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William Shakespeare: Sonett 99 - 105

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XV. 99–105: FAIRE, KIND, AND TRUE is all my argument

My invention spent –– wie viel meine Kunst zu sagen hätte und wie wenig sie zu sagen vermag. Alle Schatten des vorigen Septetts werden beiseite geschoben. Nur eine Frage zählt: wo bist du, meine Kunst, wenn ausgemacht ist, daß er nicht ewig blühen wird?
99 ist eine Bagatelle (ein Pausenzeichen, ausnahmsweise in 15 Zeilen), aber danach steigert sich das Septett von Gedicht zu Gedicht, abwechselnd wird die Dichtkunst angesprochen und der Freund, dessen Sosein alle Dichtkunst in den Schatten stelle:
100 mahnt die vergeßliche, 101 die säumige Muse, nicht zu vergessen, wie rasch die Zeit alles verdirbt, 102 [und wieder erscheint das Personal You] stellt fest, daß seine Liebe gestärkt ist, je schwächer sie erscheint (denn er verstumme lieber, anstatt ihn zu langweilen), 103 kommt auf die Beobachtung zurück, daß sein Spiegelglas mehr sage als jedes Gedicht, 104 gibt zu, daß wie der wandernde Zeiger der Sonnenuhr die Schönheit sich davonstehle (noch bist du grün), und 105 schließlich zieht das Fazit und benennt sein Credo: es sei nicht Idolatrie, wenn all sein Argumentieren immer auf Faire, kinde, and true hinauslaufe, was nirgends als bei dem Freunde zu finden sei.


99.

THe forward violet thus did I chide,
Sweet theefe whence didst thou steale thy sweet that smels
If not from my loues breath, the purple pride,
Which on thy soft cheeke for complexion dwells?
In my loues veines thou hast too grosely died,
The Lillie I condemned for thy hand,
And buds of marierom had stolne thy haire,
The Roses fearefully on thornes did stand,
Our blushing shame, an other white dispaire:
A third nor red, nor white, had stolne of both,
And to his robbry had annext thy breath,
But for his theft in pride of all his growth
A vengfull canker eate him vp to death.

More flowers I noted, yet I none could see,
But sweet, or culler it had stolne from thee.

Ich schalt das Veilchen: ‘Süßer Dieb, woher
hast deinen süßen Duft du denn genommen,
wenn nicht von meines Liebsten Mund? Wie wär
der Purpurton in deinen Teint gekommen?
Du färbtest ihn in seinem Blut –– zu sehr.’
Die Lilie schalt ich, daß sie deine Hand,
den Majoran, daß er dein Haar dir stahl;
die Rosen, die ich ganz verzweifelt fand,
die rote rot vor Scham, die weiße fahl,
nicht rot, nicht weiß die dritte –– stahl von beiden
und annektierte deinen Atemhauch;
doch eine Raupe mocht den Raub nicht leiden
und fraß zur Strafe kahl den stolzen Strauch.

Mehr Blumen sah ich –– keine, schien es mir,
die Süße nicht und Farbe hätt von dir.


100.

VVHere art thou Muse that thou forgetst so long,
To speake of that which giues thee all thy might?
Spendst thou thy furie on some worthlesse songe,
Darkning thy powre to lend base subiects light.
Returne forgetfull Muse, and straight redeeme,
In gentle numbers time so idely spent,
Sing to the eare that doth thy laies esteeme,
And giues thy pen both skill and argument.
Rise resty Muse, my loues sweet face suruay,
If time haue any wrincle grauen there,
If any, be a Satire to decay,
And make times spoiles dispised euery where.

Giue my loue fame faster then time wasts life,
So thou preuentst his sieth, and crooked knife.

