(Peter Engel, Günther Emig:) Die untergründigen Jahre
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Stefan
Hölscher
(Peter Engel, Günther Emig:) Die
untergründigen Jahre. Die kollektive Autobiographie >alternativer<
Autoren aus den 1970ern und danach. Niederstetten (Günther Emigs Literatur-Betrieb)
2019. 484 Seiten. 20,00 Euro.
Protagonisten
der Gegenkultur
Was kommt Zeitgenossen
heute beim Stichwort 70iger Jahre in
den Sinn – sei es aus eigener Erinnerung oder durch mediale Vermittlung gespeist?
Politische Ereignisse wie der Kniefall von Willy Brandt in Warschau,
die Moskauer und Warschauer Verträge,
die Geiselnahme von München bei den Olympischen Sommerspielen (1972), die Ölkrise mit autofreien Sonntagen, die Watergate-Affäre oder die Guillaume-Affäre, das Ende des Vietnamkriegs oder gar –
um ein Ereignis mit besonderem Bezug zur Gegenwart zu nennen – der Beitritt vom
Vereinigten Königreich, Irland und Dänemark zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft am 01.01.1973? Soziale Bewegungen
wie Hippies,
Friedensbewegung, Anti-Atomkraft-Bewegung? Sportliche Ereignisse wie die erste Fußballweltmeisterschaft in Deutschland (1974)? Meilensteine der Heimkinohistorie
wie Tatort,
Polizeiruf, Kojak, Dalli Dalli, Der Große Preis? Filme wie Clockwork Orange,
Taxi Driver, Der weiße Hai, Die Ehe der Maria Braun? Musik von ABBA, Queen,
Pink Floyd, Elton John, David Bowie, Donna Summer? Oder unvergessliche Modephänomene
wie Langhaarfrisuren, ausladende Koteletten, Parka, Schlaghosen, Hot Pants?
Vermutlich werden hingegen
die wenigsten beim Stichwort 70iger an die alternativen
Autor*innen, die Vertreter*innen der Neuen
Subjektivität und Protagonst*innen
der Gegenkultur denken. Denn die waren schon damals nur innerhalb kleiner Künstlerzirkel bekannt.
Die von Peter Engel und Günther Emig herausgegebene kollektive Autobiographie ‚alternativer‘ Autoren aus den 1970ern und
danach ist daher vor allem ein Werk des Erinnerns, des Wieder-wach-werden-Lassens
oder Überhaupt-erstmal-zur-Kenntnis-Nehmens. Das Erinnern nehmen dabei die
Autor*innen selbst in der Weise vor, dass sie ganz subjektive Eindrücke und
Erlebnisausschnitte aus ihrem Wahrnehmen und Wirken in der literarischen Alternativszene
der 70iger auf jeweils etwa 10 Druckseiten skizzieren.
Das im Untertitel des Buches stehende männliche Nomen Autoren passt dabei insofern fast exakt zum Inhalt, als dass tatsächlich bis auf eine Literatin (Barbara Maria Kloos) ausschließlich Männer in dem Band zu Wort kommen. Alle geboren zwischen 1938 und 1958, die Mehrheit von ihnen in den 40iger Jahren. Der mit fast 500 Seiten opulent ausge-fallene Band 1 der kollektiven Autobiographie (offensichtlich ist also eine Fortsetzung geplant) enthält insgesamt Texte von: Manfred Ach, Wolfgang Bittner, Manfred Bosch, Michael Braun, Manfred Chobot, Daniel Dubbe, Heiner Egge, Peter Engel, Heiner Feldhoff, Ronald Glomb, Frank Göhre, Harald Gröhler, Friedemann Hahn, Manfred Hausin, Martin Jürgens, Benno Käsmayr, Michael Kellner, Barbara Maria Kloos, Fitzgerald Kusz, Helmut Loeven, Detlef Michelers, Alfred Miersch, Peter Salomon, Gerd Scherm, Christoph Schubert, Tiny Stricker, Ralf Thenior, Jürgen Theobaldy.
Die Autor*innen
berichten von Episoden, Menschen, Publikationen, Verlagen, Entwicklungen,
Kontextbedingungen und Eigentümlichkeiten der damaligen alternativen Schreibszene.
Dabei tauchen zum Beispiel Namen von Zeitschriften auf, die heute sicher nur
noch die wenigsten kennen: Der Metzger.
Zeitschrift für Kultur und Politik; drehpunkt; Endlich (was Neues). Zeitschrift
für Literatur und Ästhetik; Ex libris, später Pänggg genannt, Ulcus Molles
Info etc.
Sie berichten über
Phänomene, die für uns klingen, als stammten sie aus einer technisch unvorstellbar
entrückten, prähistorischen Zeit:
Er [gemeint: Karlheinz Borchert] klebte die auf der roten IBM getippten Texte kunstvoll zusammen, dröselte mit Letraset die Überschriften drüber und klebte die Druckbögen zusammen, die der Drucker Lüdemann in Wichlinghausen belichtete und fertigstellte. (Alfred Miersch, S. 375.)
Sie können von
Erfahrungen berichten, die die heute Schreibenden sich kaum noch zu wünschen
trauen:
Aber es war eine Zeit, in der mit nur einer einzigen begeisterten Rezension von einem Kritiker wie Yaak Karsunke unter der Woche in der „Frankfurter Rundschau“ so viele Bestellungen hereinwehten, dass der Stapel von 400 Exemplaren in Rolf Eckart Johns Wohnung bald abgetragen war. (Jürgen Theobaldy, S. 123.)
