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Ágnes Nemes Nagy: Sonnenwenden

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Monika Vasik

Ágnes Nemes Nagy: Sonnenwenden. Ausgewählte Gedichte. Deutsch / Ungarisch. Übersetzung: Julia Schiff, Peter Gehrisch. Ludwigsburg (Pop Verlag) 2021. 185 Seiten. 19,50 Euro.

„und an einem Faden das Wort hängt“


Fragt man literarisch Interessierte, welche ungarischen Schriftsteller*innen sie kennen, so ist das Ergebnis meist dürftig. Es werden verstorbene Autoren wie Imre Kertész, Péter Esterházy oder György Konrád genannt, die u.a. die Lebensbedingungen im Nationalsozialismus und Kommunismus oder den ungarischen Volksaufstand von 1956 thematisierten und medial sehr präsent waren, gelegentlich der 1937 verstorbene Dichter Attila József, nach dem ein wichtiger ungarischer Literaturpreis benannt ist, oder heutige Autoren wie Péter Nádas, György Dalos und László Krasznahorkai. Kaum je hört man die Namen von Autorinnen: Terézia Mora vielleicht, Ágnes Nemes Nagy so gut wie nie. Das liegt zum Teil daran, dass man die Aufmerksamkeit schon immer lieber gegen Westen und auf die Literatur des eigenen Landes richtete. Zum anderen liegt es daran, dass Ungarisch als kleine, isolierte Sprache der Vermittlung durch einen Übersetzer, eine Übersetzerin bedarf. Bis 2020 war nur ein einziger Band mit einer Auswahl von Nemes Nagys Gedichten in deutscher Sprache erschienen, Dennoch schauen, mit Nachdichtungen von Franz Fühmann auf der Basis von Interlinearübersetzungen (Insel Verlag, Leipzig 1986). Fühmann hatte bis knapp vor seinem Tod daran gearbeitet.

Ungarischen Literat*innen hingegen gilt Ágnes Nemes Nagy als die wichtigste ungarische Lyrikerin des 20. Jahrhunderts. In der zweiten Folge der Gesprächsreihe „Das Gedicht in seinem Jahrzehnt“* bezeichnete Orsolya Kalász die Lyrikerin, Essayistin und Übersetzerin Nemes Nagy nicht nur als „große Dichterin“, sondern auch als eine der „großen Erneuer*innen der ungarischen Lyrik“ nach dem Zweiten Weltkrieg, die „schon zu Lebzeiten eine unglaubliche Anerkennung und Würdigung“ erfahren habe. Und Kalász krönte ihre Lesung des Gedichts „Dennoch schauen“ mit einem spontanen, sehr sympathischen „Hach, ist das schön“ – dieses Gedicht ist neu übertragen unter dem Titel „Schauen, dennoch“ in das aktuelle Buch aufgenommen worden (eine Bewertung der Stimmigkeit beider Übersetzungen ist für Nichtkundige der ungarischen Sprache wie mich allerdings nicht möglich).
        Dass der Name der Lyrikerin auch der jüngeren Generation ungarischer Dichter*innen präsent ist, zeigt u.a. ein FB-Eintrag der Künstlerin Kinga Tóth vor wenigen Tagen. Sie sei „superhonored and happy“, ihren eigenen Geburtstag am 3.1. mit der ungarischen Lyrikerin zu teilen. Denn Ágnes Nemes Nagy sei „[an] amazing poet“, „one of the pioneer-writers of the Hungarian Literature“ und: „she would be exactly 100yrs old today!“ Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass auch Franz Fühmann, der nur wenige Tage jünger war als Nemes Nagy, dieses Jahr seinen 100. Geburtstag hätte, nämlich am 15. Jänner.

„Sonnenwenden / Napfordulók“ enthält eine Gedichtauswahl aus allen Schaffenszeiten, auch Texte aus dem Nachlass sind dabei. Das Buch ist in drei Kapitel unterteilt: „Echnaton“, „Dazwischen“ und „Die Sonne ist untergegangen“. Die Texte sind datiert. Wo die Entstehungszeit nicht mehr genau festgestellt werden konnte, wurde eine Annäherung versucht, etwa mit dem Zusatz „in den 1980er Jahren“, „zwischen 1962 und 1966“ oder „Unsichere Datierung“. Das Buch ist zweisprachig und enthält Übertragungen von Julia Schiff (in Zusammenarbeit mit Peter Gehrisch), die letztes Jahr für ihre Übersetzungen zeitgenössischer ungarischer Literatur mit dem Goldenen Verdienstkreuz des ungarischen Staates ausgezeichnet wurde. Zuvor hatte sie u.a. die Anthologie „Streiflichter. Fénycsóvák“ (Lyrik Kabinett, München 2018) mit ungarischer Dichtung des 20. und frühen 21. Jahrhunderts zusammengestellt und ins Deutsche übertragen. Ich habe damals in meiner Besprechung für Fixpoetry, die nicht mehr verlinkt werden kann, einiges bemängelt. Es freut mich umso mehr, dass Schiff nun Ágnes Nemes Nagy einen ganzen Band gewidmet hat.**

