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Alexandru Bulucz: was Petersilie über die Seele weiß

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Kristian Kühn

Alexandru Bulucz: was Petersilie über die Seele weiß. Gedichte. Frankfurt a.M. (Schöffling & Co) 2020. 114 Seiten. 20,00 Euro.

Die kluge Klage


Ich verzichte auf den Doktortitel – ich habe lange Zeit an dieser Besprechung gesessen, bin Fährten nachgefolgt, habe Schlüsse und Analogien gezogen, und es wäre eine Doktorarbeit geworden, hätte ich jetzt nicht die Reißleine gezogen und einfach damit Schluss gemacht, als Fragment.

Die Petersilie ist ein faszinierendes Buch, es gefällt mir als Leistung und Archiv, als intensives Selbstgespräch mit externen Partnern, aber es begeistert mich nicht, reißt mich nicht wie andere Kritiker (etwa Braun und Schmitzer) vom intellektuellen Hocker. Es ist eine kluge, demütige Rückschau, ein Wissens- und Deutungskompendium, um den Titel von David Foster Wallace zu missbrauchen, kein unendlicher Spaß, sondern ein infinites Puzzle, das Lesende einstrickt in das Leid der Welt mit allem Wenn und Aber an den Klippen von Erinnerung, Missmut und Tradition. Ist es überhaupt Lyrik?

Schon fügt sich, ohne Grab u. Kompass, derart rasch zur Trinität das, darunter
man so Krieg versteht, so unkeusch pornografisch, so obszön, dass Fantasie
verlöscht in Mitgefühl. Weder Standpunkt noch Betrachtung, keine Dimension.
                                     (Es hat was, S. 58)
    
Natürlich ist es Lyrik – aber sie schwingt selten wie hier, hat wenig Bild-Ebene, sondern immer wieder gleichzeitige Puzzle-Ebenen der Gedankenführung und des Verstecks – hinter dieser seiner „angelehnten Tür des Gedichts“, von der Bulucz im Nachwort spricht. Seine Lyrik soll einem Händedruck entsprechen, also nachdrücklich sein, imprägnieren, vielleicht sogar infizieren in die eigene Trauerarbeit, deshalb ist sie indirekter, schleichender Natur:

Es ist mir bewusst, dass das dem religiösen Glauben entspringende Solidarprinzip des Mitgefühls in einer zunehmend neoliberalen Gesellschaft an Bedeutung verliert. Wer aber bemüht ist, vom Ende her zu schreiben, sich mit seinen Schicksalsgenossen über ein Universalthema zu verständigen und zugleich Mitgefühl zu ermöglichen sowie Trost zu spenden, muss ein Dialogiker sein. Das ist es vielleicht, was Paul Celan meinte, als er Hans Bender schrieb, er "sehe keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Händedruck und Gedicht".

Bulucz‘ Lyrik in diesem seinen zweiten Band enthält ein schier unglaubliches Aufgebot an Tradition, lässt Lesenden dabei wenig Freiraum, wie ich schon sagte, mitzuschwingen, dafür verzahnt er sie zu stark, stattdessen müssen sie mitarbeiten, mitsuchen, mitpuzzlen, sich selbst belehren, usf. Ein bisschen wie ein Seelenführer a la Sokrates bei Platon will Bulucz sein, Dialogpartner, Lesende solange zappeln lassen, will er, bis sie – wie er – auch für sich zu einer Synthese in der dialektischen Fragestellung und Entwicklung kommen. Synthese? Nein, zur Antithese im traditionellen Sinn.

Bulucz ist akribisch, vielwissend, zweifelnd, dabei Fährten legend wie ein pädagogischer Seelenführer der Lyrik, für heutige Verhältnisse einmalig und auch wertvoll, was die Überlieferung und Vermittlung von Tradition betrifft, zum Beispiel seine mahnende Auseinandersetzung mit dem lachenden, spielenden Chlebnikow in „Lieber Welimir“, (zumeist jedoch rumänischer Natur, aber darin enthalten ist ja auch das Romanische, Römische, die geographische Verortung dessen, was im Neuen Testament dem kommenden Antichristen zugeordnet ist als Reich, dem was von diesen Begrenzungen kommend dem Untergang geweiht zu sein scheint.)

