Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte
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Walter Benjamin
Über den Begriff der Geschichte
I
Bekanntlich soll es einen Automaten gegeben haben, der so konstruiert
gewesen sei, daß er jeden Zug eines Schachspielers mit einem Gegenzuge
erwidert habe, der ihm den Gewinn der Partie sicherte. Eine Puppe in
türkischer Tracht, eine Wasserpfeife im Munde, saß vor dem Brett, das
auf einem geräumigen Tisch aufruhte. Durch ein System von Spiegeln wurde
die Illusion erweckt, dieser Tisch sei von allen Seiten durchsichtig.
In Wahrheit saß ein buckliger Zwerg darin, der ein Meister im
Schachspiel war und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte. Zu dieser
Apparatur kann man sich ein Gegenstück in der Philosophie vorstellen.
Gewinnen soll immer die Puppe, die man historischen Materialismus nennt.
Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie
in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und häßlich ist und
sich ohnehin nicht darf blicken lassen.
II
»Zu den bemerkenswerthesten
Eigenthümlichkeiten des menschlichen Gemüths«, sagt Lotze, »gehört -
neben so vieler Selbstsucht im Einzelnen die allgemeine Neidlosigkeit
jeder Gegenwart gegen ihre Zukunft.« Diese Reflexion führt darauf, daß
das Bild von Glück, das wir hegen, durch und durch von der Zeit tingiert
ist, in welche der Verlauf unseres eigenen Daseins uns nun einmal
verwiesen hat. Glück, das Neid in uns erwecken könnte, gibt es nur in
der Luft, die wir geatmet haben, mit Menschen, zu denen wir hätten
reden, mit Frauen, die sich uns hätten geben können. Es schwingt, mit
andern Worten, in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der
Erlösung mit. Mit der Vorstellung von Vergangenheit, welche die
Geschichte zu ihrer Sache macht, verhält es sich ebenso. Die
Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die
Erlösung verwiesen wird. Streift denn nicht uns selber ein Hauch der
Luft, die um die Früheren gewesen ist? ist nicht in Stimmen, denen wir
unser Ohr schenken, ein Echo von nun verstummten? haben die Frauen, die
wir umwerben, nicht Schwestern, die sie nicht mehr gekannt haben? Ist
dem so, dann besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen
Geschlechtern und unserem. Dann sind wir auf der Erde erwartet worden.
Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache
messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat.
Billig ist dieser Anspruch nicht abzufertigen. Der historische
Materialist weiß darum.
III
Der Chronist, welcher die Ereignisse
hererzählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt damit der
Wahrheit Rechnung, daß nichts was sich jemals ereignet hat, für die
Geschichte verloren zu geben ist. Freilich fällt erst der erlösten
Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu. Das will sagen: erst der
erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente
zitierbar geworden. Jeder ihrer gelebten Augenblicke wird zu einer
citation à l ordre du jour - welcher Tag eben der jüngste ist.
IV
Trachtet am ersten nach Nahrung und Kleidung,
so wird euch das Reich
Gottes von selbst zufallen.
Hegel, 1807
Der Klassenkampf, der einem
Historiker, der an Marx geschult ist, immer vor Augen steht, ist ein
Kampf um die rohen und materiellen Dinge, ohne die es keine feinen und
spirituellen gibt. Trotzdem sind diese letztern im Klassenkampf anders
zugegen denn als die Vorstellung einer Beute, die an den Sieger fällt.
Sie sind als Zuversicht, als Mut, als Humor, als List, als Unentwegtheit
in diesem Kampf lebendig und sie wirken in die Ferne der Zeit zurück.
Sie werden immer von neuem jeden Sieg, der den Herrschenden jemals
zugefallen ist, in Frage stellen. Wie Blumen ihr Haupt nach der Sonne
wenden, so strebt kraft eines Heliotropismus geheimer Art, das Gewesene
der Sonne sich zuzuwenden, die am Himmel der Geschichte im Aufgehen ist.
Auf diese unscheinbarste von allen Veränderungen muß sich der
historische Materialist verstehen.
V
Das wahre Bild der Vergangenheit
huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick
seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten.