Das Leben der Dichterin und ihr Werk wurden von den Umbrüchen in Ungarn geprägt.
   Geboren in Budapest, knapp vier Jahre nach dem Zusammenbruch der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, wuchs sie unter dem autoritären Regime von Miklós Horthy auf. Sie studierte während des Zweiten Weltkriegs Ungarisch, Latein und Kunstgeschichte und diplomierte 1944. Im selben Jahr erschien ihr erster Lyrikband Kettös világban, der mit dem bedeutenden Baumgarten-Preis gewürdigt wurde. Nach Kriegsende schloss sie sich der Intellektuellenbewegung „Neumond“ an, die sie und ihre Dichtung prägte. Zwei frühe Gedichte sind im Buch abgedruckt, datiert mit 1946 – die Dichterin war 24 Jahre alt. Eines davon heißt „Selbstporträt“:

Gierig bin ich. Und wild.
In mir selbst eingeschlossen.
Angst und Feindschaft
straffen die Haut.

Hübsch bin ich, schön bin ich.
Langbeinig, bestens geformt.
Aus meinem Honiglächeln
hängt blechern der Griff meines Daseins.

Es ist ein leicht entschlüsselbares Gedicht über eine blühende junge Frau, die ihre Schönheit feiert und um die Widrigkeiten ihres Lebens weiß. Sie ist zu kämpfen gewillt, wird Angst und Feindschaft die Stirn bieten und weiß doch, wie wenig glänzend ihr Dasein zu sein verspricht. „Angst“ thematisiert Nemes Nagy auch in späteren Gedichten, in Versen wie „Mich friert es bis in die Knochen“, oder wenn sie nächtliche und verinnerlichte Angst anspricht oder im Prosagedicht „Über Gott / Die größte unserer Mangelkrankheiten“ aus den 1980er Jahren Gott anruft, um ihm das Misslingen seiner Schöpfung und „moralische Absurdität“ vorzuhalten:

Weißt du, was ein Angstgefühl ist? Die physische
Pein? Die Unehrlichkeit? Weißt du, wie viel Watt Leuchtkraft
ein Mörder entsendet?
  
Als die Kommunisten 1949 die Macht in Ungarn ergriffen, wurde es schwieriger für sie zu publizieren. Ein Gedicht aus diesem Jahr preist „Mein Handwerk“, das die Verletzlichkeit des eigenen Schreibens offenbart, eine Ahnung von inneren und äußeren Bedrängnissen vermittelt und verdeutlicht, wie ihr trotz allem ihr Dichten „das Unvermessliche“ zu vermessen, „das Licht von der Nacht“ zu trennen vermag:

Mein Handwerk, du wunderbares,
du lässt mich glauben: dass ich lebe, sei wichtig.
Inmitten von Angst und Moral
im Dunkel zugleich und im Licht
...
wo alles vibriert und dem Tode geweiht,
wo alles verschlissen, zerfetzt ist
wo schon ausfranst das Herz
und an einem Faden das Wort hängt.
              
Das Jahr 1949 markiert einen Wendepunkt, was drei Jahre zuvor schon im Vers „In mir selbst eingeschlossen“ anklingt. „Zu lernen hat man“, wie es in einem Gedicht heißt, „was sich auftut, hat man zu lernen“, und in einem anderen Gedicht schreibt sie „Andere Reden sind es / diese Substitutionen, ...“ Das lyrische Ich verschwindet aus den Texten, die weniger offen und direkt werden, weniger persönlich, weniger leicht dechiffrierbar, eine Folge der politischen Umstände. In „Wir wissen alles“ schreibt sie 1950:

Unsere Zukunft ist uns bekannt
als eine längst verklungene Trauer,
und irreparabel.
Wir nehmen die Zeit wie ein Ast wahr
mit Blättern, bezwungen von Frost
        
