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Anja Bayer: ungewusstes fell

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Armin Steigenberger


Voilà.


Im Mai d. J. erschien im gutleut verlag Anja Bayers Lyrikdebut ungewusstes fell. Das Buch ist eine kleine Sensation für bibliophile Menschen: Der Verleger des gutleut verlags aus der Frankfurter Gutleutstraße, Michael Wagener, Sohn eines Buchdruckers, wuchs in einem Elternhaus auf, wo gut arrangierte (Kunst-)Bücher entstanden. Er ist so gesehen sehr kunstaffin und weiß nicht nur, was inhaltlich gute Bücher sind, sondern auch, wie sie gestaltet werden, wie sie sich anfühlen. Er hat ein Faible für Künstlerbücher. Vor nicht allzu langer Zeit hat er sich entschlossen, in der reihe staben¹ Lyrikbände zu publizieren. Anja Bayers Buch liegt gut in der Hand und wirkt von der Wahl der Schrifttype über das qualitativ hochwertige Papier bis hin zur Gestaltung des Umschlages mit der oben überstehenden Buchstabenbordüre wohlkomponiert und durchdacht. Der Umschlag kann aufgefaltet werden zum Plakat und zeigt auf der einen Seite ein großes, annähernd rundes, muschelähnliches Emblem, eine Radierung² von Olaf Probst, dessen Rückseite eine Art Negativ dieses Emblems in einem schwächeren Grauton zeigt, mit allen 14 Texten aus dem Kapitel Zuckerzungen bedruckt.


Geräusch-
schnitte

die

dir das zuckende
Panorama zuwirft
jemand
fragt

aber, merkst du
der Himmel liegt
auf der Iris
auf


Anja Bayers Gedichte sind fragile Gebilde, deren Bedeutungsreichtum sich oft aus wenigen Worten speist. Manchmal glaubt man, wenn man ein Gedicht erneut hört oder liest, einen völlig anderen Text vor sich zu haben. So erschaffen Wortfindungen wie Lungenstreu, Buchbuche, Flüsterflug oder Jagdmutter in ungewöhnlichen Wortkombinationen ihre ganz eigene, ganz individuelle Poesie, mithilfe derer immer etwas ausgelotet wird – z. B. Rollen und Beziehungen: zu Gott, zu anderen, zum Partner, zu sich selbst. Worte wie erb sen ki chern erfahren sogar innerhalb der Buchstaben noch Aufladung. Manchmal ist es nur eine Letternverschiebung – wie im Wort leiblich, auch im Gedichtbandtitel ungewusstes fell – die auf diese Weise noch etwas anderes zum Mitschwingen bringt.

Gleich der Titel des ersten Kapitels, Tulpenschorf, kündigt an, dass es darin um Verwundung geht, um Verletzlichkeit, auch um Genesung. Es geht unmittelbar sofort unter die Haut, – ein Bild, bei dem man sich vorstellen kann, dass Tulpen einen Schorf überwachsen oder selbst dieser Schorf sind. Die lyrische Stimme in den Gedichten hofft somit auf ein ungewusstes Fell, welches sie ein Stück weit auch vor etwas bewahren möge
³; dennoch ist diese Schutzhülle nicht einfach automatisch sprich unbewusst vorhanden, sondern sie ist mehr, und vielleicht wusste das lyrische Subjekt gar nichts von seiner Existenz. Ein Schutz also – vor der Unbill der Welt? Es gibt etwas Idealistisches in diesem Hoffen, das fast religiöse Züge annimmt. Ein Sich-Aussöhnenwollen mit Verwundung ist darin.


Wundzeichen und Heilungs
zeichen Doppelspur von
Versehrung Gesundung gleich Wesen

der Narbe cicatrice


chirurgisch-psychiatrisch lebens
verlängernder Bauchschnitt
die Operationsfläche darunter
fußballfeldgroß Narbe
die den Nabel umfährt
war Blume ists nicht mehr wird Nabe
ein paar Umdrehungen des Rads noch
grasüberwachsen bald

wird Gras drüber wachsen
was wir uns antaten an
Taten und
Unterlassungen


Das zunächst körperliche Bild springt zum Ende auf die Beziehungsebene. Auch auf dieser Ebene kann Heilung geschehen. Mit Religiösem wird immer wieder gespielt, denn natürlich sind Wundzeichen mitsamt allen Konnotationen der Verwundung im christlichen Glauben ein Thema. Es gibt verschiedene Hinweise, inwieweit sich die Autorin mit christlichen Inhalten auseinandergesetzt hat.

