Direkt zum Seiteninhalt

Armin Steigenberger: Dialegometha?!

Diskurs/Kommentare > Diskurse




Armin Steigenberger

Dialegometha?!

Versuch einer Darstellung des Status Quo
in der Lyrikdebatte




Metaebene, Wissenschaft, Belehrung


Vieles ist nun gesagt worden. Vorwiegend Männer disputierten ernsthaft und streitbar ganz nach Männerart. Und oftmals lief das Hauptgeschehen stark kontrovers in vielfältigen Kommentaren weiter. Es entstanden auf diese Weise verschiedene Spuren und Gleise; in Normseiten berechnet dürfte man nun in etwa die 100-Seiten Marke „geknackt“ haben; doch immer lief das Hauptgleis sichtbar mit. Im ersten Beitrag Carl Reiner Holdts allerdings habe ich es plötzlich aus den Augen verloren, der uns (von oben herab?) zurief, wir würden für sein Dafürhalten nicht wirklich zielführend disputieren. Und dabei gleich die Meta mal mit Schmackes umrührte. Versuchte, uns den Spiegel vorzuhalten. Seht, ihr Lyriker, so seht ihr von außen aus. Das kann ja nichts werden. Nein?

Dabei ist ja nicht nur Holdt Wissenschaftler
¹ und alle anderen produzierten sich „nur“, mehr oder weniger ausufernd, vor sich selbst. Es gibt gerade in heutiger Zeit kaum noch Lyriker, die nicht mit akademischen Verfahren vertraut wären. Was vielfach begrüßt wird. Holdt aber spielt sich von seiner höheren Warte (er lässt nicht davon ab zu sagen, wie jungfräulich er zu diesem Kind kam!) fortwährend als Lehrer und Richter auf. Das erschreckt und verärgert. Er kommentiert und bewertet etwas, wovon er nicht wirklich viel zu wissen glaubt² (oder will?). Es soll ja auch gute Heuristiker geben. Ich muss gestehen, ich habe sein Verfahren (incl. dem ironischen Zaunpfahlwink, inmitten dieses Geredes zukünftig die Kunst des scholastischen Disputieren installieren zu wollen, als „hypergebildeter³“ Überflieger – im wahrsten Sinne des Wortes, wie er in seinem zweiten Beitrag selbst eingesteht – aufzutreten und über dialegesthai zu reden, wo er sich aber, anstatt den Dialog weiter voranzutreiben, unsanft verabschiedet) ad hoc als verschärfte Trollerei eingestuft. Das war möglicherweise viel zu leichtfertig, weil Holdt sich ja nach Kräften bemüht und ganz offensichtlich auch ehrliches Interesse zeigt. Das möchte ich ihm zugutehalten. Nur führt es, so wie er es präsentiert, zu keinem Ergebnis. Wo doch gerade Ergebnisse ihm wichtig sind. In seinem zweiten Beitrag [http://www.fixpoetry.com/feuilleton/notizen/2016-04-12/kontext-missverstaendnis] kommt ihm nun sogar die Idee, auch so wahrgenommen worden zu sein. Und zeigt uns als Kommentatoren seines Beitrags die grimmige Schulter. Dabei ist dennoch fortwährend seine Angst sichtbar, zu polemisch rübergekommen zu sein. Ach? Ist das alles aber zielführend für die Debatte? In seinem Sinne? Nein. Am Ende seiner ersten Einlassung verabschiedet er sich mit abgeschmackter Geste, die für mich zudem leider einen Fehlschluss beinhaltet: Wenn ihr so unergiebig diskutiert, dann wundert euch bitte nicht, dass eurer Dichtung keiner zuhören mag! Rhetorische Killerphrase? Holdt bestreitet das und kann uns deshalb sicher auch erklären, was das eine (Diskutieren) mit dem anderen (Dichten) zu tun hat!? Ich weiß es leider nicht. Wissenschaftlich? Nein. Es geht hier vielleicht auch eher um die Kunst der Camouflage ...

