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Andreas H. Drescher: Der Lerchen-Ivan

Montags=Text
Foto: Werner Richner
Andreas H. Drescher

Der Lerchen-Ivan

(Textprobe aus dem Roman: Schaumschwimmerin)


So reißen sie sich schließlich ebenfalls die Kohlen direkt vom Waggon unter den Nagel. Oben am Eisenbahnschacht. Und raffen sich nicht mehr die Hände rissig an den paar Brocken, die noch unterm Abraum der Halde zu finden sind. Dort ist ihnen unheimlich. Weil in dem kleinen Waldstück gleich unterhalb, auf das man immer zu rutscht übers lockere Geröll, der Lerchen-Ivan verscharrt ist ohne Kreuz und Messe. Und nicht nur der.
                                                   
Der Lerchen-Ivan, ein russischer Zwangsarbeiter, konnte das Pfeifen im Stollen nicht lassen. Nicht einmal, als die Bergleute Steine nach ihm warfen und ihn in die übelsten Schlammecken stellten. Er hob nur ganz bleich die Schultern und stotterte, er habe gar nichts gemerkt davon. Es nahm ihm aber kein Mensch ab, dass er ohne Gedanken gepfiffen haben wollte. Deshalb machten sie ihm das Leben immer schwerer. Am Schluss gewöhnte er sich an, beim Arbeiten den Kopf einzuziehen, der Prügel wegen, die wie aus dem Nichts auf seinen Rücken herunterprasselte. Denn wenigstens ein gehauchtes Pfeifen zischte ihm beim Arbeiten immer durch die Zähne.
                                                            
Manche Bergleute kreideten ihm das übel an. Weil das Pfeifen verpönt war untertage. Obwohl kein einziger von ihnen mehr glaubte, das hohe Tönen mache dem Berggeist Lust, mit Findlingen und Geröll nach den Kumpel zu kegeln. Sie trugen diesen Aberglauben nur noch als leere Hülse in sich und behandelten ihn doch wie ein altes Erbstück, an dem sie umso unbarmherziger festhielten, je weiter sie sich von seinem Ursprung entfernten. So winkten sie nur ab, wenn die alten Hauer ihnen erklärten, die Berggeist-Geschichte komme daher, dass einmal so viel Ruhe in der Grube war, dass man das schlimme Gas durch die Fugen hatte pfeifen hören können. Wer dann die Beine in die Hand genommen habe, sei noch herausgekommen.
                                                         
Keiner hörte ihnen zu, den Alten. So galt der Glaube, dass in der Grube keiner zu pfeifen habe, wenn nicht allesamt den Hals riskieren wollten, noch bis tief in die Zeit hinein, wo das Fiepen des schlimmen Gases ohnehin übertönt wurde vom Dröhnen der Maschinen. Selbst den Lerchen-Ivan hörten sie nie wirklich pfeifen, sahen ihn nur die Lippen stülpen.

Der junge Weißrusse, den seine Häscher einfach von der Straße weggegriffen, in einen Viehwagen gezerrt und zur Zwangsarbeit nach Deutschland geschickt hatten, der Bäckersjunge, der mit seinen dreizehn Jahren nie gehört hatte von Grubengeistern und Grubengasen und der sich unwillkürlich die Angst vor der Dunkelheit fortzupfeifen versuchte, wie zu den Zeiten, wenn er nachts zur Arbeit ging durch die hohen Sonnenblumenfelder und sich vorm Drachen-schlangenkönig fürchtete, den selbst das Mondlicht ärgert. Der Lerchen-Ivan, der nicht einmal Ivan hieß, sondern Boris, fühlte sich in der Grube bald wie in der Höhle des Drachen-schlangenkönigs.

Weil er nicht begriff, warum der junge Steiger so ihn hasste für das bisschen Lippenstülpen, als sei nicht der Abbau der Kohle, sondern dieser Hass seine eigentliche Arbeit. Samt seinen Landsmännern schickte er ihn in die gefährlichsten Kriechgänge. Die anderen würden ihm schon einheizen, glaubte der Steiger. Als ihm jedoch aufging, dass die Russen danach nur umso stärker zusammenhielten, kannte seine Wut kein Halten mehr. So stieß er sie zurück ins Gas, als sie schon halb erstickt in die Stollen zurückwankten. Er behauptete, sie hätten im Kriechgang Schienennägel vergessen. So mussten sie zurück und zurück. So lange, bis unter denen, die es nicht mehr zu den Fahrtensprossen schafften, auch der Lerchen-Ivan war.

Neun Männer verscharrten sie mit dem Steiger nachts zwischen den Bunkern am Eisenbahnschacht. Der Steiger lachte ins Dunkel: „Jetzt hat er ausgepfiffen!“, als sie den Boden festtrampelten und Sträucher darauflegten.

Gretas Bruder Eugen einer von ihnen. Mit einem Kloß im Hals. Weil er unter Tage den Mund nicht aufbekommen hatte und nun bei jedem Pfeifen, wo auch immer, den Lerchen-Ivan vor sich sah. Er war nicht der Einzige, dem es das Herz zusammengezogen und der doch kein Wort herausgebracht hatte, als der Junge kujoniert wurde. „Warum haben wir nur die Zähne nicht aufgekriegt?“ Sonst hatte Eugen für den Weißrussen getan, was er konnte. War mittags in der Kantine geblieben, bis die Zwangsarbeiter ihr Essen auf dem Teller hatten. Damit der Koch ihnen kein Wassersüppchen einkellen und das Fleisch unter der Hand verscherbeln konnte. Der Lerchen-Ivan sah das und lächelte Eugen zu, während er die Suppe löffelte. Als aber die ersten Steine nach ihm geflogen waren und Eugen nur mit hängenden Armen dabeigestanden hatte, schob er dessen Hand, als der ihm später sein Käsebrot hinhielt, ganz langsam von sich fort.
                                                            
Lange hatte sein Stolz keinen Bestand. Als er eines Sonntags im Dorf herumstrich und sich am Bach niederkauerte, um Kresse zu essen, da sah er auf, als Eugen ihn rief, und kam, wenn auch stockend, ins Haus. Um Rhabarberkuchen zu verdrücken, dass allen das Herz aufging. Bald kam er jeden Sonntag, streckte den Kopf zur Tür herein und machte sich über das Fleisch und die Kartoffeln her, die Gathchen ihm warmgehalten hatte.
                                                          
„Eine Schande war das. Kaum hatten wir den Lerchen-Ivan so aufgefüttert, dass ihm der Hunger nicht mehr aus den Augen sah, da schliff ihn der Steiger Amberg bis in den Tod. Nicht mal richtig beerdigt haben sie ihn. Einfach eingebuddelt, ohne Kreuz und ohne Namen. Daran musste Eugen jedes Mal denken, wenn wir Kohlen raffen gingen am Eisenbahnschacht.“


Aus Andreas H. Drescher: Schaumschwimmerin. Roman. Saarlouis (Edition Abel) 2021. 212 Seiten. 19,90 Euro.

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