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Ann Cotten: Die Anleitungen der Vorfahren

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Samuel Meister

Ann Cotten: Die Anleitungen der Vorfahren. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2023. 160 Seiten. 18,00 Euro.

Trotzdem Heiterkeit Zu Ann Cottens Die Anleitungen der Vorfahren


Zuletzt ist es wieder einmal der Albatross. Es sind Albatrosse, deren Eier von «eingeführten Nagetieren» am Kaʻena Point in Hawaiʻi aufgefressen werden (s. 139), es ist der Albatross, mit dem die Dichterin nicht recht weiter weiß: «du kamst vielleicht auf die Welt, um ein Albatross zu sein, / aber du weißt immer noch nicht, wie das geht» (s.142). Dieses poetische Wappentier scheint also unausrottbarer als die Honigbiene, seit Baudelaire es ausgesetzt hat. Nun gut, Ann Cotten weiß sich durch ein «vielleicht» zu helfen und durch Unkenntnis: Nur vielleicht wurde sie ins Albatrossleben geboren, zudem fehlt ihr das Know-how dazu. Diese Unsicherheit, wie man denn nun poetisieren, d.h. leben könne, treibt die gattungslosen Anleitungen der Vorfahren vor sich her. Zu Beginn und gegen Ende stehen vor allem Gedichte, dazwischen Notizen zu einem Aufenthalt in Hawaiʻi. Dabei wird neu verhandelt, was in einen literarischen Text gehört, worin literarische Sprache besteht, aus der Unkenntnis einer Dichterin heraus, die alles kann und sich zum Glück alles erlauben darf.

„Eine kurze Landung der Suika“ heißt das zweite, programmatische Gedicht, ein Gedicht über ein Schiff, aber eigentlich über eine Technik:

Die Suika ist ein ausländerisches Schiff.
Schiff heißt Technik.
Sie ist ein Holzweg, a stub. Ein abweichender Strang. Eine
deviante Fan-Fiction der Relativistischen Flotte.
Die Suika ist nicht, sie fährt.
Schrift ist ihr Kondensationsstreifen, Beschleunigung ihr Messgerät.
Die Antriebsart ist Sehnsucht, Hoffnung der Treibstoff der Suika,
nebst einer Art der Fortbewegung, die Gewärtigen genannt wird. (s. 10)

Die Landung der Suika scheint nicht nur diesmal kurz zu sein, sondern grundsätzlich immer. Die Suika «ist nicht, sie fährt»; eigentlich dürfte sie nie landen. Wobei «suika» auf japanisch «Wassermelone» bedeutet, welche Cotten so ausweidet: «Wie die Melonenranke, die auf dem Komposthaufen wächst und / mit dem Körper denkt und schreibt, / schwellen wir gelegentlich voller Saft, ihr Messer!» (ss. 11–12). Manchmal, offenbar un-vermittelt legt die Suika, schwillt die Melonenranke an. Als Material dient gerne der sprachliche Abfall, der kompostierbar ist, aus dem noch ein süßer Kürbis wachsen kann. Ein Cottenscher Text möchte «abweichen», «Holzwege» begehen (womöglich Heideggersche), sich wie Fan-Fiction vom poetischen Hauptstrang absondern, «deviant». Wobei Suika u.a. auch der Titel einer «adult visual novel» ist sowie eine Figur in der Manga-Serie Dr. Stone, die in der Fachzeitschrift Dr. Stone Wiki wie folgt beschrieben wird: „Suika initially was ostracized for her clumsiness and constant usage of a watermelon helmet due to her nearsightedness etc.“. Weiter reicht mein Bildungs-hunger an dieser Stelle nicht, aber das poetische Prinzip ist klar: Jede Wendung ist eine Tischbombe, aus der die Anspielungen springen, man muss nur an der Lunte zeuseln.

