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Agnieszka Lessmann: Aga

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Anke Glasmacher

Agnieszka Lessmann: Aga. Berlin (Gans Verlag) 2025. 242 Seiten. 24,00 Euro.

„Schaffen ist Schöpfen, Erfinden ist Finden
, Gestaltung ist Entdeckung.“ (Martin Buber)

Schweigen ist zeitlos

Warum Agnieszka Lessmanns Debütroman „Aga“ (Gans Verlag, Berlin 2025) auch ein philosophischer Roman über unsere Moderne ist.

„Solang der Himmel des Du über mir ausgespannt ist, kauern die Winde der Ursächlichkeit an meinen Fersen, und der Wirbel des Verhängnisses gerinnt.“ (Martin Buber)

Kinder sind nicht sprachlos. Sie verstehen sich mit Gesten, mit diesem Urvertrauen darauf, dass ihr Gegenüber neugierig ist und aufmerksam. Als Aga Sara kennenlernt, haben sie keine gemeinsame Sprache. Aber sie haben einen Draht zueinander, der keine Wörter braucht. Dieser Draht (oder: dieses Garn) ist es, der Menschen beieinander und die Gesellschaft zusammenhält.

Aga ist gerade erst nach Deutschland gekommen und eigentlich heißt sie auch gar nicht Aga. In Deutschland heißt sie Agnes. Ein Name, der schützen soll. Aga hatte schon viele Namen, aber keine Zugehörigkeit. Agas Entwurzelung hat Gründe, die sie als Kind nicht versteht. Ihre polnisch-jüdischen Eltern haben den Holocaust überlebt, der Vater arbeitet nach dem Krieg in seiner Heimatstadt Łódź als Journalist, doch als der Antisemitismus auch in Polen immer lauter und aggressiver wird, beschließt er, mit seiner kleinen Familie nach Israel auszuwandern. In Israel wird aus Aga Ilana. Ilana hat zwei gute Freunde und Onkel Benno, den einzig weiteren Überlebenden der Familie. In Israel bleiben sie nicht lange, der Vater will wieder als Journalist arbeiten, und weil er deutsch spricht, beschließen sie, von Israel nach Deutschland zu gehen. „Deutschland?“, bemerkt dazu Ilanas Kumpel Pawel: „Da sind die Mörder“.

„Die Wörter sind an die Dinge angeklebt, und die Namen an die Menschen. Den Dingen sind die Wörter egal, den Menschen nicht.“ („Aga“, S. 123)

In Polen heißt Aga Agnieszka, in Israel Ilana, für ihre Eltern ist sie Aga, in Deutschland wird aus ihr Agnes und der erste Freund nennt sie Aggi. So reist das Kind mit sieben Koffern nach Deutschland und wird zukünftig fünf Namen im Gepäck haben. In Deutschland angekommen, lebt die Familie zusammen mit einem Arztehepaar, zwei Opernsänger:innen, einem „Jäger“ und Saras Familie, die auf dem Dachboden untergekommen ist, in einem Haus der jüdischen Gemeinde. Unter ihnen sind Überlebende der Konzentrationslager, des Krieges, Partisanen, Widerstandskämpfer, aber das weiß Aga bei ihrem Einzug alles noch nicht. Denn in dem Haus und hinter den Türen herrscht Schweigen über die Toten, ein Schweigen, das ein Kind nicht versteht.

„Sie wuchern, die Geschichten, die man kleinen Kindern nicht erzählt.“ (S. 164)

Aga merkt früh, dass in den Geschichten, die sich die Erwachsenen erzählen, etwas fehlt. Die Zeit. Oder eine Tochter. [Die Täterfamilien erzählen keine Geschichten, sie erzählen gar nichts, sie schweigen noch nicht einmal. Da fehlen Fotos in den Familienalben, als wenn die grauen Leerstellen Abbild genug sind, da sind Brüder, Väter, Großväter und Onkel zusammenhanglos irgendwo „gefallen“, da fehlen Berufe, fehlen Freund:innen, fehlt Alltag, fehlen Zusammenhänge und in manchen Familien fehlen Menschen, die nicht gefallen sind.]
Aber: „Das Schweigen ist ein mächtiger Zauberer.“, sagt Aga.
Also machen sich Aga und Sara auf den Weg und suchen nach dem Mörder; hat Pawel nicht gesagt, in Deutschland seien sie im Land der Mörder? Aber der Kommissar, der Held der gleichnamigen TV-Serie, wird sie schon finden, die Mörder. Und weil Namen nichts sind (und die Überlebenden auch später noch Tarnnamen und eintätowierte Nummern tragen), erhalten die Menschen und Orte Zuschreibungen. Da wird aus dem komischen Einzelgänger der Jäger, weil er einen entsprechenden Hut trägt, Paul, der Gärtner, bringt es vom Zauberer zum ersten Mordverdächtigen, weil er komische Löcher in den Garten hinter dem Haus gräbt. Aber dann wird er doch zu Paul und nett ist er obendrein. Aga, Protagonistin und zugleich die Ich-Erzählerin, spielt mit diesen Rollen, in die sie selbst schlüpft. Sie ist der Kommissar. Sie wird den Mörder finden. Der Mörder, so viel sei vorweggenommen, ist nicht der echte. Denn ein echter Mord geschieht tatsächlich.
„Die Haltung des Menschen ist zwiefältig nach der Zwiefalt der Grundworte, die er sprechen kann. Die Grundworte sind nicht Einzelworte, sondern Wortpaare. Das eine Grundwort ist das Wortpaar Ich-Du. (...) Wer Du spricht, hat kein Etwas, hat nichts. Aber er steht in der Beziehung.“ (Martin Buber)