Und sie berichten von
Phänomenen, die sich in gar nicht so weiter Ferne von heutigen Dynamiken befinden,
auch wenn die Dinge im Zeitalter des Internets weniger untergründig geworden
sind:
Underground-Zeitschriften … die richteten sich nicht an gebildete und gut verdienende Bürger, sie waren tatsächlich nur für die selber schreibenden … Leute da. Denn Sie bedienten … eigentlich nur eine hauchdünne Minderheit. Schreibende, Dichtende. Also Literaturproduzenten. (Harald Gröhler, S. 15)
Vor allem aber erzählen
die Autor*innen intensiv über ihr besonderes Mindset:
… ich wollte die Lyrik erneuern, indem ich ihr alles Weihevolle nahm und sie hereinholte in mein tägliches Tun und in das bisweilen turbulente Geschehen um mich her. Sogar die Namen in den Gedichten waren die richtigen, meistens jedenfalls. (Jürgen Theobaldy, S. 121)
Wir waren kritisch, wir waren links, wir waren den Drogen zugeneigt, wir waren sexuell freier als die Elterngeneration, und die Lyriker unter uns praktizierten die Dichtung der Neuen Subjektivität. Ich bevorzuge den Begriff „Subjektivistische Sachlichkeit“. Noch besser erscheint mir: „Klartext-Gedichte“ – ich glaube, der Begriff stammt von Jörg Fauser. Diese Art der Lyrik hat in den 1970er Jahren einen wahren Boom erlebt … Während die Alternativliteratur in der Literaturgeschichte überhaupt keinen Platz hat, wird die Dichtung der Neuen Subjektivität immerhin erwähnt, aber immer abfällig als größtmögliche Niederung von Lyrik überhaupt … Möchtegern-Lyriker gibt es nicht nur unter den „Alltags-Lyrikern“, sondern noch mehr unter den Hermetikern, nur fällt die Dummheit nicht so auf, wenn man verblasenen Quatsch in gebrochenen Zeilen serviert. (Peter Salomon, S. 205 f.)
Für mich sind es solche
Einblicke in das Denken der Alternativen,
die die Lektüre der Sammlung spannend und aufschlussreich machen. Schwieriger
finde ich demgegenüber, dass nicht wenige der autobiographischen Abschnitte so
stark von Insider-Namen, Ereignissen und Zusammenhängen dominiert werden, dass
Lesenden, die später geboren und/oder unvertraut mit dieser Szene sind, der
Zugang bzw. das aufmerksame Dranbleiben nicht ganz leichtgemacht wird. Hier ist
die etwas zu ausgeprägte Innensicht die kritische Schattenseite der
intendierten Subjektivität der Berichte.
Was dem Band meines
Erachtens als Gegenpol zu all den subjektiven Schilderungen mehr als gutgetan
hätte, wäre gerade ein objektivierender Gegenpol gewesen, mindestens in Form
einer kurzen Auflistung zentraler politischer, wirtschaftlicher und kultureller
Ereignisse dieser Jahre.
Nichtsdestotrotz lohnt
es sich, wie ich finde, sich mit den untergründigen
Jahren zu beschäftigen entgegen dem, was ein von Michael Braun an den
Anfang seiner Erinnerung gestelltes Enzensberger-Zitat nahelegt:
Die Entzauberung der 1970er Jahre hat längst stattgefunden. Der fliegende Robert unter den Dichtern, der neunzigjährige Hans Magnus Enzensberger, hat sie in der von ihm bevorzugten Manier des ironischen Understatements bereits in seinem Gedichtband „Die Furie des Verschwindens“ (1980) verabschiedet:
Also was die siebziger Jahre betrifft,kann ich mich kurz fassen.Die Auskunft war immer besetzt.Die wundersame BrotvermehrungBeschränkte sich auf Düsseldorf und Umgebung.Die furchtbare Nachricht lief über den Ticker,wurde zur Kenntnis genommen und archiviert.Widerstandslos, im großen und ganzen,haben sie sich selber verschluckt,die siebziger Jahre,ohne Gewähr für Nachgeborene,Türken und Arbeitslose,Daß irgendwer ihrer mit Nachsicht gedächte, wäre zuviel verlangt.
(Michael Braun, S. 417)
Ganz auf der Linie des
Enzensberger-Urteils scheinen Umgang und Wertung mit der Neuen Subjektivität der 70iger in den Diskursen von Literaturkritik
und –geschichte zu sein, in denen, um die pointierenden Worte von Peter Salomon
noch einmal zu zitieren, die Dichtung der
Neuen Subjektivität erwähnt, aber immer abfällig als größtmögliche Niederung
von Lyrik überhaupt, betrachtet werden. Eine solche Betrachtung bleibt aber
im besten Fall einäugig und übersieht Leistung und Inspirationspotenzial der
Autor*innen dieser Zeit:
… ihre Leistung bleibt indes der Aufbruch ins Offene, zu einer Sprache des open verse, in dem nur der eigene Atem das Maß für die jeweilige Verszeile bildet.(Michael Braun, S. 423)
Und hier würde ich doch
gerne noch ergänzen: Die Verbindung von Subjektivität und Klartext, Alltagsnähe
und lyrischem Blick auf die Welt und nicht zuletzt die grundsätzlich immer auch
politische Orientierung dieser Autor*innen könnten auch heute Schreibenden gute
Impulse und eine bisweilen durchaus hilfreiche Erdung vermitteln.