Zur Krönung wird „den Lyrikern“ als (Ge-)Samtgemeinde von oben herab auf die Finger geklopft und klargemacht: Was tut ihr da? Das geht doch anders. (Es geht immer auch kürzer, schneller, rationeller, besser, „anders“, vor allem hinterher!!) Um uns dann in einem zweiten Beitrag nochmal genauer zu erklären, dass es wirklich nicht an seinem Interesse hapere, sondern dass er sich auch intellektuell rechtschaffen (wow!) im wissenschaftlichen Sinn vorgetastet habe. Holdt verteilt trotzdem satte Watschen. Auch an Marquardt. Dabei ist es kein Geheimnis, wie sehr eine Diskussion ins Leere laufen kann, sprich unverbindlich wird, wenn man nicht ab und zu Ross und Reiter nennt. Nur so ist es zu verstehen, dass Marquardt Ames und mich als (Negativ-)Beispiele nannte – und es kommt jetzt schon so weit, dass ich das noch verteidige. Holdt argumentiert, daraus seien nun „Kiloanschläge“ von Klarstellungs- und Rechtfertigungsstaffage generiert worden. Komisch ist nur, dass genau das doch auch einiges bewegte? Und immer der gelehrige Tonfall: Dass man sich doch mal treffen solle, um sich „den Knaben mal persönlich zur Brust“ zu nehmen. Werter Herr Holdt, das ist doch alles längst geschehen!! Sehr ärgerlich ist für mich dieses Wechselspiel zwischen Unschuldspose („interessierter Laie“) und hybrider Belehrung („scholastische Disputation“). Weil sich so jemand im Zweifelsfall dadurch immer so vortrefflich rausziehen kann, („Mein Name ist --- WHO?“) Anschließend führte die Debatte um Holdts Artikel noch in die zweite Metaebene. Da, wo der Faden ausleiert, folgt Zerfransung.


Zerfransung?


So sehr ich ein Freund von Kommentarfunktionen bin, und so sehr ich es mag, dass man da als interessierter Beiträger auch mal ohne in Stein gemeißelte ausformulierte Thesen weiterkommen(tieren) kann, ganz spontan und auch herzhaft unüberlegt, was die Lebendigkeit immer erhöht und die Diskussion bereichert, so sehr wurde für mich an dieser Stelle die operative Schwachstelle dieses Instruments sichtbar. Einerseits hatte ich den Eindruck, dass sich der Diskussionsfaden ausfranst und halbinoffiziell und nicht für alle sichtbar in alle möglichen Fädchen weiterspinnt, was auch oft bei FB passiert, wo man – wenn man diese Portale nicht alle besucht und pflegt – schnell den Überblick verliert. Um alles mitzukriegen, müsste ich den ganzen Tag durchs halböffentliche FB klicken und wäre dennoch mit einigen nicht befreundet. Aber es ist ja privat. Ist es? Hm. Darüber hinaus wird jeder Beitrag gleich wieder bewertet, eingeordnet, möglicherweise geschwächt und relativiert, ja sogar (wie mal jemand sagte) beschmutzt. Das kann man so sehen, muss man nicht. Dabei steht es doch zu jeder Zeit frei, einen neuen, eigenen Beitrag zu verfassen; es muss keine Habilitationsschrift werden. Ann Cotten hat gezeigt, dass und wie es geht. Das ist kein Seitenhieb gegen Kristoffer Cornils, der mit Verweis auf die modernen Zeiten die Hinterwäldlerei beklagt, keine Kommentarfunktion nach Blogmanie(r) unter einen Beitrag geschaltet zu haben, sondern eine Feststellung: ein Portal für selbst einen Kürzestkommentar würde man beim Stand der Debatte sicherlich finden. Für ganz Eifrige: Ich will jetzt nicht die Zeit zurückdrehen, hatte nur zwischendurch ab und an das Gefühl, dass die Debatte nicht übersichtlicher wird, für jemand, der das alles sich nochmal neu und anders zusammenknüpfen möchte, wenn  5 Hauptpodien und noch etliche Nebenpodien gleichzeitig bespielt werden. Nicht für jeden sind alle Kommentare sichtbar, schon gar nicht, wenn sie gelöscht werden.


Umgangsform, Netzkultur, – don’t feed the troll!