Herzmuskelebene
Flüsterflug
die Stichkappentonnen
der Saalkirche
Mondsichel-
madonna

         johannes-lukas-
        markus-matthäus
die Mopsfledermaus
steht dem Adler ja
nicht nach
       der zur Sonne steigt
die den Flüsterflug
durchführt



Darüber hinaus finde ich in Anja Bayers Gedichten auch viele Aspekte, Bildwelten und Themenbereiche, die sich kaum oder gar nicht mit religiösen Inhalten befassen und die aus meiner Sicht sogar überwiegen. Der Themen sind viele, und gerade durch die oft mehrfachen Konnotationen der Bilder werden die Gedichte zusätzlich mit Topoi und Inhalten angereichert.
Es geht um Kunst, um das Anthropozän
, um Beziehung und Freundschaft, um Mann und Frau, um Krankheit und Gesundung u.v.m. – in einer ganz eigenen Sprache: insgesamt ein eigener Sprachkosmos, der mir in dieser Form nicht begegnet ist. Woran liegt das?

dürr
kränzt
sich mein Widerspruch
wider
Sog und Traute
wieder
Halt
und rate ich dicht



Buchbuche: an jedem Ast ein Äußerstes
vor dem Himmelsgrund

In minimalistischen (fast möchte ich sagen:) Vignetten wird die Welt ertastet. Dabei passiert es, dass das zu Beschreibende auf Mehrfachkomposita zusammenrückt und stark verdichtet wird. Oft bleiben Worte stehen, jeglicher prosaisch anmutender „überflüssiger“ Rest wirkt weggewaschen, nur das Unabdingbare, das Essentielle, die (existenziell relevanten?) Kernstellen bilden das Gedicht. Dadurch bekommen sie eine strenge Form. Und obwohl die zusammengefügten Worte oft demselben Diskursraum, also derselben „Fachsprache“ entstammen, entstehen doch wie in einem Wortkaleidoskop durch andere „Zusammenschüttelung“ neue Fügungen und Findungen. Diese sind, im Gegensatz zum immer weiter drehbaren Kaleidoskop-Bild, nie beliebig und auch nicht austauschbar. Bei allen Texten spürt man die Arbeit, wie sehr da immer wieder jedes Wort neu abgewogen und taxiert worden ist.

in meinen Schößen
legst du
ein großes Gesicht zurück


Nichts bleibt dem Zufall überlassen. Wo andere Dichter*innen an ihre Texte aleatorisch herangehen oder mit einem gewissem Laissez-faire einfach Dinge stehenlassen, weil sie eben gerade mal so dastehen
und „ganz witzig“ erschienen, scheint hier kein Zeilenumbruch zufällig oder unschlüssig stehen gelassen worden zu sein. Zumindest erweckt es auf mich nicht den Eindruck, sondern alles wirkt bewusst inszeniert, in Szene gesetzt. Hierdurch gewinnen vor allem die kleinen Gedichte, die eher Miniaturen sind, besonders an Charme.

mit dem Küchenmesser
durchdrungen die
                     Botschaft

des Lichtklöppels

Zu vielen Metaphern und Bildern wie hier zum Lichtklöppel gibt es im Kapitel Maßholder-nicht-maßhalten-Herzliebchen-sources-et-ressources-Nachtext Anmerkungen der Autorin.

Ich bin sehr angetan von Anja Bayers Gedichten. Lese ich sie, fällt mir vor allem auf, wie ungerecht ich selbst geworden bin. Ganz am Anfang dachte ich, naja, das war doch alles schon mal da, das ist auch – wie ich gerne sage – „schmal“, hat also wenig „Fleisch“, dafür viel Inneres, viel Verborgenes. – Ist das alles zeitgemäß? Modern? Ich hatte da meine Zweifel. Um solche Dinge drehte es sich in meinem Kopf. Die ersten zwei Minuten. Mir wurde während dieser ersten zwei Minuten klar, dass ich mich mit „sowas“, also mit derartigen Verdächtigungen, grandios verrenne. In meinem Hirn fuhren derweil die Schutzschilde zur Idyllen-Abwehr hoch und meldeten zackig: Firewall aktiv. Rührungsaffekt abgewendet. Alles unter Kontrolle. Allein Denken bringt bei Gedichten nicht immer weiter. Es gibt immer auch eine Ebene, wo etwas Emotionales passiert, die anrührt. Gleichzeitig komme ich damit an einen Punkt, wo meine sprachkritischen Bedenken nicht greifen.


Stich mit glattem Faden
frühe Pixeltechnik an-
gekreuzte Bildpunkte
folgen dem vorgegebenen Muster

(...)