Die Wahrheit wird uns nicht davonlaufen - dieses Wort, das von
Gottfried Keller stammt, bezeichnet im Geschichtsbild des Historismus
genau die Stelle, an der es vom historischen Materialismus durchschlagen
wird. Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das
mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm
gemeint erkannte.
VI
Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es
erkennen wie es denn eigentlich gewesen ist. Es heißt, sich einer
Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.
Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit
festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen
Subjekt unversehens einstellt. Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der
Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie ein und dieselbe: sich
zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben. In jeder Epoche muß
versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus
abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen. Der Messias
kommt ja nicht nur als der Erlöser; er kommt als der Überwinder des
Antichrist. Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im
Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen
ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher
sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.
VII
Bedenkt das
Dunkel und die große Kälte
In diesem Tale, das von Jammer schallt.
Brecht, Die Dreigroschenoper
Fustel de Coulanges empfiehlt dem
Historiker, wolle er eine Epoche nacherleben, so solle er alles, was er
vom spätern Verlauf der Geschichte wisse, sich aus dem Kopf schlagen.
Besser ist das Verfahren nicht zu kennzeichnen, mit dem der historische
Materialismus gebrochen hat. Es ist ein Verfahren der Einfühlung. Sein
Ursprung ist die Trägheit des Herzens, die acedia, welche daran verzagt,
des echten historischen Bildes sich zu bemächtigen, das flüchtig
aufblitzt. Sie galt bei den Theologen des Mittelalters als der Urgrund
der Traurigkeit. Flaubert, der Bekanntschaft mit ihr gemacht hatte, schreibt: »Peu de gens devineront
combien il a fallu être triste pour ressusciter Carthage.« Die Natur
dieser Traurigkeit wird deutlicher, wenn man die Frage aufwirft, in wen
sich denn der Geschichtsschreiber des Historismus eigentlich einfühlt.
Die Antwort lautet unweigerlich in den Sieger. Die jeweils Herrschenden
sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den
Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zugut. Damit ist
dem historischen Materialisten genug gesagt. Wer immer bis zu diesem
Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die
heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die
Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man
bezeichnet sie als die Kulturgüter. Sie werden im historischen
Materialisten mit einem distanzierten Betrachter zu rechnen haben. Denn
was er an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von
einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann. Es dankt sein
Dasein nicht nur der Mühe der großen Genien, die es geschaffen haben,
sondern auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen. Es ist niemals ein
Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und
wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß
der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den andern gefallen
ist. Der historische Materialist rückt daher nach Maßgabe des Möglichen
von ihr ab. Er betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den
Strich zu bürsten.
VIII
Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns
darüber, daß der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist. Wir
müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann
wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen
Ausnahmezustands vor Augen stehen; und dadurch wird unsere Position im
Kampf gegen den Faschismus sich verbessern. Dessen Chance besteht nicht
zuletzt darin, daß die Gegner ihm im Namen des Fortschritts als einer
historischen Norm begegnen. - Das Staunen darüber, daß die Dinge, die
wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert noch möglich sind, ist kein
philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn
der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu
halten ist.
IX
Mein Flügel ist zum Schwung bereit ich kehrte gern zurück
denn blieb ich auch lebendige Zeit ich hätte wenig Glück.
Gerhard
Scholem, Gruß vom Angelus
Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus
heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im
Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind
aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt.
Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der
Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns
erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer
auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl
verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein
Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat
und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser
Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt,
während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den
Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.
X
Die Gegenstände, die die
Klosterregel den Brüdern zur Meditation anwies, hatten die Aufgabe, sie
der Welt und ihrem Treiben abhold zu machen. Dem Gedankengang, den wir
hier verfolgen, ist aus einer ähnlichen Bestimmung hervorgegangen. Er beabsichtigt in
einem Augenblick, da die Politiker, auf die die Gegner des Faschismus
gehofft hatten, am Boden liegen und ihre Niederlage mit dem Verrat an
der eigenen Sache bekräftigen, das politische Weltkind aus den Netzen zu
lösen, mit denen sie es umgarnt hatten. Die Betrachtung geht davon aus,
daß der sture Fortschrittsglaube dieser Politiker, ihr Vertrauen in
ihre Massenbasis und schließlich ihre servile Einordnung in einen
unkontrollierbaren Apparat drei Seiten derselben Sache gewesen sind. Sie
sucht einen Begriff davon zu geben, wie teuer unser gewohntes Denken
eine Vorstellung von Geschichte zu stehen kommt, die jede Komplizität
mit der vermeidet, an der diese Politiker weiter festhalten.
