Alice Oswald: 46 Minuten im Leben der Dämmerung
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Timo Brandt
Die eiserne Klarheit
der Gewalt, das Zwielicht des Lebens
„Da ist das Loch in dem Helm unterm RandWo die Speerspitze eindrangUnd in seiner Stirn stakUnd das Dunkel über seine Augen goss[…]Das was ihr Lebenslicht hier ausgelöschtUnd der Beginn ihrer langen Nachtschicht in der Unterwelt“
Es gibt einen wunderbaren Essay von Simone Weil mit dem
Titel „Die Ilias oder Das Poem der Gewalt“ (zu finden in dem Band „Krieg und
Gewalt“ bei Diaphanes, wo in den letzten Jahren erfreulicherweise einige Bände
mit Schriften dieser wichtigen Denkerin und Philosophin erschienen sind). In
diesem Essay setzt sich Weil mit der Unausweichlichkeit und der seltsamen
Gerechtigkeit der Gewalt in Homers Epos auseinander.
Sie legt sehr gut dar, dass Gewalt und Macht in der Ilias
nicht durchgehend von einer Person verkörpert werden – wer eben noch siegte,
der ist kurz darauf (oder auf längere Sicht) der Besiegte. Das ist die der
Gewalt innewohnende Konsequenz: sie richtet sich schnell gegen jene, die sie
eben noch ausübten. Niemand kann sie beherrschen, ihre Herrschaft ist autonom
und ihre Günstlinge sind vielleicht morgen schon ihr Opfer.
„Die Gewalt macht jeden, der sie erleidet, zum Ding. Wird sie bis zur letzten Konsequenz ausgeübt, macht sie den Menschen zum Ding im wortwörtlichsten Sinne, sie macht ihn zum Leichnam. Da war jemand, und mit einem Mal ist da niemand.“
Ich weiß nicht, ob Alice Oswald den Essay von Weil gelesen hat. Im Vorwort zu ihrem Langgedicht „Memorial – Eine Ausgrabung aus der Ilias“ spricht sie davon, dass der Text eine Übertragung der Atmosphäre der Ilias ist. Dies läuft aber am Ende auf etwas hinaus, das wie eine poetische Variante von Weils Darlegungen wirkt.
Das Langgedicht beginnt mit einer über mehrere Seiten laufenden Liste von Namen. Es sind die aller Männer, die in der Ilias (namentlich) erwähnt werden – oft nur in der Szene, in der sie zu Tode kommen, durch das Schwert oder den Speer eines anderen. Ihre Namen haben hin und wieder Zusätze, die ihre Herkunft beschreiben, manchmal auch eine dünne Biographie. Oswald berichtet in „Memorial“ von ihrer aller Sterben.
„DIORES Sohn des AmarynkeusGetroffen von einem geworfenen SteinStarb im Matsch der eigenen EingeweideIn den Schlamm gestoßen liegt erDie Arme nach seinen Freunden ausgestrecktUnd PIROOS der ThrakerMan erkennt ihn an seinem ZopfLiegt neben ihmEr tötete ihn und wurde getötet“
Name um Name wird aufgezählt, manchmal werden sie in Gruppen
zusammengefasst, dann wird wiederum ein Einzelschicksal geschildert. Oft wird
nur der Augenblick des Todes/Tötens umkreist, aber manchmal wird auch ein
Ausblick auf die Lebenswelt gegeben, die mit diesem Menschen in diesem
Augenblick zu Ende geht – dann treffen das Weitläufige des Seins und das Rasche
des Todes aufeinander, unbarmherzig, ergreifend, die Fassungslosigkeit der
Sterbenden und der lebenden Angehörigen einfangend.
„AXYLOS Sohn des TeuthrasLebte sein Leben im lieblichen Hafen von ArisbeMit Blick auf den HellespontJeder kannte den fülligen MannDer bei weit geöffneter Tür auf der Schwelle saßEr der seine Freunde so liebteStarb an der Seite des KALESIOSBenommen vor EinsamkeitIhr Gespräch unbeendet“
Abgelöst, in einem Wechselspiel, werden diese
Schlachtmomente und Porträts jedes Mal von metaphorischen, sehr fern wirkenden
Naturschilderungen (ebenfalls aus der Ilias übertragen), in denen meist die
ursprüngliche, fast schon zarte Gewalt der Elemente und Tiere auftritt; diese
unbestimmte, lebendige Gewalt, in der die Menschen nicht Handelnde, sondern
höchstens Zeugen oder Opfer sind.
Beginnen tun diese Intermezzi meist mit einem „Wie“ oder
einer ähnlichen, einen Vergleich aufmachenden Geste, und in fast allen Fällen
werden sie gleich noch einmal wiederholt, beschwörend, verdeutlichend, aber
auch entzogen durch die Wiederholung (Oswald trägt ihre Gedichte auswendig vor
und zum Vortragen sind sie gedacht – auch dieser Tatsache sind die
Wiederholungen geschuldet).
