Ulrike Schrimpf: ein schreiben, überzogen von eis
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Ulrike Schrimpf
engramme:
dinge ohne augen zeugen.
gedichte zu
den arolsen archives

II. ein schreiben:
überzogen von eis
ein schreiben das seinen
atem nicht
findet das
unermüdlich kieselsteine
gegen
fensterscheiben wirft von alten
kristallen
überzogen an denen vor
allem das
angespitzte ins auge fällt
so eine art von
schreiben scheint das
zu sein das worte
zwanghaft dicht an
dicht setzt in
tiptopschritten über
seiten läuft es
was bekanntermaßen
noch nie geholfen
hat wenn es darum
geht über wasser
zu gehen hocken vogel
buchstaben
aufgereiht auf einem zaun
die wahrhaftig
frieren und nur ja jeden
millimeter raum
nutzen der ihnen zur
verfügung gestellt
wird krähenvögel die
ohne bedingung ein
sagen finden für
etwas das sich
maximal in ausrufen zeigen
kann wenn der
fragesteller selbst im
lager war fragt er nicht
folglich
ist
es ein getriebenes
schreiben ein gewisses
inwendiges
schreiben das weiß dass es
schweigen muss und das also noch
im
sterben mehr
spricht als es lebt bis
zum letzten
atemzug -
im rückblick
stürzt unaufhörlich wasser
vom himmel und sie begreifen
endlich
warum er mit einem
fernglas am fenster
stand ein fleischbeschauer
hatte damals
die vollmacht zur
beschlagnahme von
erkrankten tieren
vielleicht hätte man
seinen mut in
folge der mit nichts zu
vergleichen ist an
seinem haarschopf
erkennen können in
ihrer vorstellung
ein kopfschmuck
von mandarinenten in den
letzten tagen
seiner irrfahrt dröhnte das
rattern von
schienenfahrzeugen ohne
unterbrechung in
gehirnschleifen hörte er
auf zu atmen nur
einen handschlag von
seinen söhnen
entfernt deren hemden
jahrzehnte später
blitzblau gebügelt
waren in
orgelpfeifen geordnet trug er
sie bei sich ganz
nah an den eigenen
organen und
ein mensch der nicht
dort war versteht es nicht
Der niederländische Widerstandskämpfer Peter Will, Fleischbeschauer von Beruf, schrieb vor seiner Depor-tation einen Abschiedsbrief an seine Frau und die sechs Söhne, den er jedoch nicht mehr abschicken konnte. Mehr als 70 Jahre später händigten die Arolsen Archives ihn zusammen mit einigen Familienfotos an seine Söhne aus.
Die Arolsen Archives sind ein
internationales Dokumentationszentrum zu den national-sozialistischen
Gewaltverbrechen mit der weltweit umfassendsten Sammlung zu den Opfern und
Überlebenden des Nationalsozialismus. 1963 erhielten die Arolsen Archives 4700
Umschläge mit sogenannten Effekten: Uhren, Eheringe, Brieftaschen, Modeschmuck,
Brillen, Fotos mit Widmungen und mehr – alles persönliche Gegenstände, die die
Nationalsozialisten den Inhaftierten bei ihrer Einlieferung in die
Konzentrationslager abnahmen. Sie stammen von Menschen aus über 30 Ländern und
waren von der SS unter den Namen der Häftlinge in den „Effektenkammern“ der Konzentrationslager
eingelagert worden. Die Arolsen Archives haben es sich seither zur Aufgabe
gemacht, das Raubgut an die Überlebenden oder Angehörigen der Opfer
zurückzugeben.