XI
Der
Konformismus, dem von Anfang an in der Sozialdemokratie heimisch gewesen
ist, haftet nicht nur an ihrer politischen Taktik, sondern auch an
ihren ökonomischen Vorstellungen. Er ist eine Ursache des späteren
Zusammenbruchs. Es gibt nichts, was die deutsche Arbeiterschaft in dem
Grade korrumpiert hat wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom. Die
technische Entwicklung galt ihr als das Gefälle des Stromes, mit dem sie
zu schwimmen meinte. Von da war es nur ein Schritt zu der Illusion, die
Fabrikarbeit, die im Zuge des technischen Fortschritts gelegen sei,
stelle eine politische Leistung dar. Die alte protestantische Werkmoral
feierte in säkularisierter Gestalt bei den deutschen Arbeitern ihre
Auferstehung. Das Gothaer Programm trägt bereits Spuren dieser
Verwirrung an sich. Es definiert die Arbeit als »die Quelle alles
Reichtums und aller Kultur«. Böses ahnend, entgegnete Marx darauf, daß
der Mensch, der kein anderes Eigentum besitze als seine
Arbeitskraft, »der Sklave der andern Menschen sein muß, die sich zu
Eigentümern... gemacht haben«. Unbeschadet dessen greift die Konfusion
weiter um sich, und bald darauf verkündet Josef Dietzgen: »Arbeit heißt
der Heiland der neueren Zeit... In der... Verbesserung... der Arbeit...
besteht der Reichtum, der jetzt vollbringen kann, was bisher kein
Erlöser vollbracht hat.« Dieser vulgär-marxistische Begriff von dem, was
die Arbeit ist, hält sich bei der Frage nicht lange auf, wie ihr Produkt
den Arbeitern selber anschlägt, solange sie nicht darüber verfügen
können. Er will nur die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die
Rückschritte der Gesellschaft wahr haben. Er weist schon die
technokratischen Züge auf, die später im Faschismus begegnen werden. Zu
diesen gehört ein Begriff der Natur, der sich auf unheilverkündende Art
von dem in den sozialistischen Utopien des Vormärz abhebt. Die Arbeit,
wie sie nunmehr verstanden wird, läuft auf die Ausbeutung der Natur
hinaus, welche man mit naiver Genugtuung der Ausbeutung des Proletariats
gegenüber stellt. Mit dieser positivistischen Konzeption verglichen
erweisen die Phantastereien, die so viel Stoff zur Verspottung eines
Fourier gegeben haben, ihren überraschend gesunden Sinn. Nach Fourier
sollte die wohl-beschaffene gesellschaftliche Arbeit zur Folge haben, daß
vier Monde die irdische Nacht erleuchteten, daß das Eis sich von den
Polen zurückziehen, daß das Meerwasser nicht mehr salzig schmecke und
die Raubtiere in den Dienst des Menschen träten. Das alles illustriert
eine Arbeit, die, weit entfernt die Natur auszubeuten, von den
Schöpfungen sie zu entbinden imstande ist, die als mögliche in ihrem
Schoße schlummern. Zu dem korrumpierten Begriff von Arbeit gehört als
sein Komplement die Natur, welche, wie Dietzgen sich ausgedrückt
hat, »gratis da ist«.
XII
Wir brauchen Historie, aber wir brauchen sie anders, als sie
der verwöhnte Müßiggänger im Garten des Wissens braucht.
Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil
der Historie für das Leben
Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte
Klasse selbst. Bei Marx tritt sie als die letzte geknechtete, als die
rächende Klasse auf, die das Werk der Befreiung im Namen von
Generationen Geschlagener zu Ende führt. Dieses Bewußtsein, das für
kurze Zeit im Spartacus noch einmal zur Geltung gekommen ist, war der
Sozialdemokratie von jeher anstößig. Im Lauf von drei Jahrzehnten gelang
es ihr, den Namen eines Blanqui fast auszulöschen, dessen Erzklang das
vorige Jahrhundert erschüttert hat. Sie gefiel sich darin, der
Arbeiterklasse die Rolle einer Erlöserin künftiger Generationen
zuzuspielen. Sie durchschnitt ihr damit die Sehne der besten Kraft. Die
Klasse verlernte in dieser Schule gleich sehr den Haß wie den
Opferwillen. Denn beide nähren sich an dem Bild der geknechteten
Vorfahren, nicht am Ideal der befreiten Enkel.