Ein paar Beispiele:
„Wie der Falke der Berge der vollendete TöterDie flatternde Taube schnell überholtSie taucht ab doch er folgt ihr und rütteltStreckt seine schwarzen Krallen nach ihr ausUnd umgarnt sie mit einem dünnen SchreiDer ihre Weichheit preist“
„Als wäre es JuniEine Mohnblüte vom Regen gebeuteltLässt ihren Kopf sinkenGanz genauso sieht es ausWenn der Hals eines Menschen knicktUnd die bronzene Kalyx seines HelmsSeinen Kopf niedersenkt“
„Wie das Schimmern einer DünungDie sich geräuschlos hebt und senktWenn das Wasser dem Wind weichtUnd von seinen Stürmen träumtRiesige Wellen hängen verhaltenUnschlüssig wohin sie fallen sollenBis eine Brise sie zerstäubt“
„Wie Rauch der die Erde verlassen aufwärts entschwindetWenn man auf einer fernen Insel eine Stadt belagertDen ganzen Tag morden Männer einander vom Krieg berauschtDoch bei Einbruch der Nacht Stille nur die Finger der FeuerDie ihre Frage an das Festland erhebenIst dort jemand bitte helft uns“
Ich finde den ganzen Text absolut großartig. Es ist eine
erstaunliche Dichtung (und als solche ungeheuer schön und schrecklich, markerschütternd),
die zugleich eine wichtige Lektion birgt: Die geschilderten Tötungen offenbaren
die wahre Dimension der mörderischen, der erzeugten Gewalt, die in den
Videospielen und Blockbustern unserer Zeit meist verschwindet hinter
Inszenierungen von Lässigkeit, Unverwundbarkeit jenes Helden, der tausend
Gegner niedermäht, dem Faszinosum von diabolisch-fetischisierter Grausamkeit,
obszönem Sadismus, Heroismen, etc.
(Ein Gegenbeispiel sind, in dieser Hinsicht zumindest, die
Bücher von George R. R. Martin und deren Verfilmung in der HBO-Serie „Game of
Thrones“ – hier hat die Gewalt einen nahbaren, ultimativen Schrecken und
niemand ist vor ihr gefeit, es gibt kaum Helden/innen, die meisten sind
schlicht Überlebende.)
Oswalds Gedicht ist nicht rücksichtlos, sondern die
dargestellte Gewalt ist es, die das Leben aus den Namen, den Körpern, den
Gestalten, dem Zusammengehören reißt. Ihr Gedicht ist nicht brutal, nur sehr
präzise bei der Darstellung ihres Themas: des Krieges, in den all diese Männer
– namentlich bekannt, aber eigentlich namenlos, weil tote Körper, nur noch
lebendig in den Erinnerungen und Tränen ihrer Mütter, Väter, Frauen und Kinder
– zogen, gekommen, um zu sterben.
„Und PEDAIOS der UngewollteFehltritt der Mätresse seines VatersSpürte im Nacken den heißen Stoß von Meges‘ SpeerUnbezwingbaren metallenen Halsschmerz im MundMitten durch seine ZähneIm Sterben biss er auf die Speerspitze“
Neben diesem Langgedicht befinden sich in dem Band noch
einige Einzelgedichte unter dem Titel „Fallen – Erwachen“. Es sind fein-fragile
Erforschungen von Alltagsphänomenen, etwa herumsurrenden Fliegen, aber auch Sagenstoffen,
wie Orpheus abgetrenntem Kopf, der den Fluss hinabtreibt, oder des eigenen
Schattens:
„sehr nur wenn ich geheähnelt er einer schere die die sonne mir nachwirftund jetzt als hätt ich meine haut nicht richtig eingestecktist mir kalt kaltversuche zwar meinem schatten zu entgleitendoch stunde für stunde läuft mehr schatten aus.“
Diese Einzelgedichte mäandern vor sich hin, werden immer wieder
für eine kurzen Moment massiv von Emotionen durchzuckt: Abscheu, Furcht,
Wehmut, Zögern, Freude, Fahrigkeit. Nach der großen Kraft von „Memorial“, muss
ich zugeben, war ich nicht ganz zugänglich für den feingewebten Auftritt dieser
Lyrik, der zerfasert wirkte – dennoch gibt es auch hier einige Entdeckungen zu
machen.
Den Schluss bildet ein weiteres Langgedicht, das titelgebende
„46 Minuten im Leben der Dämmerung“. Es geht auf den Mythos des Tithonos
zurück, in den sich die Morgenröte verliebte. Sie bat Zeus, ihn unsterblich zu
machen, vergaß aber ihn zu bitten, dass er nicht altere. So wurde Tithonos
immer älter und schließlich verbarg sie ihn in einem Zimmer, wo er bis heute
sitzt, vor sich hin brabbelt und in den Nächten auf ihr Erscheinen wartet.
Oswalds Gedicht besteht aus Fetzen seines Gestammels, das
entlang einer fortlaufenden Zeitachse platziert wird, sodass das Gedicht
(meiner Vermutung nach) bei einem Vortrag, der sich an diese Zeitachse hält,
genau 46 Minuten dauert – die Zeit, die die Sonne im Hochsommer braucht, um von
den ersten Strahlen bis zum vollen Aufgehen zu gelangen. Man merkt diesem Text
von allen am meisten an, dass er für den Vortrag geschrieben wurde, nicht nur
wegen des graphischen Aufbaus. Die Intensität, die darin steckt, lässt sich
beim stillen Lesen in Teilen, aber nicht im Ganzen nachvollziehen.
Allein schon wegen „Memorial“ ist dieser Band einen Kauf
wert – nein, nicht nur wert: ich empfehle ihn, allein wegen dieses Textes,
nachdrücklich! Für mich eine der großen Entdeckungen des Jahres. Es ist ein
bisschen schade, dass das englische Original nicht mitabgedruckt wurde, aber
die Übersetzungen von Iain Galbraith (der auch ein kundiges Nachwort verfasst
hat) und Melanie Walz scheinen die Wucht und den Feinsinn von Oswalds Texten
gut bewahrt zu haben.
Ich werde mir trotzdem sogleich zusätzlich das Original
holen. Und empfehle ein letztes Mal, sich zumindest diese deutsche Ausgabe
anzuschaffen.
Alice Oswald: 46 Minuten im Leben der Dämmerung. Übersetzt von Iain Galbraith und Melanie Walz. Frankfurt a.M. (S. Fischer) 2018. 176 Seiten. 24.00 Euro.