Wo bist du, Dichtkunst, daß du längst nicht mehr
von dem sprichst, das dich wirklich mächtig macht?
Dein Feuer lodert –– das Gedicht ist leer?
Du brennst –– und wirfst dein Licht auf Niedertracht?
Kehr um, Vergeßliche, und bring die Zeit,
die du vertan, in Versen wieder ein;
sing dem Vertrauten, der sein Ohr dir leiht,
er lehrt dich, wie, und wird dein Thema sein!
Auf, Sperrige, des Liebsten Angesicht
betrachte –– obs die Zeit gezeichnet schon;
und wenn, entwirf ein tödlich Spottgedicht
und überschütte ihren Raub mit Hohn!

Du rühme rascher, als die Zeit versehrt!
So überwindest du ihr krummes Schwert.


101.

OH truant Muse what shalbe thy amends,
For thy neglect of truth in beauty di’d?
Both truth and beauty on my loue depends:
So dost thou too, and therein dignifi’d:
Make answere Muse, wilt thou not haply saie,
Truth needs no collour with his collour fixt,
Beautie no pensell, beauties truth to lay:
But best is best, if neuer intermixt.
Because he needs no praise, wilt thou be dumb?
Excuse not silence so, for’t lies in thee,
To make him much out-liue a gilded tombe:
And to be praisd of ages yet to be.

Then do thy office Muse, I teach thee how,
To make him seeme long hence, as he showes now.

Was säumst du, Dichtkunst, weigerst dich zu sehn,
wie Wahr und Schön in einen Ton getaucht?
Auf meine Liebe bauen Wahr und Schön;
du tust es auch und bist darin erlaucht.
Gib Antwort, Dichtkunst! ‘Wahrheit’, willst du sagen,
‘braucht Farbe nicht –– sie wird nicht aufgefrischt ––
und Schönheit keinen Stift, sie aufzutragen;
das Beste sei am besten unvermischt’?
Und weil er Lob nicht braucht, verstummst du eben?
Dein Schweigen geht nicht an, es liegt bei dir:
du laß sein goldnes Grab ihn überleben
im Ruhm, den du ihm gibst, dereinst, und hier

liegt, was du tun mußt, Kunst: auf lange Zeit
ihn sichtbar machen, zeigen, so wie heut.


102.

MY loue is strengthned though more weake in seeming
I loue not lesse, thogh lesse the show appeare,
That loue is marchandiz’d, whose ritch esteeming,
The owners tongue doth publish euery where.
Our loue was new, and then but in the spring,
When I was wont to greet it with my laies,
As Philomell in summers front doth singe,
And stops his pipe in growth of riper daies:
Not that the summer is lesse pleasant now
Then when her mournefull himns did hush the night,
But that wild musick burthens euery bow,
And sweets growne common loose their deare delight.

Therefore like her, I some-time hold my tongue:
Because I would not dull you with my songe.


Gestärkt ist meine Liebe –– wirkt sie matt,
so trügt der Schein –– ich liebe, ich erfahre.
Wer Liebe ständig auf der Zunge hat,
vermindert ihren Wert, macht sie zur Ware.
Sie war noch neu, in ihren Frühlingstagen,
da grüßte ich sie oft –– wie Nachtigallen,
die früh im Sommer singen, schlagen, klagen
und in der Reifezeit in Schweigen fallen.
Nicht, daß der Sommer minder köstlich wär,
seit sie die Nacht nicht mehr in Stille tauchen;
doch schwirrt der Wald von Stimmen, wird es schwer
zu lauschen, weil auch Freuden sich verbrauchen.

So hüte ich die Zunge denn wie sie,
verschone dich mit meiner Elegie.


103.

ALack what pouerty my Muse brings forth,
That hauing such a skope to show her pride,
The argument all bare is of more worth
Then when it hath my added praise beside.
Oh blame me not if I no more can write!
Looke in your glasse and there appeares a face,
That ouer-goes my blunt inuention quite,
Dulling my lines, and doing me disgrace.
Were it not sinfull then striuing to mend,
To marre the subiect that before was well,
For to no other passe my verses tend,
Then of your graces and your gifts to tell.

