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Akademie zur Lyrikkritik 1, (2) - Christian Metz: Stand der Lyrikkritik

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Akademie zur Lyrikkritik, 1, 2 –
Christian Metz: „Stand der Lyrikkritik“


Der Folgevortrag – nach Hendrik Jacksons Einführung „Kritik als Krise“ am Eröffnungsabend der Akademie zur Lyrikkritik wurde von dem Frankfurter Literaturwissenschaftler Christian Metz gehalten – in sechs Argumentationsschritten analysierte er kompakt und freundlich und mit statistischen Erhebungen die Situation der gegenwärtigen Lyrikkritik im deutschsprachigen Raum.

Dazu muss ich eine Feststellung vorwegschicken: falls Sie denken, um die Lyrikkritik stünde es schlecht, kann ich Ihnen versichern: um die Forschung zur Lyrikkritik steht es schlechter. Es gibt nämlich gar keine solche Forschung.

Die folgenden Metz‘schen Zahlen stammen also von ihm selbst, sie wurden unter Zuhilfenahme des Internationalen Zeitungsarchivs in Innsbruck erstellt.

Zuerst trug er seine Sondierung zur genauen Anzahl von Kritiken in den Printmedien vor und widersprach dem öffentlichen Eindruck, „die Lyrikkritik stecke in einer Krise.“

Ein Blick auf die Feuilletons von 21 überregionalen Zeitungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zeigt: zwischen 2001 und 2016 ist die Quantität der Lyrik-Rezensionen konstant geblieben. Es gibt nur eine negative Ausnahme: das ist „Die Zeit“, dort hat im Zuge des vehementen Abbaus des Rezensionswesen auch die Zahl der Lyrikkritiken stark abgenommen. Sonst gilt: Das Bild der Krise trifft die Situation nicht.

Im Gegenteil, seit Anfang der 2000er Jahre kämen – mit beinahe täglich neuen Veröffent-lichungen – Lyrikkritiken aus dem digitalen Raum hinzu.

Nimmt man den digitalen Status quo mit den Feuilletons zusammen, befinden wir uns in einer Blütezeit der Lyrikkritik.
 
Metz, auch in seinem gerade bei Fischer erschienenen Buch „Poetisch denken. Die Lyrik der Gegenwart“  ein positiver, der Lyrik zugewandter Vertreter der Zunft, sieht uns in einer Blütezeit sowohl der Lyrik wie der Menge an Kritik und plädiert deshalb für einen allgemeinen Stimmungswechsel:

Aufhören mit der Krisen-Imitation und dem Gejammer. Ersetzen wir die beiden durch Aufbruchsstimmung und konstruktive Kritik.

Im zweiten Abschnitt seiner Zahleninspektion verengte er den Fokus ausschließlich auf Lyrikkritiken in den überregionalen Feuilletons, weil diese nach wie vor von allen Seiten als maßgeblich erachtet werden. Seine Untersuchung aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Fakten für das Jahr 2016, unter Einbeziehung aller Rezensionen mit mehr als 500 Wörtern, ergab einen Korpus von 108 Artikeln. Davon fielen 22 auf die FAZ, 20 auf die NZZ, 19 auf die SZ. Gefolgt von der WELT mit 12 Rezensionen und beim „Neuen Deutschland“ 10 Besprechungen.

„Die Zeit“ rangiert mit 4 Besprechungen knapp über dem Niveau des „Standards“, der taz, des Freitags, oder „Die Furche“ – die alle 3 Besprechungen aufweisen.

Mit anderen Worten, die vier Feuilletons (FAZ, NZZ, SZ und Welt) haben einen Anteil von 73 der 108 Rezensionen.

Dort findet ein lyrikkritischer Diskurs statt. Bei allen anderen bleibt es zumindest was ausführliche Besprechungen angeht bei Singularitäten.

Metzens Fazit dieser Zählung ist, dass eine Kritik der Kritik bei den mittleren Zeitungen anzusetzen habe, und nicht bei den großen Vieren, um das Interesse an Lyrik und an Kritik zu erweitern.

Im dritten Abschnitt seiner Analyse wandte sich Metz den Verlagen der besprochenen Texte zu. Von den 108 Kritiken bezogen sich 33 auf Bücher vom Suhrkamp Verlag und 17 auf die Verlage von Hanser. Also zusammen fast die Hälfte.

(Sieben weitere Rezensionen fallen auf Rowohlt, vier auf Kiwi.) Alle anderen, vor allem die zahlreichen Independent Verlage, kommen nicht auf mehr als zwei besprochene Bände.

Metz schließt daraus, dass es eine „nicht zu lösende Verflechtung“ gebe: starke Autor*innen wollen zu starken Verlagen.

Im vierten Teil seiner Analyse beschäftigte sich Metz mit dem Effekt, den Preise, speziell der Leipziger Buchpreis, auf die Möglichkeit von Kritiken im Feuilleton haben. Am meisten nämlich wurde 2016 Marion Poschmanns Gedichtband „Geliehene Landschaften“ besprochen. Er stand als einziger Lyrikband auf der Shortlist für den Leipziger Buchpreis. Warum tat er das, fragt Metz, vielleicht weil er bei Suhrkamp erschien?
   (Bemerkenswert hierzu 2015, da erhielt Jan Wagner den Preis für „Regentonnenvariationen“, erschienen bei Hanser!)

Im fünften Teil seines Vortrags hinterfragte Metz die Deutungshoheit von Lyrikkritik und stellte fest, dass die Spannbreite der Verfasser*innen sehr unterschiedlich sei.

In der FAZ, in der NZZ und in der WELT hat kein Kritiker mehr als zwei Lyrikrezensionen veröffentlicht. Es gibt dort also keine Monopolisten. Eine Ausnahmerolle kommt im Jahr 2016 allerdings Nico Bleutge zu: Er schreibt sowohl für die NZZ als auch für die SZ. Und bei letzterer prägt er mit 6 Rezensionen das Lyrikkritikprofil deutlich. Es gibt also doch einen starken Mann der Lyrikkritik.
  (Und so erhielt er 2016 auch den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik!)

Insgesamt konstatierte Metz: in jedem Fall „ein munterer Herrenkreis“.

87 Besprechungen von männlichen Kritikern stehen nur 21 Rezensionen von Kritikerinnen gegenüber.

Im letzten Teil seiner Ausführungen wandte sich Metz mit einem knappen Blick den Bewertungskategorien von 2016 zu. Dabei analysierte er drei Verfahren:

Erstens – „eigenständige Erzählungen von dem, was im Gedichtband vermeintlich passiert. Sie entfalten Bewertungs-Erzählungen.“  

Zweitens – dabei zugleich ein Rückgriff auf eine Hilfskonstruktion: auf ein abstraktes Modell der Ausrichtung, „was die Lyrik vermeintlich tun kann oder tun sollte.“  

Dazu genügt meist ein Satz wie: „die Autorin tastet der Erinnerung nach“. Oder „der Autor hat ein feines Gespür für die Nuancen optischer Wahrnehmung.“ Das abstrakte Modell – zuerst das Erinnerungskonzept, dann die optische Wahrnehmung – fungiert als Vergleichsmatrix, die den Rahmen setzt, was von der Lyrik vermeintlich zu erwarten sei.

Und drittens, unbedingt: das Prinzip der Abweichung – etwa Avantgarde-Standards zum Vergleich.  Man müsste, schließt Metz seinen Vortrag, weiter untersuchen, ob die herangezogenen Modelle sinnvoll sind.


Kristian Kühn, 02.10.2018
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