XIII
Wird doch unsere
Sache alle Tage
klarer und das Volk alle Tage klüger.
Josef Dietzgen,
Sozialdemokratische Philosophie
Die sozialdemokratische Theorie, und
noch mehr die Praxis, wurde von einem Fortschrittsbegriff bestimmt, der
sich nicht an die Wirklichkeit hielt, sondern einen dogmatischen
Anspruch hatte. Der Fortschritt, wie er sich in den Köpfen der
Sozialdemokraten malte, war, einmal, ein Fortschritt der Menschheit
selbst (nicht nur ihrer Fertigkeiten und Kenntnisse). Er war, zweitens,
ein unabschließbarer (einer unendlichen Perfektibilität der Menschheit
entsprechender). Er galt, drittens, als ein wesentlich unaufhaltsamer
(als ein selbsttätig eine grade oder spiralförmige Bahn durchlaufender).
Jedes dieser Prädikate ist kontrovers, und an jedem könnte die Kritik
ansetzen. Sie muß aber, wenn es hart auf hart kommt, hinter all diese
Prädikate zurückgehen und sich auf etwas richten, was ihnen gemeinsam
ist. Die Vorstellung eines Fortschritts des Menschen-geschlechts in der
Geschichte ist von der Vorstellung ihres eine homogene und leere Zeit
durchlaufenden Fortgangs nicht abzulösen. Die Kritik an der Vorstellung
dieses Fortgangs muß die Grundlage der Kritik an der Vorstellung des
Fortschritts überhaupt bilden.
XIV
Ursprung ist das Ziel.
Karl Kraus,
Worte in Versen 1
Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion,
deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit
erfüllte bildet. So war für Robespierre das antike Rom eine mit
Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der
Geschichte heraussprengte. Die französische Revolution verstand sich als
ein wiedergekehrtes Rom. Sie zitierte das alte Rom genau so wie die
Mode eine vergangene Tracht zitiert. Die Mode hat die Witterung für das
Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt. Sie ist der
Tigersprung ins Vergangene. Nur findet er in einer Arena statt, in der
die herrschende Klasse kommandiert. Derselbe Sprung unter dem freien
Himmel der Geschichte ist der dialektische als den Marx die Revolution
begriffen hat.
XV
Das Bewusstsein, das Kontinuum der Geschichte
aufzusprengen, ist den revolutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion
eigentümlich. Die Große Revolution führte einen neuen Kalender ein. Der
Tag, mit dem ein Kalender einsetzt, fungiert als ein historischer
Zeitraffer. Und es ist im Grunde genommen derselbe Tag, der in Gestalt
der Feiertage, die Tage des Eingedenkens sind, immer wiederkehrt. Die
Kalender zählen die Zeit also nicht wie Uhren. Sie sind Monumente eines
Geschichtsbewusstseins, von dem es in Europa seit hundert Jahren nicht
mehr die leisesten Spuren zu geben scheint. Noch in der Juli-Revolution hatte
sich ein Zwischenfall zugetragen, in dem dieses Bewusstsein zu seinem
Recht gelangte. Als der Abend des ersten Kampftages gekommen war, ergab
es sich, dass an mehreren Stellen von Paris unabhängig von einander und
gleichzeitig nach den Turmuhren geschossen wurde. Ein Augenzeuge, der
seine Divination vielleicht dem Reim zu verdanken hat, schrieb damals:
Qui le croirait! on dit qu'irrités contre l'heure
De nouveaux Josués, au
pied de chaque tour,
Tiraient sur les cadrans pour arrêter le jour.