And more, much more then in my verse can sit,
Your owne glasse showes you, when you looke in it.

Wie arm, was meine Kunst zutage kehrt
von ihrem Stolz! Wie viel zu zeigen wäre!
Der bare Fakt hat einen höhern Wert,
als wenn ich ihn mit meinem Lob beschwere.
O schilt nicht, wenn ich mehr nicht schreiben kann!
Im Spiegel, schau, erscheint dir ein Gesicht,
an das reicht mein Erfinden nicht heran.
Ich bin beschämt, gelähmt ist mein Gedicht.
Wärs dann nicht eine Sünde, ein Objekt,
das gut war, durch Verbesserung zu schmälen?
Ich habe meiner Kunst das Ziel gesteckt,
von deinen schönen Gaben zu erzählen,

und mehr, viel mehr als meine Reimereien
zeigt doch dein Spiegel dich, blickst du hinein.


104.

TO me faire friend you neuer can be old,
For as you were when first your eye I eyde,
Such seemes your beautie still: Three Winters colde,
Haue from the forrests shooke three summers pride,
Three beautious springs to yellow Autumne turn’d,
In processe of the seasons haue I seene,
Three Aprill perfumes in three hot Iunes burn’d,
Since first I saw you fresh which yet are greene.
Ah yet doth beauty like a Dyall hand,
Steale from his figure, and no pace perceiu’d,
So your sweete hew, which me thinkes still doth stand
Hath motion, and mine eye may be deceaued.

For feare of which, heare this thou age vnbred,
Ere you were borne was beauties summer dead.

Für mich kannst du nie alt sein, Freund, nie alt.
Seit wir zuerst uns in die Augen blickten,
scheint deine Schönheit still zu stehn. Wie kalt
drei Winter dreier Sommer Stolz zerpflückten,
wie Frühling dreimal Herbst ward, umgewandt,
ich sah’s im Jahreslauf vorüberziehn,
Aprilhauch, in der Juniglut verbrannt,
er war so frisch wie du –– noch bist du grün.
Ach, wie ein Zeiger übers Zifferblatt
stiehlt Schönheit sich davon, kein Schritt zu sehn;
der Eindruck täuscht, auch deine Süße hat
Bewegung, mich nur dünkt sie still zu stehn.

So hör denn, Nachwelt: ehe ihr geboren,
verflog der Schönheit Sommer, war verloren.


105.

LEt not my loue be cal’d Idolatrie,
Nor my beloued as an Idoll show,
Since all alike my songs and praises be
To one, of one, still such, and euer so.
Kinde is my loue to day, to morrow kinde,
Still constant in a wondrous excellence,
Therefore my verse to constancie confin’de,
One thing expressing, leaues out difference.
Faire, kinde, and true, is all my argument,
Faire, kinde and true, varrying to other words,
And in this change is my inuention spent,
Three theams in one, which wondrous scope affords.

Faire, kinde, and true, haue often liu’d alone.
Which three till now, neuer kept seate in one.

Nennt meine Liebe nicht Idolatrie,
den Liebsten nicht Idol –– es scheint nur so,
weil mein Sonett sich gleichbleibt, Poesie
an Einen, über Einen, A und O !
Wie meine Liebe hold ist und so bleibt,
beständig hold in seltner Stetigkeit,
verwirft mein Vers den Wandel, er beschreibt
und bleibt bei einer Angelegenheit.
Licht, hold und wahr –– so lauten meine Gründe.
Licht, hold und wahr –– ein wenig variiert,
ein Wörter–Wechseln ists, was ich erfinde,
ein Drei–in–Einem, das an Wunder rührt.

Licht, hold und wahr –– oft hat es das gegeben,
doch nie, daß sie zudritt in Einem leben.



Aus KRITIK DER LIEBE –– Shakespeare’s Sonnets & A Lover’s Complaint –– wiedergelesen und wiedergegeben von Günter Plessow. (c) Passau (Karl Stutz Verlag) 2003.

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