind schon Zahlen? Warum sind sie nichts wert? Warum muss man sich so dagegen sträuben und glaubt lieber seinen Influencern im Web und was sie dort erzählen – über Bill Gates, 5G, die Illuminaten, die Reptiloide (irgendwer muss ja schließlich schuld sein!) und „Zwangsimpfungen“. Dabei wäre ein Impfstoff, den man freiwillig verabreicht bekommt, zum jetzigen Zeitpunkt ein Segen. Warum verläuft die Panik der Menschen oft diametral zum realen Geschehen? Warum panikt man nicht jetzt, wo die Zahlen weltweit am Ansteigen sind?

Zahlen sind Menschen, Menschenleben. Das Problem ist, dass Covid-19 noch nicht zur Gänze erforscht und verstanden ist. Wir wissen also nicht, womit wir es zu tun haben. Es gibt Mutationen, aber bisher nur solche, bei denen im Infektionsfall die Letalität nicht höher ist. Wir wissen zu wenig über das, was das Virus im Körper auslösen kann, inwieweit es neben der Lunge andere Organe angreift. Einiges deutet daraufhin, dass es nach Abklingen der Symptome nicht vorbei ist, Betroffene klagen über Ermüdungserscheinungen, wiederkehrende Atemnot, diffuse Schmerzen. Es gibt Hinweise auf Spätfolgen. Fehlt es an Aufklärung? Warum geht man nicht einmal in die Krankenhäuser und filmt dort die Patienten? Wer bereits intubiert ist, hat derzeit eine Überlebenschance von rund 30%.

Wenn ich mir vorstelle, wie ich in anderen Sommerlöchern vollumfassend informiert wurde durch stete Berichterstattungen über das Leben eines Nachwuchspandas, um die Tragik eines Braunbären oder mit allen Details über das Eisbärbaby Fritz, um dessen Leben Tausende, wenn nicht Millionen bangten. Wie viele Katzen werden mit hohem Aufwand unter Polizeieinsatz von Bäumen gerettet, wo jetzt und hier das Leben von Millionen Menschen auf dem Spiel steht, Kinder, Jugendliche, Erwachsene und auch so genannte „Risikopatienten“? Wenn ich mir vorstelle, welcher immense Aufwand betrieben wird und wie hoch das Ethos in amerikanischen Spielfilmen mit realem Bezug ist, z.B. bei militärischen Operationen, einen einzelnen Kerl (meistens weiß) „rauszuholen“, dagegen scheint mir im Vergleich der gegenwärtig leichtfertige Umgang mit Menschenleben desaströs. Ich habe nicht den Eindruck, dass diese Leben, die jetzt auf dem Spiel stehen und noch in Gefahr kommen werden, tatsächlich genauso interessieren. Man kennt die Menschen nicht, es sind immer die anderen, die Pech gehabt haben. Es scheint wie so oft: Je näher die Gefahr rückt, desto weiter weg rücken reale Schicksale und werden verdrängt.

Wenn wir jetzt nicht endlich aufwachen, ist es für viele Menschen bald vorbei.
Zumal die Kapazität von Krankenhäusern anderswo jetzt schon kritisch ist. In Indien wurden bereits Coronaleichen auf offener Straße eingeäschert.

Es ist leider alles kein hässliches Nebenbei, sondern es sterben derzeit sehr viele Menschen. Das größte Problem daran ist, dass sich das Virus ungebremst sehr schnell ausbreiten wird. Von daher kann es keine lockere Handhabung geben, und da, wo sie passiert, wird sich die Lockerheit bitter rächen. Es wird sowieso keine Normalität geben und sie wird uns auf die Dauer immer mehr abhandenkommen, je mehr wir versuchen, sie zu erhalten.

Juli 2020



¹ womit das Image dieser Band beschädigt wird, Mick Jagger hat erneut protestiert.
https://www.theguardian.com/us-news/2020/jun/28/rolling-stones-threaten-to-sue-donald-trump-over-use-of-songs
² Link
³ Link
wie es z. B. der inzwischen selbst mit Covid-19 infizierte brasilianische Staatspräsident Jair Bolsonaro tat.
samt deren Erfolgen.
„Die Corona-Pandemie hat Bergamo geprägt, Bilder von Särgen auf Armeelastwägen wurden weltweit zum Symbol des Sterbens durch das Coronavirus.“, https://www.deutschlandfunk.de/normalitaet-im-corona-hotspot-die-serie-a-beginnt-auch-in.1346.de.html?dram:article_id=479068
[Quelle: https://coronavirus.jhu.edu/map.html]
In Deutschland über 200.000 Fälle mit über 9.000 Toten.


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