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André Schinkel: Zwei Prosatexte

Montags=Text
André Schinkel

Neue Prosa aus "Die Schönheit der Stadt"


Die Aussicht

Jahre hatte ich gesät und keine Ernte eingefahren. Alter, fruchtloser Samen, den ich in jedem Frühjahr mit neuer Hoffnung in die Erde brachte, wurde mir angedreht, altes, brüchiges Gerät. Ich war schon verzweifelt. Aber irgendwann stand die erste Ähre im Unrat; und nun hoffe ich, im nächsten Frühjahr, wenn ich das Korn über den Winter bringe, ein winziges Stück Land damit wirklich zu bestellen. Das ist die Aussicht, und sie versorgt mich für die zu verwartende Zeit mit Visionen und Versen; und solange ich noch über einem Tee sitzen kann, sind meine vollgeschriebenen Hefte schon so etwas wie eine erste, sichere und heimliche Ernte.



Hohltaubenlied

Ein Hohltaubenmann rief, aber sein Weibchen kam nicht. Es hatte den Winter nicht überstanden und lag mit gebreiteten Flügeln abseits im Gesträuch. Aber das Männchen wollte das nicht wahrhaben und rief und rief. So blind vor Verleugnung und Bezweiflung war der Mann, daß er nicht sah, daß längst ein fast ausgefärbtes Hohltaubenmädchen immer ganz in der Nähe seines Asts saß, ihn bei seiner Hartnäckigkeit bewunderte und sich vom ersten Ruf an in sein lockendes Lied verliebt hatte, weswegen der jungen Taube bei jedem Laut seines Gurrens das kleine Herz unter dem graublauen Gefieder bebte.


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