Doch Tradition enthält auch immer ein Heute, ein Weiter, eine Zukunft, wenn man sich in sie einordnet und sie verändert, neu interpretiert. Das tut die Petersilie nicht, sie ist auch im medizinischen Alltag ein zusammenziehendes Mittel, ein Abführmittel, vor allem wurde sie früher auch zur Abortion, sprich für Abtreibungszwecke genutzt. So ist das Werk eine Morphose, ein versteckter Vorwurf mit Tarnung, keine Metamorphose.

Ich hätte locker den bisher maximalen Raum (10 – 12 Seiten) an Besprechung überbieten können, doch was soll’s, ich will den Doktortitel nicht, es bleibt den Lesenden überlassen, sich den Verstrickungen des Formalen, den Alliterationen, den plötzlichen Archaismen (z.B. veraltete, meist östliche Ausdrücke) in den Texten zu nähern und sich darin zurechtzufinden, wie großartig sie gebaut sind – im Hin und Her aus Zweifeln, Missmut, Stolz, Verantwortungsbewusstsein, Mitleid, viel viel Mitleid, Askese und Armut, gelegentlich sogar einer „Hoffnung, provisorisch“, die aber wenig Glanz oder auch nur Schimmer von Zuversicht ausstrahlt, denn Bulucz rechnet im Grunde seines Herzens hier mit dem Männlichen ab, mit der Zerstörung, die durch toxische Kräfte angerichtet worden ist und immer noch präsent ist, Gefährliches, das in ihm wie in anderen Männern schlummert und wovon er sich befreien möchte, wie jemand, dem die Erinnerung wie ein Nessoshemd auf der Seele brennt. So gesehen, ist das Werk auch metaphysisch, als ein Caput Mortuum (ein mahnender Totenkopf als Rückstand. Doch kalziniert Bulucz nicht, macht nicht weiß, indem er das Salz herauszieht für eine neue Essenz. Wie gesagt, er trennt im Sinne von Lösen, aber ohne ein neues Binden in gereinigter Form im Sinn:

Digestion statt Diegese. Schreiben sei Verdauungsstunde,
Darmkontrakt. Ich gehe prompt d’accord! Die Selbstverdauung
schieb‘ ich weiter vor mir her. Verwesung tritt ja schließlich
nach dem Tode ein. Die Form verdaue ich schwerer
als den Inhalt, wagte Goethe, unser Prahlhans, zu behaupten,
als er’s reflexiv gebrauchte.

Oder:

                                              Es ist vorläufig Zeit,
        die Bilanz aus der Trauer zu ziehen, als sei sie ein Dorn,
    
        ich ein Aug‘, das ansonsten nicht sähe. Dies alles begann
        mit der Hauterosion, mit der Borke danach, die nicht abfiel
        von selbst, mit dem Eiter im Kiefer am wackelnden Zahn,
        der nicht abfiel von selbst.

Oder
   
                                             Es gibt ein Schwanken,
        Wanken, Ankern zwischen Leid u. Mitleid, passio u. compassio. Wohin mit sich
        in solcher Stunde? Anfangs stand Maria aufrecht, sah zum Sohn am Kreuze hoch.
        Doch der Maler ließ sie in sich sinken.

Er arbeitet mit traditionellen Formen, aber nicht mit traditionellen Mitteln, er benutzt diese, um sie – dekonstruiert verteilt – in Frage zu stellen. Es handelt sich dabei nicht um einen langgestreckten Klagezyklus, der – wen auch immer – um Hilfe und Beistand anrufen würde, sondern eher um einen dialektischen Diskurs, nur scheinbar mit oft einem Adressaten, männlicher Natur, und zwar deshalb, weil die Abhandlung in seinen Gedanken wie ein Dialog stattfindet: Erinnerung, Zweifel, Bewertung keine Bewertung.