So hatte z. B. mein Kommentar vom 9.4. anfangs noch einen ersten Teil zum Thema Umgang miteinander bei öffentlichen Beiträgen und Kommentaren zu Reineckes Waffelding [http://www.fixpoetry.com/comment/487#comment-487], den ich dann aber aus diversen Gründen wegließ. Ich will das nicht vertiefen, und das was parallel auf Fixpoetry bei express! lief, zeigt, warum. Ich bin seit 1999 auf etlichen Literaturforen aktiv, auch bei Wikipedia und auch dort in der Meta, und weiß, wie da zum Teil die Fetzen fliegen. Beleidigung ist in diesem Zusammenhang noch geprahlt. Und es werden, immer und überall, auf den meisten moderierten Portalen, Beiträge gelöscht; das ist das gute Recht jedes Portalbetreibers. Den Satz mit dem „Ding an der Waffel“ fand ich beim ersten Lesen eigentlich sogar noch recht elegant sprich einen humorigen Farbtupfer in Bertram Reineckes Ausführungen. Zumal da niemand namentlich und direkt beleidigt wurde
. Es gab andere Stellen in der Debatte und auch im Drumherum auf FB usw., wo die Wortwahl, massiver und sehr viel persönlicher adressiert, sich bewusst gegen jemand direkt wendete. Es gibt gerade in lebendigen Debatten wie dieser immer Kontroversen. Diese werden sich teils auch in scharfer Wortwahl niederschlagen. Im Zweifelsfall sollten das eher die Betroffenen (so sie sich angegriffen fühlen) persönlich klären. Mich selbst bremsen solche sehr deutlichen Hinweise, Respekt zu üben, mehr oder weniger stark aus, da sich nun zusätzlich das Selbstzensurrädchen im Hirn permanent mitdrehen muss und gedankliche Energie absaugt, ob ich denn nun ja respektvoll genug bin. Schere im Kopf? Maulkorb gar? Schwer zu sagen. Schade ist nur, das sich die Debatte damit immer weiter in die Metaebene verschlupft, wenn man nicht nur über die Stringenz und den Verlauf einer Debatte spricht, sondern parallel gar noch Umgangsformen und Netzkultur erörtern muss. Das Ganze ist, wo kommentiert und gebloggt wird, überall und immer am Brodeln, es ist die erwartbare Meta bei derlei Diskussionen, da gibt es häufig eine Form der Eskalationsdynamik, die gerade im anonymen Raum schnell da ist; los geht’s immer bei der Wortwahl; los geht’s aber auch schon vorher, dass jemand sich ärgert, provoziert oder respektlos behandelt fühlt. Es gibt jede Menge Untersuchungen dazu. Was der eine als noch OK empfindet, erlebt jemand anders als extrem unhöflich. Wobei natürlich klar sein sollte, dass immer da, wo scharfe Kontroversen sichtbar werden, verbal auch schon mal etwas härter zugepackt wird. Wohin führt das? Zwei Schritte weiter in das Reich der Trolle. Weiter mag ich dorthin nicht gehen. Weil es nicht angeht, dass jemand, der von außen kommt, die Diskussion in seinem Sinne für null und nichtig erklärt. Soweit darf es nicht gehen, dass wir alle (so) konzis (wir können) über Lyrikkritik reden wollen und dass derjenige, der uns erklärt, wir hätten sie nicht effizient und den wissenschaftlichen Standards bzw. Vorgehensweisen entsprechend erörtert, uns nun eigentlich noch weiter aufs Nebengleis lenkt. Uns auf die Trollschiene führt.


Cui bono?


Sind wir nun also da, wo wir hinwollen? Brauchen Lyriker das wirklich, sich als conditio-humana-Infizierte und -Affizierte vorführen zu lassen? Uns als herumeiernde allzumenschliche Debattisten, ohne Diskussionskultur, abqualifizieren zu lassen? Uns erklären zu lassen, dass Herr Holdt es ja nur gut mit uns meine, wir aber seinen guten Willen gar nicht wahrnehmen wollen? (Ich könnte diese Liste noch fortsetzen.) Es ist ja de facto etwas passiert, auch Wenn man um einer wichtigen Einsicht willen 99 unsinnige Wege gehen muss, schreibt Heuristiker Holdt
. Deshalb sehe ich die Chance gerade darin, dass die – ich bin mal so frei, von Errungenschaften dieser Debatte zu sprechen, während „Prozessbeobachter“ C. R. Holdt versucht, zu resümieren und die Debatte in summa als banal und ineffektiv abzuqualifizieren, – Lyrikkritik nun positive Impulse erfahren hat. Wir sind ja noch nicht am Ende, wie es Holdts Ausführungen aber bereits implizieren. Die Sache ist noch nicht erstarrt und verfestigt, sondern noch und jederzeit formbar. Lasst uns jetzt mal auch ein positives Resümee ziehen, bitte. Und dann weiterreden.


Endlich zurück zum Wesentlichen?


