Walter Fabian Schmid: Schleuser
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Kristian Kühn
Walter Fabian Schmid: Schleuser. Dortmund (edition offenes feld) 2024. 92 Seiten. 22,00 Euro.
Das Menetekel
Besorgt zieht ein Mensch, einem Nomaden gleich, der es durch die Steppe mit seiner Habe tut, durchs Gebirge. Doch ob Steppe oder Gebirge – alles ist Illusion, Vorstellungskraft eines verendenden Such- oder Wimmelbildes.
„Ich schaute durchs Felsloch ins Leere und ging immer weiter den Berg hoch. Einstige Wanderreviere waren ein einziges Katastrophengebiet. Menschen stürzten herab wie Geröll.“ (S. 9)
Die Häuser zogen Grimassen. Ein Erdbeben vielleicht.
„Ein Schmetterling trocknete ein. Wir spuckten ihn an, um zu helfen, und nahmen ihm die letzte Würde.“ (S. 12)
Auch im Großen und Weiten: Die meisten Sterne bereits verglüht.
„Aus ihren Gräbern griffen die schwarzen Löcher nach uns. Wir nippten am Weltall und wollten es später noch trinken.“ (S. 12)
Im Gedankenstrudel der besorgt umherstreifenden Zwei wird klar, es geht um die Endzeit. Vielleicht ist es auch ihre Endzeit.
„Schon unsere Vorfahren sagten voraus, dass wir physisch nicht überlebten; züchteten künstliche Intelligenzen, um die Gesellschaft zu sichern, was krachend misslang. Mit den Instinkten waren sie überfordert und brachen zusammen. Bis heute noch horten sie Daten von Dingen und speichern die ewige Leere.“ (S. 13)
Aber Hitze – explodierte schon die Sonne? Oder ist alles nur eine Metapher? Eine Assoziationskette erinnerter Angst?
„Innerlich brannten wir aus und zogen wie Herden umher. Grasten das ab, was wir kriegten, doch es war selten genug. Menschen, die Dinge zu horten begannen, durfte man einfach erschlagen. Auf Eigentum oder Verschwendung stand nun der Tod, und wir fanden das gut. (S. 16)
WLAN und andere Technik jetzt nutzlos. Die Schleuser lassen nur eine bedingte Menge kaum noch atmender Men-schen pro Tag in die Stadt, um dort Luft über Maschinen von Sauerstoffleitungen zu tanken. Der Rest muss röcheln.
„Immer mehr Menschen reihten sich ein. Körper, in denen niemand mehr hauste. Manche hatten zerrissene Ohren und Stümpfe statt Glieder. Andere waren vermummt, um die Wunden vor Hitze zu schützen. Einige waren so krank, dass jede Hilfe zu spät kam.“ (S. 26)
Dürre ist eine der Plagen. Dann regnet es Tage lang, ebenso Plage. Doch Luft gibt es eigentlich nicht, denn der Atem kommt nicht mehr wie früher, er stockt. Denn die Menschen haben ihre Behausungen verlassen, ihre Körper, ihre Lungen.
„Morgens pflückten wir frisches Licht und setzten es in eine Wölbung der Wand. Dort sah ich ein Zeichen. Erst hielt ich es für ein X, doch waren es Striche. Immer nur drei oder vier, höchstens mal fünf. Dahinter ein Bild, das aussah wie schwarzer Schnee oder Schimmel. Wir waren uns sicher, dass es nichts Gutes verhiess und beschlossen, nicht länger zu bleiben als noch eine Nacht.“ (S. 34)
Aber dann wieder die Hitze und Dürre. Am Boden vegetierte ein Städter, ganz ohne Haut, nur Knochen.
„Wir gaben ihm einen Riegel, den wir noch hatten. Vor Durst stopfte er trockene Erde in sich hinein.“ (S. 39)
Diesen Mann nehmen sie mit und sind nun zu dritt – ein Leichenzug, dessen Ziel sie selber sind. Dann ist der Fremde am Morgen kräftig genug, seine Geschichte zu erzählen – ein Schleuser war er, der die Atemzüge für die Stadt einteilte.