Häufig geht es um weibliche Themen, Mutterschaft wird thematisiert. Ein Fragment aus Jimi Hendrix' Stück Purple Haze scheint hier verwendet, hier sind die Bilder teils schmerzhaft; eine Mutter wird zum Schräubchen appliziert ...

stupid.
while I kiss
                  the sky

Jagdmutter
und schräubchen
Stäub-
chen

Tieraugen im Glas

drüber sehn wir uns
zart
in der Tat


Texte wie dieser sind für mich anfangs eine Art Einstieghilfe gewesen, weil da gefühlt noch mehr sein musste von einer Ebene, die ich ad hoc nicht gleich gefunden hatte. Es gab „unscharfe“ Ahnungen. Vor denen habe ich oft auch ein bisschen Angst. Doch ich habe gelernt zu warten. Abzuwägen. Immer will ich wissen, warum etwas so ist, wie es ist. Wenn Gedichte nicht sofort für mich etwas aussagen, frage ich: Was geht da vor sich? Das ist spannend. Man weiß es ja inzwischen: Nichts ist, wie es ist. Bei Gedichten ganz besonders. Ceci n'est pas un poème. Immer unter der Maßgabe, dass das intendiert ist. Mich selber als Maß aller Dinge herzunehmen und zu konstatieren, dass Texten etwas fehlt … wie fad! Was hindert mich mehr daran zu sehen, was da wirklich ist? Voilà.

blankschwitze ich mich
durch deine
Falten hin zu
der Unruhe
die mich gestern befiel

habe die Mundwinkel
durcheinandergebracht



du sagst mir
ungewusstes Fell

So lautet das Titelgedicht aus dem Kapitel ungewusstes fell. Gerade in diesem Kapitel zeigt sich die kompositorische Absicht der Autorin, die unter die 12 einstrophigen Gedichte – wie sie in freier Form zumeist im oberen Drittel der Seite stehen – jeweils einen in die untere Hälfte der Seite abgerückten Zweizeiler ergänzt, der das vorherige mitunter spiegelt, hie und da konterkariert oder um eine neue Facette ergänzt.

Ich musste bei den Versen eines solchen Zweizeilers, Wer übersetzt mir die Lider der Ahnen / ins Jetzt der letzten Nacht und der nächsten?, an Paul Celan und dessen Hermetik denken. Gerade die Lider der Ahnen (die man wohl im ersten Lesen als Lieder der Ahnen liest – und falls nicht, schwingt das mit!) erfahren eine doppelte Aufladung. Diese Mehrfachaufladungen sind gewissermaßen ein Kennzeichen dieser Gedichte. Nicht nur durch Komposita und Genitivmetaphern, auch durch eine Häufung der Konnotationen auf engem Raum werden sie erzeugt. Es geht nicht nur um Sprache. Wenigstens nicht um rein Sprachgeneriertes. Da, wo momentan der Inhalt des Gedichts schon generell in Frage steht, empfinde ich die Gedichte von Anja Bayer mit ihrem (wie ich es lese) idealistischen und schier unerschütterlichen Glauben an Bedeutung sehr mutig.


76 pt. Wandschrift
auf Englisch
no, no

ich habe mein Lachen nicht gefilmt
sondern die Knie
mit hineingezogen
no     no      no      no

im Rücken das Foto
vor dem Foto
lebt's gesehen


Die Gedichte arbeiten „nah am Ideal“; d. h. sie evozieren Ideale und zeigen dahinter eine Utopie, auf die hin sie in Beziehung zu setzen sind. Im Gegensatz dazu gibt es in zeitgenössischen Gedichten, je mehr sie sich der Postmoderne zugedacht sehen, selbiges nicht. Und dort, wo sich das Ideal entfernt, wo es mit der Utopie abwärts geht, muss man als Leser*in das aushalten können und wollen. Störungen bedeuten Stress.

Wundertausch Teergeplausch Herbst-
blätterei

ich tropfe.
mich dir in die Hände, Mädchenge-
lenke umschlage sie
mit Dunkelheit bette dich
auf Maronen

unter dem Kitsch
haben zwei sich
wirklich
gegrüßt

liegst grell auf den Maronen


Das Auf-der-Suche-Sein ist für mich ein Wesenskern dieser Poesien, zart tastend und idealistisch, beinahe spirituell Dinge aufzuspüren, die jenseits einer Alltagswahrnehmung existieren. So wird sich auch in Wortrückungen an ein Gegenüber herangetastet, an ein Du. Immer erkenne ich einen Forscherdrang, ein Erkunden-Wollen und sogar eine Art Mathematik des Zwischenmenschlichen in einigen Gedichten.