Wichtiger als allgemeine Fragen der Umgangsformen im Netz wäre mir der Punkt, dass ich jetzt, nach dem Statement von Herrn Holdt, nicht verstehe, wieso er so ganz allgemein mit dem Infinitiv dialegesthai anhebt, wogegen er faktisch, also in der Konsequenz seiner Ausführungen, die Wir-Form dialegometha unterbindet? Also mit großer Geste resümiert, um abwinkend die ganze Debatte zu banalisieren? Entsteht so Dialog? Ich glaube nicht. Zuletzt war die Chance dazu noch gegeben, dass die Debatte sich weiterentwickelt. Die Sache war ja nicht so ganz einfach, ging vielmehr ganz schön an die Substanz und war auch so nicht geplant oder planbar. Mancher neue Punkt hat sich in längerem Prozess eröffnet, und nun bestünde die Chance, noch ein paar weitere Themen in den Blick zu bekommen. Frank Milautzcki lässt z. B. die Supervision anklingen – da bin ich momentan auch, nämlich bei der psychologischen Seite des Ganzen. Ich hätte nichts gegen Supervisoren, die sich zu Wort melden, aber supervisorische Anstrengungen sollten positiv, konstruktiv und wertschätzend sein und das Potenzial einer Diskussion erkennen, statt zu bremsen, umzuleiten oder gar zu versuchen, die Debatte zu kontrollieren. So jemand sollte uns zeigen, wie sich aus allen aufgezeigten Ansätzen (und das waren einige!) tatsächlich neue Ansätze für Lyrikkritik ergeben könnten, anstatt uns nur immer zu zeigen, wie es nicht „funzt“.

Was passiert ist, folgt(e) keinem bekannten Muster; diesen Umstand (so umständlich er auch aussieht) kann man auch versuchen, positiv sehen. Frank Milautzcki bringt der Offenheit große Wertschätzung gegenüber, was mich sehr freut. Man muss auch mal Tacheles reden und sagen, dass es nicht einfach ist, im Eingemachten herumzurühren, an Tabus zu kratzen, wo es im Miteinander um unbewusste Prozesse geht, die man sich langsam und schmerzhaft bewusst machen musste. Das dauert freilich länger, als wenn man nach Fahrplan einen fachlichen Essay niederschreibt. In diesem Sinne auf ein Neues. Dialogesthe! Unterhaltet euch! Unterhalten wir uns weiter.


Dialog findet längst statt


In dieser Debatte ist genau das passiert – dass aus einer völlig ungeplanten Situation tatsächlich etwas entstand, und auch ich kann von mir sagen, dabei gelernt zu haben. Deshalb empfinde ich Feststellungen wie „Dazu müsste man den Anker einer gemeinsamen Intention finden und weiter auswerfen, einen weiter gesteckten Horizont zulassen (als den Kampf um Deutungshoheit), von wo aus die scheinbar gigantischen Unterschiede untereinander etwas kleiner wirken … sub speciem aeternitatis (…) “ als regelrecht kontraproduktiv (und obendrein papiertigernd – „man müsste...“), weil Holdt nicht wahrhaben will, dass wir uns längst schon unterhalten, schon Ergebnisse haben und uns gerade einmal mehr als Lyriker selber finden –, sprich uns Prozesse bewusst machen, uns gewisse Rahmenbedingungen vor Augen führen möchten, was Lyrikkritik in einer Lyrikwelt bedeutet, die (aus komplexen Gründen) keine richtige Öffentlichkeit findet; und er „uns Lyrikern“ aber nicht zugestehen will, dass das, weil wir dies anders tun, als man so etwas nach wissenschaftlichen Regeln tun sollte, eben (…) Meta-Gesetze zur Folge hat, die sich logisch nicht zwingend herleiten lassen, sondern nur intuitiv erfassbar sind. Und ich weiß, dass da noch viel geht (sogar in Physik, erst recht in Sachen Lyrik) ... Es gibt (für mich) nichts, was mehr ablenkt und stört, als in einer laufenden Debatte über das Wieso und Weshalb zu diskutieren, weil es in dieser Metaebene immer weiter abdriftet.

