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Valerie Fritsch: kannibalismus

Werkstatt/Reihen > Reihen > Das besondere Gedicht
Foto: VF Presse Martin Schwarz
Valerie Fritsch

kannibalismus

I.

du sagtest sonne und mond und wolf
und die liebe begann
sie fing nicht klein an
sie war groß
bevor wir es wussten

sie machte die größten, ängstlichsten wörter wahr
von einem tag auf den anderen
galten immer und nie


II.

dass das einander nichtsuchen einen nicht vor dem einander finden beschützt
wussten wir bald
wir erkannten uns an den wörtern  
den augustinischen herzen
einer zornesfalte und einer alldunklen stille

wie wir erschraken über die nähe
wie wir hofften
der schrecken würde nie wieder kleiner


III.

du trugst das schweigen wie einen mantel
der im winter nicht wärmte
und in dem man auch sommers fror

wir machten feuer an den zigarettenspitzen
wir brannten
bis die ganze stadt erleuchtet war


IV.

nachts stellte ich dir ein wasserglas auf die brust
auf deinen vergessenen schlaf
wie einst die ärzte beim totenschauen

wie sie hielt ich ausschau
nach wellen, und ebbe und flut
dem winzigen seegang deines atems


V.

ich war ein setzkasten
hölzern in menschenform
in jedem fach ein anderer schmerz

einen nach dem anderen
nahmst du heraus
besahst ihn im licht

legtest nur den zurück
ins dunkel
den ich noch brauchen würde


VI.

später schliefen wir auf der erdkrümmung
in dunklen wiesen eng nebeneinander
tag für tag
als hätten wir uns lange nicht gesehen


Erschienen in manuskripte. zeitschrift für literatur 1 / 2020


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