Walter Benjamin: Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen
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Walter Benjamin
DIE TECHNIK DES KRITIKERS IN DREIZEHN THESEN
(in "Einbahnstraße", 33) 1928
I. Der Kritiker ist Stratege im Literaturkampf.
II. Wer nicht Partei ergreifen kann, der hat zu schweigen.
III. Der Kritiker hat mit dem Deuter von vergangenen Kunstepochen nichts zu
tun.
IV. Kritik muß in der Sprache der Artisten reden. Denn die Begriffe des
cénacle sind Parolen. Und nur in den Parolen tönt das Kampfgeschrei.
V. Immer muß ‚Sachlichkeit‘ dem Parteigeist geopfert werden, wenn die Sache
es wert ist, um welche der Kampf geht.
VI. Kritik ist eine moralische Sache. Wenn Goethe Hölderlin und Kleist,
Beethoven und Jean Paul verkannte, so trifft das nicht sein Kunstverständnis,
sondern seine Moral.
VII. Für den Kritiker sind seine Kollegen die höhere Instanz. Nicht das
Publikum. Erst recht nicht die Nachwelt.
VIII. Die Nachwelt vergißt oder rühmt. Nur der Kritiker richtet im Angesicht
des Autors.
IX. Polemik heißt, ein Buch in wenigen seiner Sätze vernichten. Je weniger
man es studierte, desto besser. Nur wer vernichten kann, kann kritisieren.
X. Echte Polemik nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale
sich einen Säugling zurüstet.
XI. Kunstbegeisterung ist dem Kritiker fremd. Das Kunstwerk ist in seiner
Hand die blanke Waffe in dem Kampfe der Geister.
XII. Die Kunst des Kritikers in nuce: Schlagworte prägen, ohne die Ideen zu
verraten. Schlagworte einer unzulänglichen Kritik verschachern den Gedanken an
die Mode.
XIII. Das Publikum muß stets Unrecht erhalten und sich doch immer durch den
Kritiker vertreten fühlen.
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