Ich hoffe, ich lese Holdts Angebot richtig, wenn er vorschlägt, von außerhalb den Prozess steuern und optimieren zu können. Dass er ein Symposium betreuen könnte, wo mit dem Sachverstand (des Pädagogen?) von außen jemand quasi beisitzt und den Verlauf „spiegelt“. Das klingt an und für sich gut, nur ist seine Schlussfolgerung erneut dergestalt negativ, indem die bisherige Debatte (Denn gesetzt, ich trete jetzt an den Vorstand heran: was soll ich ihm sagen? „Da gibt es eine Diskussion zur prekären Lage der Lyrikkritik. Lest den mal!“? Was glaubt ihr, wird dann passieren? Was wird die (Außen-) Wirkung sein? Ich weiß es nicht…) so dargestellt wird, als sei es uns (vor uns hin schwurbelnden?) Lyriker*innen einfach nicht gelungen, derart „konzise“ aufzutreten, dass es hinsichtlich einer Wirkung auf Sponsoren und Geldgeber auch nur irgendwie attraktiv sein könnte … also eine weitere Watsch’n vom Controller mit defizitärem Blick?

Worum geht es eigentlich? Geht es hier um einen neuen, anderen Ansatz? Um den einer alternativen Wissenschaft, die globalisieren und vereinigen will? Oder um Pädagogisierung der Lyrik? Holdts (man könnte sagen:) spiritueller Ansatz scheint sich dabei in so eine Art pseudo- und psychoglobale Symbiose aller Wissenschaften gewandelt zu haben, wo er aus Interesse beispringen möchte und die Debatte anschubsen und mitsteuern will, sich dabei aber (controllerhaft und qualitätssichernd?) in allen möglichen Antrieben verstrickt, was zusammengenommen mit seinem Lehrergehabe einfach ermüdet. Das ist jetzt ein bisschen ungerecht, zumal er im weiteren Verlauf eine Vision entwirft, dass jemand von außen mitsteuert und „technische“ Kommentare gibt: da bin ich trotzdem der Meinung, Supervision und Mediation (worauf es im Endeffekt hinauslaufen soll) ginge anders.


Fortgang? Entwicklung? Konstruktive Lösungen!


Ich sehe den Fortgang dieser Debatte einfach viel lieber da, dass man sich überlegt, was es nun für Konsequenzen haben kann, was also die interne Bewusstwerdung und Bewusstmachung bedeuten, wo sie in praktische Umsetzung münden können. Wie man die Lyrikkritik mit bestehenden Mitteln zu einem Instrument machen kann, das mehr Außenwirkung zeigt. Geld ist dabei nicht der einzige Faktor. Viel eher denke ich daran, Lyrik generell weiter ins Bewusstsein der Gesellschaft zu bringen, mehr Medienaufmerksamkeit zu generieren, wie auch immer, durch Fernsehbeiträge, Videos etc. ein positive(re)s Bild der Lyrik zu zeichnen. Ich könnte mir auch vorstellen, dass man bei Veranstaltungen Fragebögen austeilt, um direkt zu eruieren, warum genau eine Lyrikveranstaltung besucht wird. Wird Lyrik stärker wahrgenommen und ihr Wert allgemein besser erkannt, wird die Lyrikkritik von selber sich professionalisieren. Denkbar wäre z. B. auch ein Camp zur Lyrikkritik, wo solche Fragen gebündelt zur Sprache kommen, i.e. ein Brainstormingtreffen zwischen Lyrikern, Rezensenten und Journalisten, die sich zusammensetzen, Vorträge halten, frei reden, diskutieren, miteinander trinken und feiern und informell drauflos „jammen“
, um gemeinsam ein paar neue Dinge zu erfinden¹⁰. Wofür express! bei  Fixpoetry schon ein guter Ansatz ist. Dahin könnte es laufen. Oder in Groß- wie Kleinstädten Lyrikstände in der Fußgängerzone aufstellen, um ins Gespräch zu kommen? Vielleicht könnte es tatsächlich eine neue Plattform geben, wo jeder neue Lyrikband (anhand der ISBN o.ä.) automatisch aufscheint, das z.B. über Startnext-Kampagnen finanziert ist und für registrierte Rezensenten (ab dem soundsovielten Beitrag, bemessen an den Likes der Leser?) ein Honorar abwirft? Es könnte ein Ideenpool gegründet werden, wo die Probleme, von denen es ja einige zu geben scheint, konstruktiv aufgefangen werden. Das Ganze kann und soll moderiert werden. Ein Symposium zur Lyrikkritik abzuhalten, wie es auch schon von der Literaturwerkstatt Berlin weitsichtig und richtig anberaumt wurde, halte ich für einen ersten wichtigen Schritt. Mit dem Fokus auf praktische Umsetzung sollte es weitergehen.