„Was genau du wissen willst, habe ich zurückgefragt.“ Mit dieser Aufforderung beginnt Agnieszka Lessmanns Geschichte über das Mädchen „Aga“. Dieser Satz ist keine Frage, er ist eine Einladung. Eine Einladung, Fragen zu stellen. Passiv zuhören und sich erzählen lassen, das geht bei diesem Roman nicht, und das macht uns dieser erste Satz gleich klar. Die Rollen sind umgekehrt, und ab jetzt ist Schweigen, das große Thema des Romans, keine Option mehr. Theodor W. Adornos missverstehbare Aussage „(...) nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch (...)“ kontert Agnieska Lessmann mit dieser Rollenverschiebung. In ihrem ersten Satz stecken wie nebenbei die vier Grundfragen von Immanuel Kant: „Was kann ich wissen?“, „Was soll ich tun?“, „Was darf ich hoffen?“, „Was ist der Mensch?“ Am Ende der Erzählung werden wir uns auf alle diese Fragen eine Antwort geben können.

„Aga“ ist eine Erzählung über Sprache. Eine Sprache für das Schweigen und eine Sprache nach dem Schweigen. Das Schweigen nach der Shoa, ein Schweigen, das wie ein schallisolierendes Filzvlies auf der nächsten Generation liegt.

„Kann man Opfersein erben?“. Aga ist kein Opfer. Aber sie ahnt früh, wer das Schweigen durchbrechen will, braucht Sprache, braucht Wörter. Doch das Kind lernt erst einmal, dass (ihre) Sprache keine Übereinkunft hat. Kein Name, kein Ort, keine Geschichte findet ihre Entsprechung in der Wirklichkeit. Denn dafür müsste sie für etwas stehen. Doch in Agas Wirklichkeit sind Namen, sind Begriffe lediglich Momentaufnahmen. Sie gelten nur an bestimmten Orten. Und nicht jede:r verwendet sie für das gleiche. Nur: Durch das Schweigen wird man nie verstehen, wie Geschichten zusammenpassen. Also macht sich die Ich-Erzählerin auf den Weg, ihre Figuren, ihre Ichs und uns mitzunehmen auf diese Reise, die keine Richtung kennt.

Agnieszka Lessmann hat mit ihrem Debütroman „Aga“ ein vielschichtiges und vielstimmiges Werk vorgelegt. In der Genauigkeit, mit der sie die Sätze komponiert, erkennt man die Lyrikerin, in den genauen Dialogen die Hörspielautorin mit ihrem feinen Gespür für Wortwitz und Dramaturgie. Denn das ist dieses Buch auch: spannend, humorvoll und leicht. Da ist keine überbordende Erzählstimme, die uns ständig etwas erklären will. Wenn wir etwas verstehen wollen, müssen wir uns selbst auf den Weg machen. Agnieszka Lessmann liebt ihre Figuren und alle gleich. Jeder schenkt und belässt sie ihre eigene Sprache. Das ist hohe Kunst.

„Das ist der ewige Ursprung der Kunst, daß einem Menschen Gestalt gegenübertritt und durch ihn Werk werden will.“ (Martin Buber)

Kunst lebt von (in?) seinem Gegenüber. Allein deswegen ist die in unserer Zeit so gleichsam überstrapazierte wie oft genug fehlinterpretierte Kategorie „autofiktional“ für diesen Roman obsolet, auch wenn Agnieszka Lessmann ihre Ich-Erzählerin von ihrer Familiengeschichte sprechen lässt. Wir müssen uns nicht auf die Suche nach der „wahren Geschichte“ machen. Wir brauchen keinen Abgleich. Denn diese Geschichte spielt in uns, in jedem/jeder einzelnen von uns. Wenn wir den Mut haben, Fragen zu stellen, und die Geduld, die ganze Geschichte zu erfahren. Schweigen ist zeitlos.

Agnieszka Lessmann ringt nicht nur nach Worten, nach einer Sprache. Sie hat mit „Aga“ einen Roman (natürlich passt die Kategorie nicht) vorgelegt, der in unsere Zeit gehört, gerade weil er vom Schweigen (und vom Sprechen) handelt. Ein Schweigen, das uns ganz neu umgibt, ein Schweigen, das besonders dröhnend wird, seit wir wieder damit begonnen haben, auf allen Kanälen aufeinander einzubrüllen.


Zur Autorin: Agnieszka Lessmann, geb. 1964 in Łódź, Polen, wuchs in Polen, Israel und Deutschland auf und lebt heute in Bensberg. Sie studierte Germanistik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft und Italianistik in Köln und arbeitete schon während des Studiums als Hörspiel- und Feature-Autorin und Kulturjournalistin für verschiedene Rundfunkanstalten und Tageszeitungen. Für ihre Texte erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, aktuell das Autorenstipendium des Deutschen Literaturfonds 2025.
mehr unter: https://agnieszkalessmann.de

Literatur:
Martin Buber, „Ich und Du“, Reclam 1995
Theodor W. Adorno, „Kulturkritik und Gesellschaft“, Suhrkamp 1977


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