Die Seele wird vom Körper bei ihm durch den Tod bzw. durch Vergangenheit und die Erinnerung daran, durch Nebenformen wie Schlaf und Verschlafen, getrennt, sie steckt dann quasi im später entsorgten Petersilienstrunk, die Reinigungsphase des Begrabens und Versenkens ist gewisser-maßen eine dialektische Trauerarbeit, eine anschließende spagyrische Zusammenführung (nach der Putrefaktion) als Synthese von Geist, Seele und einem neuen gereinigten zukünftigen Körper als Verheißung oder auch nur als entferntes Ziel fehlt jedoch, ist ein wohl bewusst herausgestellter Mangel, der offenbar unter den gegebenen Verhältnissen und Umständen unmöglich projizierbar zu sein scheint.

Eins der Gedichte, die mir am besten gefallen, heißt „Von der Komik des einen im anderen“ (S. 66) und enthält den humorigen Passus, mit dem ich schließen möchte:

Da der Fertigbrühe Körper Seele ist – die wässrige
Petersilie –, u. das Elend des Magens ist Wirsing
u. der Wirsing des Magens zeitlos, da wir aus

des Nachbarn Brunnen nur das Wasser für die Brühe
schöpften. Da der Hunger der Malignität sich versöhnt
u. die Gutartigen von Appetit sprechen. Wie der

Mund jetzo dem Mund nach dem Wirsing redet
u. das Elend das isst, was schweigt, also fehlt,
um von selbst in sich selbst zurückzukehren.
                  
Die Bitternis der Seele ist also bei Bulucz nicht überall, er hat durchaus Humor. Meistens ist es eine Art Selbstironie. Eine eingekochte Ironie, die das Gute vom Bösen sehr leise trennt und abköchelt. Er vergleicht seine Gedichte mit Butterkeksen, den vertrockneten, die niemand mehr genießen kann, die Oskar Panizza als Psychiker aus der Anstalt (nach einjähriger Haft) mitgebracht hat. Humor auch beim Gedicht zu seinem Monk, seiner Lieblings-TV-Figur, oder bei seinem Comic-Helden Art Spiegelman.

Das Gedicht S. 49 heißt „L’animal que donc je suis et la  viel quotidienne, o.“ und setzt sich zusammen aus Jacques Derridas „Das Tier, das ich also bin“ und dem Idiom „und der Alltag“ und ist ein Selbstgespräch, gerichtet an „Lieber Itzhak“ (Avraham ben) Zeev (amerikanischer Cartoonist und Comic-Autor) = Art Spiegelman – z.B. Verfasser der Graphic Novel „Maus“, über die authentische Lebensgeschichte des polnischen Juden Wladek Spiegelman.

Was steht dir näher? Sind’s die heil’gen Schriften? Ist’s die Odyssee? Von mir soll dir
am besten nichts verborgen bleiben. Ich bin heute glücklicher denn je. Na, gut, ich seh‘
es ein, ich müsste mich viel kürzer fassen … habe wieder in der Maus gestöbert heute.
 
Oder beim Kalvarienberg, auf dem auch Petersilie wächst. Der Kalvarienberg, die Schädelstätte, wird bestiegen (in Erinnerung), aber das Gedicht heißt „Gespräch im Gebirg II“, (S. 42) und spielt zugleich mit einer Kurzerzählung Kafkas: „Der Ausflug ins Gebirge“, zu dem niemand kommt, lauter Niemand, in feinster Ausgehkleidung, alle Kafkas, die man sich denken kann, die sich einhaken und gemeinsam ein Lied singen könnten, wenn sie sichtbar da wären.

                                  glaube, man sieht nichts auf
dem Weg zum Gipfel. Ich glaube, man muss
bedingungslos nach hinten fallen, wenn man zu früh
aufschaut. So geseh’n, ist es nie zu spät.
    
Ein Humor, bei dem einem durchaus das Lachen im Halse stecken bleibt, würde man die literarischen und auch gesellschaftlichen Konnotationen gleich parat haben. Immer geht es Bulucz bei seinem Humor auch um die Nigredo, die Fäulnis unserer Seelen im Grab des Lebens. Wie angekündigt, mache ich jetzt abrupt Schluss, wer mehr darüber erfahren will, lese Aristoteles: „Über die Seele“ oder was anderes. In jedem Fall „was Petersilie über die Seele weiß“ – ein wichtiges Zeitdokument, das viel über den Zustand jetziger deutschsprachiger Lyrik aussagt.


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