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Uwe Greßmann: Das Zeitenfest

Gedichte > Münchner Anthologie

Uwe Greßmann

Das Zeitenfest


Aber die mit Glocken das neue Jahr eins anzeigten
Streuten rote, grüne Plätzchen auf Straßen der kosmischen Stadt
Hüllten sich in papierne Schlangen
Und trugen des Mondes und der Sterne Lampione,
Ja zogen in die Raumlosigkeit der Luft hinaus.

Aber es führten fünf Stufen zu einer Terrasse empor,
Und zwei Sphinxe, die Einlass gewährten,
Sagten lediglich: Bitte treten sie näher.
Schwiegen dann, also waren es fünf Zeiten des Lebens,
Die man da hochging,
Erst auf allen Vieren, dann aufrecht,  
Ja ehrlich: zuletzt auf Krücken.
Also auch geschah der Lebensabend des Menschen.

Aber auf der Terrasse grünten fünf botanische Gärten,
Mit Algen, Nacktpflanzen, Siegelbäumen, Eiben, Eichen
Und der den Beruf hatte, legte den Lampion hin,
Pflegte fünf Tage lang, was da auf Erden wuchs,
Setzte sich dann auf eine Bank, aß
Und machte Pause und ließ die Papierschlangen
Durch die Finger gleiten; und das war der Sonntag.

Aber auf der Terrasse waren fünf Automaten
Als Sklaven der Menschen nach Tarifen
Des Stromes und Verdienstes angestellt.
Und wer den Beruf hat, legt den Lampion hin,
bedient das Schaltbrett; läßt Papierschlangen
Durch die Finger gleiten. Und das ist der Sonntag.

Aber auf der Terrasse befanden sich
Fünf Teiche oder Teleskope, Fernen zu widerspiegeln.
Und wer den Beruf hat, legt den Lampion hin,
Und erklärt den Freunden der Astronomie die Grenzen des Alls,
Macht Pause und lässt dabei auch mal
Eine Papierschlange durch die Finger gleiten, ißt,
Trinkt, geht sonntags ins Theater …

Aber auf der Terrasse befanden sich
Fünf zoologische Gärten mit Weichtieren,
Panzerfischen, -lurchen, Sauriern, Säugern …
Und wer den Beruf hat, legt den Lampion hin
Und pflegt die Bestien, macht auch mal Pause,
Ißt und trinkt und läßt dabei eine Papierschlange
Durch die Finger gleiten, bummelt die Straße lang,
Sich die Schaufenster anzusehen, macht also Sonntag.

Aber auf der Terrasse befanden sich
Dienstleistungsbetriebe, sei es das Haar zu schneiden,
Brot zu backen, Wäsche zu waschen …
Und der den Beruf hat, legt den Lampion hin,
Bedient den Kunden, macht Pause, ißt und trinkt
Und läßt später eine Papierschlange
Durch die Finger gleiten, besucht Freunde,
Und das ist das Sonntägliche im Leben,
Sich nach langer Zeit mal wiederzusehen.

Aber da die Fabelhaften den Berufen der Menschen
Nachgehen, ohne die Utensilien des Neujahrsfestes
Aus den Augen zu verlieren, sagten die Leute:
Also ist es eine Kunst zu Leben.

Und Faust, der solches hörte, stieg nun selber
Die fünf Stufen der Terrasse hoch und bat
Die Sphinxe um Einlass, zeichnete
Die fünf Lebensalter in den Kalender der Menschheit ein
Und sagte: Also geht eure Zeit dahin.

Aber es erhoben sich in der Ferne des Horizonts
Fünf Schlote der holzverarbeitenden Industrie,
Und sanken davor gar Angehörige des Waldes,
Plärrte die Kreissäge das Wehtun sterbender Bäume,
Also ist es euer Werk das euch erhalte,
Sprach Faust im Fabriktor zu den Arbeitern.
Und diesem Tag seiner Arbeit zuliebe sangen Hirten
Und Kühe zu Harfe und Horn und rühmten, ja propagierten
Den sagenhaften im Volk der Organisation
Von Mund zu Mund wandernden Faust.
Daher auch versammelten sich Dichter und Denker
Auf der Weide großem Parnaß, genossen
Den Gesang von faustischem Ringen;
Den finden wir gut, sagten ihre Blicke stumm,
Andächtig. Von Hoffnung nämlich, und Halle und Säulen,
Her hallen nun Laube und Zweige grünlich wieder,
Dürftig ganz von Blüren; zieren die liebliche Wohnung
Der Vögel das Wort der Dichter und Denker
Zwitschern die Geflügelten mir, sitzen musisch
Veranlagten Rindern auf dem Rücken,
Öffnen den Schnabel, des Knaben Wunderhorn,
Stumm, davon kitzlige Harfen sich in der empfindlichen
Saite berühren lassen. Das musische Rind
Das nun freilich den Kopf schüttelt
Und auch noch einmal daran zupft,
Muht sogar die blondgelockte Romantik an,
Die Lieder zu Harfe und Horn auch anzuhören.