Ágnes Nemes Nagy wendet sich hin zur sogenannten objektiven Dichtung, für sie eine Epochen überbrückende Methode, und zur subversiven Bildhaftigkeit, die wie ein Filter entfremdet. Wetter- und Himmelsphänomene, das Gegensatzpaar Licht und Dunkelheit, geologische und Naturmetaphern treten in den Vordergrund. Auch die Mythologie antiker Welten ermöglichen ein Verschleiern politischer Zusammenhänge und ein Umgehen etwaiger Zensur und machen sie in Ungarn bekannt vor allem mit ihrem Echnaton-Zyklus. Im ersten Kapitel dieses Bands lesen wir u.a. das längste Gedicht dieses Zyklus, „Echnatons Nacht“, verfasst „vor 1966“, in dem Nemes Nagy die blutigen Ereignisse während des Ungarischen Volksaufstands 1956 verdichtete. Auch kreiert sie surreale, zuweilen mystisch anmutende Bildwelten, etwa in „Die schlafenden Reiter“ (1961), einer Allegorie auf Lebendigkeit, widerständiges Aufbäumen und die Kraft nicht unterdrückbarer Energien; oder eine alptraumhafte Szenerie in „Nächtliche Eiche“ (1966), wo ein mächtiger Baum seine Wurzeln aus dem Boden zieht und einem Passanten folgt. Auch hier gibt es Angst, jene eines Fußgängers, der „fühlt, / seine eignen Konturen lockerten sich.“ Diese Angst schwindet nicht, als sie sich gegenüberstehen, aber sie scheint sich im genaueren Blick auf die Eiche zu relativieren:

Regungslos stand sie
wie eine Nachricht in Eichengestalt,
müde und nicht zu entziffern.
     
ehe sie sich umwendet und wieder zu ihrer verlassenen Erdgrube zurücktrottet, mit der sie verschmilzt.

In den Jahren, als sie kaum publizieren konnte, verdiente Ágnes Nemes Nagy ihren Unterhalt zum Teil als Lehrerin und wandte sich vermehrt dem Übersetzen aus dem Französischen und Deutschen zu. Unter anderem hat sie Werke von Molière und Victor Hugo, von Rilke und Brecht in ihre Muttersprache übertragen, was auch auf die eigene Dichtung wirkte. Immer wieder meint man, Anklänge an Rilke zu entdecken oder verfremdete Bibelzitate. Nach dem ungarischen Volksaufstand 1956, der von der sowjetischen Armee niedergeschlagen wurde, entwickelte sich in Ungarn allmählich eine liberalisierte Form des Staatssozialismus. Erst 1957 erschien ihr zweiter Lyrikband Szárazvillám (Trockenblitz), der dritte, „Sonnenwende“, zehn Jahre später, danach fügte sie, wie der Lyriker Gyözö Ferencz in seinem Vorwort ausführt, ihre neuen Gedichte in „stets erweiterte Auswahl- und Sammelbände ein“. 1989 fiel der Eiserne Vorhang. Ágnes Nemes Nagy starb zwei Jahre später, am 23. August 1991. Zu Lebzeiten erhielt sie noch zwei weitere Preise, 1969 den Attila-József-Preis und 1983 den Kossuth-Preis. Und da sie während des Zweiten Weltkriegs gemeinsam mit ihrer Familie zwei Juden vor den Nationalsozialisten gerettet hatte, wurde sie 1997 als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt.

Dass Schreiben für Ágnes Nemes Nagy Zuflucht und Anker in düsteren Zeiten war, ihr Trost und die verlässliche Freude schenkte, mit Worten nach dem Glanz der Sterne greifen zu können, bezeugte sie nicht zuletzt im 1974 entstandenen Gedicht „Die Dichter und die Sterne“:

Aber der Mond und die Sterne, sie bleiben,
diese Ausrüstung bleibt,
und der angestammte Beruf,
das immerzu Neue: Erstaunen.


Anmerkungen:
*) In der empfehlenswerten Gesprächsreihe „Das Gedicht in seinem Jahrzehnt“, die von Gregor Dotzauer geleitet wird, sind bislang 7 Folgen erschienen, die auf der Webseite des Berliner Hauses für Poesie nachgesehen werden können. Die Ausgabe mit dem erwähnten Gespräch kann unter
https://www.youtube.com/watch?v=Boki0D1u2pI aufgerufen werden (Sequenz etwa ab Minute 26:50).

**) Zum 100. Geburtstag der Dichterin erschien vor wenigen Tagen ein dritter Band mit Übertragungen der Dichterin, das roughbook 56 beim Engeler Verlag – Ágnes Nemes Nagy: Mein Hirn: ein See; übersetzt von Christian Filips und Orsolya Kalász. Zu wünschen ist auch diesem Buch Aufmerksamkeit und die eine oder andere Besprechung.


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