XVI
Auf den Begriff einer Gegenwart, die nicht Übergang ist sondern in der
die Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist, kann der historische
Materialist nicht verzichten. Denn dieser Begriff definiert eben die
Gegenwart, in der er für seine Person Geschichte schreibt. Der
Historismus stellt das ewige Bild der Vergangenheit, der historische
Materialist eine Erfahrung mit ihr, die einzig dasteht. Er überläßt es
andern, bei der Hure Es war einmal im Bordell des Historismus sich
auszugeben. Er bleibt seiner Kräfte Herr: Manns genug, das Kontinuum der
Geschichte aufzusprengen.
XVII
Der Historismus gipfelt von rechtswegen
in der Universalgeschichte. Von ihr hebt die materialistische
Geschichtsschreibung sich methodisch vielleicht deutlicher als von jeder
andern ab. Die erstere hat keine theoretische Armatur. Ihr Verfahren
ist additiv: sie bietet die Masse der Fakten auf, um die homogene und
leere Zeit auszufüllen. Der materialistischen Geschichts-schreibung
ihrerseits liegt ein konstruktives Prinzip zugrunde. Zum Denken gehört
nicht nur die Bewegung der Gedanken sondern ebenso ihre Stillstellung.
Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation
plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen Chock, durch den es
sich als Monade kristallisiert. Der historische Materialist geht an
einen geschichtlichen Gegenstand einzig und allein da heran, wo er ihm
als Monade entgegentritt. In dieser Struktur erkennt er das Zeichen
einer messianischen Stillstellung des Geschehens, anders gesagt, einer
revolutionären Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit. Er
nimmt sie wahr, um eine bestimmte Epoche aus dem homogenen Verlauf der
Geschichte herauszusprengen; so sprengt er ein bestimmtes Leben aus der
Epoche, so ein bestimmtes Werk aus dem Lebenswerk. Der Ertrag seines
Verfahrens besteht darin, daß im Werk das Lebenswerk, im Lebenswerk die
Epoche und in der Epoche der gesamte Geschichtsverlauf aufbewahrt ist
und aufgehoben. Die nahrhafte Frucht des historisch Begriffenen hat die
Zeit als den kostbaren, aber des Geschmacks entratenden Samen in ihrem
Innern.
XVIII
»Die kümmerlichen fünf Jahrzehntausende des homo sapiens«,
sagt ein neuerer Biologe, »stellen im Verhältnis zur Geschichte des
organischen Lebens auf der Erde etwas wie zwei Sekunden am Schluß eines
Tages von vierundzwanzig Stunden dar. Die Geschichte der zivilisierten
Menschheit vollends würde, in diesen Maßstab eingetragen, ein Fünftel
der letzten Sekunde der letzten Stunde füllen.« Die Jetztzeit, die als
Modell der messianischen in einer ungeheueren Abbreviatur die Geschichte
der ganzen Menschheit zusammenfaßt, fällt haarscharf mit der Figur
zusammen, die die Geschichte der Menschheit im Universum macht.
- ANHANG -
A
Der Historismus begnügt sich damit, einen Kausalnexus von
verschiedenen Momenten der Geschichte zu etablieren. Aber kein
Tatbestand ist als Ursache eben darum bereits ein historischer. Er ward
das, posthum, durch Begebenheiten, die durch Jahrtausende von ihm
getrennt sein mögen. Der Historiker, der davon ausgeht, hört auf, sich
die Abfolge von Begebenheiten durch die Finger laufen zu lassen wie
einen Rosenkranz. Er erfaßt die Konstellation, in die seine eigene
Epoche mit einer ganz bestimmten früheren getreten ist. Er begründet so
einen Begriff der Gegenwart als der Jetztzeit, in welcher Splitter der
messianischen eingesprengt sind.
B
Sicher wurde die Zeit von den
Wahrsagern, die ihr abfragten, was sie in ihrem Schoße birgt, weder als
homogen noch als leer erfahren. Wer sich das vor Augen hält, kommt
vielleicht zu einem Begriff davon, wie im Eingedenken die vergangene
Zeit ist erfahren worden: nämlich ebenso. Bekanntlich war es den Juden
untersagt, der Zukunft nachzuforschen. Die Thora und das Gebet
unterweisen sie dagegen im Eingedenken. Dieses entzauberte ihnen die
Zukunft, der die verfallen sind, die sich bei den Wahrsagern Auskunft
holen. Den Juden wurde die Zukunft aber darum doch nicht zur homogenen
und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch
die der Messias treten konnte.
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