Das bürgerliche Feuerwerk (soweit ist das Bürgertum gekommen) ist aber nicht der Zweck von Cottens Texten. Angetrieben wird die Suika von «Sehnsucht» und «Hoffnung», daraus speist sich der Unwillen anzulegen, das Verfahren der Absonderung vom Bekannten und des «Gewärtigens» immer neuer Bilder. Wonach sehnt sich diese Poetik, worauf hofft sie? Im allgemeinsten Sinn scheint sie auf die Befriedung der Welt abzuzielen:

Sprache ist so nice, weil sie so kalt ist,
man hält die Wange daran und hört, wie es in der Tiefe spinnt:
Alles, was an der Welt verwirrt ist, verzerrt ist, ist hier;
wenn man anzieht, beginnt der Knoten zu glühen. (s.12)

In der Sprache spürt man die Verwirrung und Verzerrung der Welt, man kann ihre Krankheiten diagnostizieren. Um das klarste Beispiel herauszugreifen: Cotten verwendet «polnisches Gendering», etwa «sier» anstelle von «sie» und/oder «er», um «Missstände aufzuzeigen» (Impressum). Die Idee ist nicht die gängige, dass sich gewisse Missstände der Welt in der Sprache zeigen, sondern dass es alle tun. Die Plausibilität dieser These sei dahingestellt, aber jedenfalls impliziert sie einen hohen Anspruch an die Literatur: Sie kann durch ihre Arbeit an der Sprache die Probleme der Welt erkennen und damit zu ihrer Lösung beitragen, auch wenn die Lösung zuletzt «außerhalb der Sprache» (Impressum) stattfinden muss.

Wenn die Tischbombe solche Ambitionen hegt, erstaunt es kaum, dass in ihrem Kartontorso die philosophischen Binsen rascheln. Immerhin scheint die literarische Rolle der Philosophie dieselbe zu sein wie diejenige jeder sprachlichen Tätigkeit, nämlich kompostierbaren Müll für die Melonenranke zu produzieren. Wie es am Ende der «Landung der Suika» in vollendetem Nonsense heißt: «Opazität ist Konstanz, darin afforded die Kontinuität den Anteil / der Transparenz» (s. 13). Die Notizen zu Hawaiʻi, die den Großteil des Buches ausmachen, sind dann ebenfalls voll mit scheinphilosophischen Äußerungen, so voll, dass man auf den schrecklichen Gedanken kommt, diese könnten doch für sich genommen ernst gemeint sein. Zum Willen heißt es beispielsweise: „Muss man ihn nicht verwehen lassen, wenn es einen Weg gibt und ja doch niemand fragt, ob sier den Weg gehen will oder nicht? Verweht der Wille dann mithin wie eine wandernde Düne über die Zufahrtsstraße? Sier ahnt, dass es Probleme geben wird“ (s. 78). Aber zuletzt sollte man solche Stellen wohl ähnlich verstehen wie in Godards Filmen: Philosophische Diskursfetzen werden nicht eingebaut, um im engeren Sinn Philosophie zu betreiben, sondern um einen Teil der Grundstimmung einzufangen.

Diese Grundstimmung ist in Hawaiʻi wie in der Poesie die Unsicherheit über die eigene Stellung, nicht einfach allgemein der Welt gegenüber, sondern die kulturelle Stellung einer Europäerin an der Schnittstelle zwischen Ost und West. Diese Unsicherheit wird durch die Sicherheit, mit der sich das Gegenüber in der scheinbaren Fremde bewegt, bis zur bodenlosen Ehrfurcht vor dem Göttlichen verstärkt:

Ich war im Land der Göttennni
sie fahren große Trucks
mit riesigen Fahnen
lauter Musik
sanft und gefährlich

und man will ihnen gefallen
und man sieht, es ist unmöglich
man sieht aus wie was man ist
ein kleines Stück Kuchen   (s. 146)

Ohne die „Netzwerke der Vorfahren“ („Anleitungen“, s. 22), so sehr man sie verlassen will, ohne die Tradition, der man ausgeliefert ist, so sehr man dies nicht möchte, bleibt wenig als nur die Unsicherheit. Und so bekommt die (wirkliche oder fiktive) Dichterin am Ende nur durch das wienerischste aller Mittel, um Unsicherheit in Poesie umzuwandeln, wieder ihren Boden unter die Füße, durch die ironische Selbstdegradierung zur Mehlspeise.

Was bleibt? Offiziell der Anspruch an die Literatur, die Missstände der Welt in der Sprache zu diagnostizieren, das Scheitern, einen selbstbewussten Standpunkt gegenüber einer anderen Kultur einzunehmen – und die Verquickung der beiden Aspekte, indem dieses Scheitern sich in der Schwierigkeit zeigt, die andere Kultur sprachlich zu fassen. Aber jenseits dieser hehren Vorgaben bleibt vielleicht etwas Bedeutenderes: die Heiterkeit des Sprachspiels trotz allem.


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