Kontinuierlichkeit, Nachhaltigkeit, Boomkurven?


Wie ließe sich mehr Öffentlichkeit für Lyrik erreichen? Tristan Marquardt hat mir dieser Tage im mündlichen, sehr ausführlichen Gespräch erörtert, inwiefern es seiner Meinung nach schon angefangen hat – wie eben mehr Veranstaltungen und eine Reihe von neuen Lesereihen und Festivals dazu führen, tatsächlich breitere Aufmerksamkeit zu generieren. Ich bin geneigt, dabei auch zu sehen, was ich vorher nicht gesehen habe: dass sich etwas tut in puncto Öffentlichkeit, also dass ein breiteres Interesse für Lyrik entsteht, auch bei Bevölkerungskreisen, die nichts mit Lyrik am Hut haben.

Bei aller Hochachtung für die Energie junger Akteur*innen frage ich mich dennoch, inwieweit sie hierbei nicht auch ein wenig ihrer eigenen Optik erliegen, wenn sie feststellen, dass es viel mehr Interessenten für die Veranstaltungen gibt, die mit einem speziell auf ihre Gruppe passenden Zuschnitt neu ins Leben gerufen wurden. Ich meine den Effekt, dass sie als Involvierte nicht die ganze Bandbreite der Selbstreferenzialität des konstatierten Lyrikaufschwungs in den Blick bekommen, weil sie den Aufschwung teils selbst mitverursachen und somit Teil des Aufschwungs sind, der sich von außen womöglich etwas weniger spektakulär abzeichnet. Oder für manche gar nicht sichtbar ist. Abgesehen davon, dass alles, was neu ist, immer Interessierte anlockt, darf man den Faktor nicht unterschätzen, dass Veranstaltungen häufig nicht etwa besucht werden, weil es dort um spannende Dinge wie zeitgenössische Lyrik geht, sondern weil da etwas los ist, weil „die und der da auch hingehen“. Ich habe bei einigen Veranstaltung(sreih)en erlebt, wie Neugierde und Interesse einknicken, wie bejubelte Boomkurven absacken können. Das Phänomen tritt dann ein, wenn das anfangs Neuartige, Zündende, Originelle, weswegen viele Besucher kommen, nachlässt bzw. sich wiederholt. Auch wenn es parallel dazu etwas gibt, das noch zündender, neuer und origineller ist (auch wenn es nur eine Kopie des Originals ist.) Veranstaltungsreihen etablieren sich schnell, werden nach einiger Zeit selbstverständlich, obligatorisch, fester Bestandteil der städtischen Kultur und somit im Veranstaltungskalender ein alter Hut – besonders für alle die, die gerade erst anfangen, Ausschau zu halten, und auf der Suche nach etwas Neuem, Aufregendem, Coolem sind; diesen Nimbus aufrechtzuerhalten ist hochkomplex, d.h. im Überangebot einer Großstadt hat sich manche Kultveranstaltung von heute auf morgen schon überlebt. Zurückbleibt nach ein paar Jahren ein Kern, ein festes Stammpublikum, das älter wird und bildlich gesprochen im eigenen Saft schmort. Es geht dabei niemals allein um Lyrik. Es geht immer auch um ein Transportieren von Lebensgefühl, Innovationshype, von gemeinsamem Hipstersein (!) usw., also um das Gefühl, bei einer Sache, die fresh ist,  dabeizusein, in zu sein und in diesem attraktiven, erlesenen Kreis einen neuen Geist zu atmen. Obwohl es gut ist, mit neuen Konzepten neues Publikum anzulocken, sehe ich Hybridveranstaltungen, also z. B. die Erwägung, Lyrik an Poetryslam anzukoppeln (um dessen Popularität auszunutzen?) als eher ambivalent an, weil Poetryslam derzeit so nah an der Comedy ist, dass der Unterschied schon nicht mehr wirklich sichtbar wird. Darüber hinaus würden Lyriker eher wie ernste Pausenfüller wirken. Ich habe dabei immer das Gefühl, man wolle bittere Medizin in einer zuckrigen Gelatinekapsel verabreichen. Hinzukommt, dass Gasgeben mit immer neuen Aktionen, Veranstaltungen, Lyriktreffs auch bewirken kann, dass vorzeitig eine Sättigung erreicht wird; weil es inzwischen dasselbe da und da und da gibt und dadurch die Aufmerksamkeit insgesamt abflacht.