„Der Schleuser erzählte in einer Tour. Wir machten ihm deutlich, dass wir die Dinge viel friedlicher fanden, solange sie unbenannt blieben; solange man sie nicht verschrie und sie einfach nur sein liess. Bald stimmte er in unser Schweigen mit ein und beruhigte sich. Schmunzelnd dachte er daran, dass man uns in der Stadt die Pneumatiker* nannte. Weil wir so schnauften und heftig auf saubere Luft reagierten. Andere nannten uns Hydropneumatiker, weil es mit Wasser dasselbe war. Er sagte, besonders bewundere er, dass wir keine Identitäten mehr hätten. Wir wussten nicht, was das bedeutete, aber er meinte, wir würden den Geistern mehr ähneln als Menschen und liess uns mit einem Schweigen zurück. Unsere Atemzeit neigte sich langsam dem Ende.“ (S. 49)
Die Erde eine große Giftdeponie, jeden Moment konnte sie gären und platzen. Das Meer zog sich zurück, seit Jahrhunderten. Die erzählende Stimme träumt, ein Wal würde an den Strand gespült werden, und sie kann ihn mit einer Muschel aufritzen und von seinem Fleisch essen.
Und doch kommt eine Art Perspektive herbei: eine Enklave wie das Paradies nimmt sie als Flüchtige auf, hier baut man nur an, was man braucht, und vergeudet nichts, hat sogar einen Schlafplatz, doch dann kommt das Wasser, und überhaupt alles zurück und noch einmal, noch wie eine Sintflut alles von vorn. Ein Traum? Der Traum von einem Traum? Das Prinzip einer Reise durch die Elemente und retour? Mit Bibelgrausen?** Der Mensch als schmorend nacktes Wesen. Wie damals, als es in Bremen zum Beispiel noch den Freimarkt gab und Buden mit Sensationen, Leuten ohne Unterleib, untote Wasserleichen, vom Blitz getroffene Wiedergänger, glasig, zum Durchschauen, die Adern fein ziseliert, wo sie einst waren. Ein Abbild des Bauplans für die Erinnerung.
Walter Fabian Schmids Prosa ist wie seine Lyrik, tief in elementare Bilder dringend, sie zum Teil mit Sprache fördernd, schwankend, das Bildhafte auflösend zur Metapher oder in den Fluss eines der vier atmenden Elemente. Ein Strom, der anhaftet und weder kommt, noch fortgeht, der dem Körperlichen angeklebt ist. Als sei der ganze Kosmos, aber auch der ganze Körper, ein Abbild einer großangelegten Klima- bzw. All-Klebung. Jetzt weiß ich es, Schmid ist ein Gnostiker. Einer, der sich die Schuld gibt, einen Körper zu haben, Mensch zu sein. Der sich die Schuld gibt, ein Kosmos im Kosmos zu sein. Doch wie sollte er, ohne einen solchen, schreiben können? Er selber ist doch der Schleuser, jener, der über einen Körper verfügt und Stimmungen und Worte durch die stärker werdenden Elemente – Atem verteilend – schleust.
* Pneumatiker (von altgriechisch „Hauch, Wind, Atem“) ist eine im 1. bis 3. Jahrhundert eingeführte Bezeichnung für Anhänger bestimmter Gruppierungen der Gnosis, denen zugeschrieben wurde, Zugang zu einem höchsten Wissen zu besitzen, außerdem für die Anhänger einer bestimmten Ärzteschule und teilweise auch für Christen allgemein. Vgl. auch Pleroma = Glanz & Lichtmeer, von dem das Gute ausströmt.
Siehe dazu kurzzeitig das Paradies nach einem Kosten von Walfleisch. Und Jonas im Walfischbauch. Matthäus 12,40 erklärt Jesus: „Denn wie Jona drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches war, so wird auch der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Schoß der Erde sein.“
** Menetekel: Daniel 5 liest die Worte „mənēʾ mənēʾ təqēl ûp̄arsîn (מְנֵ֥א מְנֵ֖א תְּקֵ֥ל וּפַרְסִֽין)“ und interpretiert sie: „Mənēʾ: Gezählt, Gott hat gezählt (mənāh מְנָֽה) die Tage Deiner Königsherrschaft und sie beendet. Təqēl: Gewogen, das heißt, Du wurdest auf der Waage gewogen (təqiltāʾ תְּקִ֥לְתָּא) und für zu leicht befunden. Pərēs פְּרֵ֑ס: Zerteilt (pərîsat̲ פְּרִיסַת֙) wird Dein Königreich und den Persern und Medern übergeben“.
Beides Wikipedia, aufgerufen am 3. September 2024.