Also nämlich neigte das Jahr sich dem Ende zu,
Da man im Bett erwachte, aufstand ein gegen
Den Traum Aufständischer, seiner Arbeit
Im Lande des Alltags nachzugehen.
Aber da die Glocken das neue Jahr Eins
Einläuteten, streute man Augenblicke, Konfetti
Auf Straßen und Plätze der kosmischen Stadt
Und beging das Fest der Zeiten.

Jan Kuhlbrodt

Lebenskünstler


1982 erschien im Leipziger Reclam Verlag ein Band, der Lebenskünstler hieß, und der mit Gedichte Lebens-zeugnisse, Erinnerungen untertitelt war.
Die Gedichte und Lebenszeugnisse stammten von Uwe Greßmann, herausgegeben hatte den Band Richard Pietraß. Im hinteren Teil des Bandes eine Reihe von Erinnerungen an den Dichter. Unter anderem findet sich da ein Text Günter Kunerts, in dem es heißt:
„Es gibt eine Unschuld des Gemüts, welche die Welt so anschaut und erkennt, wie sie wünschbar wäre, ja wie sie vielleicht sogar potentiell ist und wie nur wir, in stärkerem oder geringerem Maße von den Mittätern der Historie um unsere Unschuld gebracht, sie nicht mehr zu sehen vermögen, nämlich mit angstlosem Staunen.“

Das Buch hieß also Lebenskünstler, und im Alter von sechzehn Jahren wollte ich nichts anderes sein (auch wenn mir nicht ganz klar war, was das Wort bedeutete). Allein also der Titel des Buches war magisch, und es ging nicht nur mir so. Eine Reihe meiner Freunde kaufte das Buch und eine Zeitlang sprachen wir nur noch von „dem Greßmann“.
Vielleicht ist meine jugendliche Bewunderung für den Autor etwas gewichen, die Faszination aber, die von den Texten ausging, ist nach wie vor da:
Da ist dieser eigenartig hohe Ton angesichts banaler Alltagsgeschehnisse. Und diese Sprache, die sich zugleich einer irdischen und auch kosmischen Herkunft versichert. Ein eigenartiges der Tradition enthoben Sein und zugleich darin aufgehoben. Greßmanns Texte sind auf eine besondere Art mythische Feier des Alltags. Mag sein, dass eine gewisse Weltzugewandtheit aus seiner Armut resultierte, aus der Krankheit, der er 1969 mit Mitte dreißig erlag.

Als würden die Texte die Widrigkeiten vertreiben wollen, die das Dasein im Nachkriegsberlin bereithielt. Und die Gedichte durchzieht die Utopie einer lichten Zukunft. Aber nicht jene, die sich in Massenaufmärschen feierte und Sozialismus genannt wurde, zumindest nicht jene die Staatsdoktrin wurde. Es ist das, was Bloch im Prinzip Hoffnung formulierte und das sich in Greßmanns Gedichten Raum sucht.

In seinem Text Zeitenfest führt er die überlieferten Utopien eng. Uns begegnen antike Elemente wie Sphinxe, neben der bürgerlich marxistischen Vorstellung, dass Maschinen die Arbeit der Menschen übernehmen und ihm Freiheit schenken. Es erinnert ein wenig an die klassische Walpurgis-nacht im zweiten Teil des Faust:

Aber da die Fabelhaften den Berufen der Menschen
Nachgehen, ohne die Utensilien des Neujahrsfestes
Aus den Augen zu verlieren, sagten die Leute:
Also ist es eine Kunst zu Leben.

Und Goethes Faust las ich und sah ich ungefähr zur selben Zeit, wie das Buch von Gressman. Es sind Lektüren, die mich bis heute begleiten, bewegen, fesseln. Ihr Grund scheint mir kein vergangener.
Wir hatten in der Schule Fausts Schlussmonolog auswendig zu lernen: „Ein Sumpf zieht am Gebirge hin ...“ Die Bühnensituation: Der erblindete Faust hört das Klappen von Spaten. Sein Grab wird ausgehoben, Faust aber interpretiert das Geräusch als Arbeitsklang, der vom Trockenlegen eines Sumpfes herrührt. Seine Vision einer Zukunft tritt im Moment des Todes ein. Die Natur scheint unerbittlich.
Gressmans Zeitenfest aber ist dazu der Gegenentwurf, die Utopie einer humanisierten Natur und einer naturalisierten Menschheit. Letztere Topoi waren Lieblingstopoi des Leipziger Literaturwissenschaftlers Walfried Hartinger, der bis zu seinem Tod Gastdozent am Deutschen Literatur-institut war. Seinem Andenken sei dieser Beitrag gewidmet.


Links: Uwe Greßmann
Rechts: Jan Kuhlbrodt

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