Direkt zum Seiteninhalt

André Schinkel: Ein Minotaurus

Montags=Text
André Schinkel

Ein Minotaurus


Er nennt, was er in sich trägt, Atem, einen schweren, unstillbaren Hunger nach Fleisch. Es ist ihm nicht um die Speise. Sondern die Lust.
      Da der Minotaurus labyrinthisch lebt, in Irrgärten und Höhlen, in Gemäuern und Träumen, ist sein Verhalten nahezu unerforscht; nicht einmal er selbst weiß um die Verborgenheit seines Tuns; ihn greift manchmal die Wut darüber, daß er die Menschen bedroht und ihnen junges Fleisch abfordert, herangewachsene Mädchen, denen er brüllend durch die Labyrinthe seiner jeweiligen Behausung nachjagt.
     Das, sagen die Menschen, wäre sein eigentliches Verhalten. Zu jagen. Dabei hat niemand je den Überrest einer Jungfrau gesehen.
   Der Minotaurus erinnert sich nicht, jemals eine der Jungfern angerührt oder gefressen zu haben. Er jagt, wenn er den Jungfrauen-Duft in den Irrgängen bemerkt, diesem nach, verliert sich im Jagdrausch, brüllt, tobt, gleitet und schleudert um Ecken, irrsinnig, kopflos, im Leib seines Fleisch-Irrsinns gefangen, unüberlegt, ein entfesselter Dämon, dem Untergang zurennend, wie er selbst meint, denn nichts fürchtet er mehr als eine Begegnung, ein Zusammentreffen, plötzlich, mit denen, die er ins Verderben fordert.
   Er ist sich letztlich unbewußt sicher, daß ihn nur die Verlegenheit zur Bestie antreibt. Die Schmähungen der Menschen kränken ihn nur; seine Strafen sind hart aufgrund seiner Hilflosigkeit. Ihn kränkt, daß sie die Schatten seiner Festung meiden, am Tage; ihn kränkt, daß er sich ausdenken muß, wie sie über ihn lästern, nachts, in ihrer Trinkseligkeit.
    Er würde mit ihnen sitzen und trinken und lästern, abends, unter der rauchenden Lampe. Sie haben ihm aber als Wein ihr Blut zugeschrieben, und sie gehen ihm seitdem aus dem Blick. Die Menschen sind, seitdem sie dem Minotaurus Bosart zuschreiben, auf der Hut. Bei jedem ihrer Wächtergänge durch ihren grämlichen Ort zittert der Minotaurus gedemütigt vor Zorn: Ihn, ihren Herrscher, bewachen sie schon! Ihn, der von ihnen nichts weiter verlangt als ihren Blick auf sich ruhend! Aber sie sehen ihn nicht. Sie schicken ihm jährlich ihren Tribut Jungfern und Speisen hinein, an seinen Fluchtort; die Menschen dringen ein in sein Reich, das der Sommersee gleicht, bis zum Tributtag. Und der Minotaurus rührt nichts davon an, lediglich die Jungfern gehen im Hunger an die Opferspeisen, essen aus den ihm geweihten Körben sich satt, stillen an den Obstbeigaben den Durst. Er fordert schon lange nichts mehr. Er ist des Forderns müde. Die Versöhnung mit ihnen wäre ihm lieb; alle die halbverhungerten, gealterten Jungfern würde er aus seinem Labyrinth vertreiben, in die Menschen-Obhut zurück; niemals, bei seiner Scheu, hätte er eine berührt; und noch jetzt dreht sich ihm der Magen, rebellieren die Vormägen, wenn er sich vorstellt, sich am faltigen Fleisch eines jammernden Dutzends Jungfrauen zu laben, hier, in den unendlichen Gängen des Labyrinths, wo ihn niemand bemerkt hätte, ohne diese seine frühe, sinnlose Wut; wo ihn niemand hätte gebraucht. Außer er sich.
    Ihm bleibt der Blick auf das Meer. Auf einer halboffenen Terrasse am Ende des Labyrinths sitzt er oft, monatelang, mit den wachsenden und darrenden Monden, versunken, den starken, dreifaltigen Nacken in einem trüben Blick verkrampft und stiert in die Ferne. Das Schreien der verhungernden Jungfern, ihre huschenden Gestalten, die röchelnden Wege, zu schleichen, sich einen Ausgang zu erschleichen; und ihre Ausrufe der Enttäuschung, ihr Geheul mißbilligt er manchmal mit einem unwirschen Kopfruck. Er fühlt sich von ihnen gepeinigt, bewacht. Er könnte noch brüllen, denkt er, aber er weiß, sie würden ihre Lichter auf ihn richten, die Stimme würde ihm brechen.
     Er sitzt nur, stoisch, und sieht auf das Meer. Er wäre nicht der Herrscher der Insel, wünschte er sich an einen anderen Ort. Auf eine andere Insel. Und er weigert sich am Tag, die Stimmen der im Labyrinth noch immer irrenden Greisinnen zu hören. Verweigert sich den Nicht-Blicken der Menschen. Sitzt nur und sieht auf die See, versitzt, verwartet den Sommer, in dem Schiffe sich scheu um seine Insel drücken.
   Dort wütet der Minotaurus, heißt es in den Kajüten. Erschreckt es die Jungen im Mastkorb. Aber der Minotaurus wütet nicht mehr, er rutscht auf seinem Diwan herum, und schweigt in das nun auch schweigende Labyrinth, der schweigenden See zu. Er ist friedlich, ist ja das friedlichste Wesen der Insel. Ihn fürchten die Menschen.


Zurück zum Seiteninhalt