Feststeht, dass jede neue Reihe, die entsteht, ein Plus und eine Bereicherung ist, solange sie nicht sich selbst Konkurrenz macht (in obigem Sinne), in der Stadt X ein Überangebot bringt oder alte Reihen ins Dunkel rückt und das (Haupt-) Zielpublikum nicht einseitig bei Altershöchstmarke 30 festschreibt, d. h. die referenziellen Codes und die Zielgruppen für die Veranstaltungsbewerbung so setzt, dass früher oder später alle Ü35-jährigen draußen sind. Weil man (unbewusst?) doch am liebsten unter sich und seinesgleichen ist? Das heißt: es ginge mir bei allem Anwachsen des Interesses für Lyrik auch um Kontinuierlichkeit, sprich um nachhaltige (!) Quoten, um Veranstaltungen, die nicht nur im eigenen universitären Umfeld stattfinden, sondern sich tatsächlich für weitere (im Idealfall alle) Altersgruppen und Bildungsschichten öffnen. Bei allem Zweckoptimismus und Blick nach vorn wäre hier doch weiter zu analysieren, was eigentlich genau die Gründe und Hindernisse sind, warum Lyrik (noch) nicht so boomt, wie wir Lyriker uns das gern vorstellen würden.

Zuletzt geht es auch um Schulen, wie es Tristan Marquardt im Gespräch erwähnte und Bertram Reinecke in einem FB-Kommentar. Da tut sich z.B. in München nach wie vor eine Menge, seit 9 Jahren gibt es Lust auf Lyrik
¹¹. Es gibt ganze Reihen, wo Lyriker*innen an Schulen gehen und dort Lyrik präsentieren, umgekehrt gehen Schulklassen zu Lyriklesungen. Es sollte bis in die Lehrpläne, also bis ins Kultusministerium hinein Veränderung geben. Würde Lyrik doch in der Schule anders dargeboten, dass sie eben auch spannend und cool sein kann, und nicht allein mit einem hübschen Klapparatismus von (Metrik-)Analyse! Niemand hört Musik ad hoc (nur) auf Tonarten, Takt und Tempi hin. Oder analysiert. Und niemand hat den Anspruch, Musik „verstehen“ zu wollen. Der ganze Verständlichkeitsdiskurs nervt. Und es resultiert bis dato aus alledem sehr viel Verunsicherung. Fazit?



¹ Holdt ist u.a. Mathematiklehrer.
²
Holdt hat sich in seiner Klosterzeit auch als Lyriker erprobt.
³
Ausdruck Frank Milautzckis in einem Kommentar.

s. Rhetorik, die der Vorläufer von Prosa ist – im Gegensatz zur Lyrik, die aus den antiken Liturgien kommt.
Auch wenn es sich bei genauerem Hinschauen auf eine Referenz bei Holdt beziehen ließe.
Holdt hat inzwischen erklärt, das sei ein Missverständnis, und er werde polemischer wahrgenommen, als er es möchte. Ich kann aber auch in seinem zweiten Beitrag so richtig nicht erkennen, wo er nun groß anders agiert als zuvor.
„Unsinnig“ erscheint mir eher der Weg, den Holdt gehen möchte: nicht dass er ihn gehen, sondern wie er ihn gehen will.
Da gibt es eine Diskussion zur prekären Lage der Lyrikkritik. Lest den mal!“? – Was glaubt ihr, wird dann passieren? Was wird die (Außen-) Wirkung sein? Ich weiß es nicht… Es war niemals meine Absicht, die Diskussion für obsolet zu erklären. Sondern zu spiegeln, wie sie auf einen „interessierten Laien“ wie mich wirkt.“, schreibt Holdt.
(wie es auch z.B. bei Wikipedia in deren „Treffkultur“  Wikimania üblich ist)
¹⁰
Ich denke häufig an eine Begebenheit in meinem Architekturstudium, wo es drum ging, Ideen für ein Gebäude zu entwickeln, das sehr komplex ist. Der Prof. sagte zu uns allen: Spinnen Sie mal ein bisschen. Das hat mich sehr beeindruckt. Ich dachte. Ja genau, so könnte es gehen und brachte statt eines ersten Entwurfs eine freie Collage mit.
¹¹
http://www.lyrik-kabinett.de/veranstaltungen/lustauflyrik/projektkonzept.php

Zurück zum Seiteninhalt