Aus dem Kapitel an stelle der rippe:

(...)
das freiwillig erschwommene
Fangnetz
einer dir hörigen Zäsur
Verharren
im mathematischen Blick der noch
zu zeichnenden Zeichung
Gegenständliches

(…)


Aus anderen Lesererlebnissen kommend könnte jemand die Texte naiv nennen. Das aber wird ihnen, wie ich meine, nicht gerecht. Denn was wäre GEGEN ein Auf-der-Suche-Sein, ein zartes Tasten, mit all seinen Unvoreingenommenheiten und Idealismen einzuwenden? Andere Texte mit unterkühlt(er)em Wortmaterial haben momentan zwar eine höhere Diskursmacht. Die Schwierigkeit allerdings ist umso größer, trotzdem über Schönheit, Zartheit und Idealisches im menschlichen Miteinander zu schreiben. Oft wird die Auseinandersetzung damit gescheut, und das Unterkühlte ist nur Schutzschild.

Es gibt das Feuer des Neuen, unbeklommen, nonchalant – und die Euphorie des Neuen. Aus dem Kapitel Zuckerzungen:

Gott grüßt
im freien Raum
schral
un


günstig
und trunken
das wuchert fett-
glänzend zur Seite
Jemandem
damit anderes
triftig
trift ich:
das ist nicht sicher


In diesem Gedicht wie im ganzen zugehörigen Kapitel meine ich zu sehen, dass hier zum Teil auch gegen die eigene Poetik angeschrieben wird. Zeitgenössische Diskurse werden ebenso konterkariert wie Harmoniewunsch, religiöses Empfinden und das Verhältnis zwischen Mann und Frau.

an Stelle
der Rippe
aus der du gemacht bist
lege ich Hand an
dich
pochend
die Antwort
deines Geschlechts
pochend
auf dein Gelübde
mein Recht
spricht
dich ganz in dich
ein


Anja Bayer schreibt vorsichtige Gedichte, behutsam arrangiert, und sie gehen auch mit ihren Lesern behutsam um, d. h. es wird  ihnen (so wenigstens mein Empfinden) nichts Krasses, Extremes zugemutet, was diese vielleicht nicht lesen möchten. Trotz einer gewissen Strenge der Komposition durch strenge Wiederholungen und Synkopen gibt es etwas, das „impressiv“ und leicht(füßig) an ihnen ist, etwas, das die Texte auflockert. Noch einmal zwei Gedichte aus dem Kapitel Zuckerzungen:

unge
faires Zitat:
das immer nur groß und
niemals klein geschriebene
Ich – I –
erlaubt auch
dem anderen
die Distanz



Zungenausschnitte
Himmels
Trumm
ich hab mich verschrieben


Alles in allem habe ich Anja Bayers Buch zweimal gelesen und mit ihren facettenreichen Gedichten mehrere Tage verbracht. Das sind sie wert. Es ist ein leichtes, schwieriges, lächelndes, trauriges, schönes, auch wegweisendes Buch.


¹ Der Band ungewusstes fell ist reihe staben [nr. 06].

² ausstattung, satz und umschlag [unter verwendung von Radierungen aus der verfahrensgruppe nr. 12 mcloops von olaf probst – (aus dem Begleittext).

³ Gemäß der Redewendung: ein dickes Fell haben.

Vgl. hierzu den Film: "La cicatrice interieure - Die innere Narbe", 1971, F, Regie: Philippe Garrel. 1971 ist zugleich das Geburtsjahr der Autorin.

⁵  Die Mondsichelmadonna ist in der Ikonografie ein eingeführter Begriff, siehe

Für die Sonderausstellung zum Anthropozän des Deutschen Museums kuratierte sie in Kooperation mit dem Lyrik Kabinett eine Lesung zum Welttag der Poesie. 2016 erschien bei kookbooks die von ihr initiierte Anthologie Lyrik im Anthropozän, die sie gemeinsam mit Daniela Seel herausgibt.
⁷  Es kann auch ein situatives Spiel sein, etwas spontan Entstandenes einfach zum Gedicht zu deklarieren, eine Art Findling, der in all seiner lapidaren Groteskität des just Entstandenen enorme Kraft hat.
Im angehängten Kapitel wird das Wort schral erklärt: |schral schrieb sich von selbst hinein und musste nachgeschaut werden im etymologischen Wörterbuch. dort fand ich es nicht. im Duden aber und da merkte ich, dass wir auf See waren, denn schral heißt ungünstig in der Sprache der Seeleute und gilt dem Wetter.|


Anja Bayer: ungewusstes fell. Gedichte. Frankfurt a. M. (gutleut verlag - reihe staben #6) 2016. 80 S. 17,00 Euro.

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