Ulrike Feibig: Drei Gedichte
Ulrike Feibig
3 Gedichte
Lied eines Hummers
der dunkelbraune Hummer
zieht sich aus dem engen Panzer
der braungraue Hummer
zieht sich aus der harten Schale
ich ziehe mir die Haut vom Körper
gleich der einer Zwiebel
ich ziehe mir die Haut
von Armen und Schenkeln
helle Fetzen auf blauem Laken
der graue Hummer
hat noch Platz im neuen Panzer
der hellgraue Hummer
wächst noch in der weichen Schale
ich sortiere die Hautfetzen
nach Form und Größe
lege sie auf dem Laken aus
ich öffne das Fenster einen Spalt breit
und stinke bis zum Himmel
in die Hohlräume des Panzers
fließt das Salzwasser
in den Hohlräumen der Schale
sammelt sich das Meerwasser
ich habe mich so lange
nicht gehäutet
ich liege auf dem Rücken
schon seit Tagen
ich höre in meinen Hohlräumen
rauscht es
Mutter sagt:
der Junge spielt auf dem Hof
der Junge fährt Seilbahn
der Junge fährt Seilbahn und jauchzt
der Junge fährt Seilbahn und grölt
der Junge fährt Seilbahn und fällt
der Junge steht auf
der Junge fährt Seilbahn
die Erzieherin ruft zum Abendbrot
der Junge isst Abendbrot
der Junge schläft
der Junge steht auf
der Junge geht zur Schule
der Junge sitzt am Mittagstisch
die Erzieherin fragt: warum isst du nicht
der Junge isst nicht
der Junge sagt nichts
die Erzieherin sagt: iss bitte
der Junge isst
die Erzieherin sagt: nimm bitte das Messer
der Junge isst nicht
die Erzieherin sagt: iss bitte
der Junge isst nicht
der Junge sagt nichts
die Erzieherin fragt: warum isst du nicht
der Arzt sagt: der Arm ist gebrochen
der Junge sagt: Mutter sagt: Dummheit tut nicht weh
Seit Jahren ein Sommer
I
ich sitze in der Sonne
ich bin schön
ich sitze auf der Bank vorm Haus
wie die Alten
und beiße Mirabellen an
ihr Saft spritzt auf
das Immergleiche ist das Schönste
ich habe den Bauch voll Mirabellen
und will einen Mann
ich trage Holz in die Jurte
am Acker
die trägt ihr Sommertuch
weiß mit blauem Rand
ich trage Holz in die Jurte
für ein Abendfeuer
die Nachtigall mit der schönen Stimme
flötet um die Mitte der Nacht
die Schönheit ihres Liedes macht
dass meine Leber sich zusammenkrümmt
ich senke den Kopf um einzutreten
ich senke den Kopf um hinauszugehen
ich trage Holz in die Jurte
du
du kommst mir nach
so lange es sich noch lohnt
lachst du
und machst ein Foto von mir
und noch eins
du langst nach mir
nach meinem Kleid
weiß mit blauer Borte
II
ich sitze
ich bin
ich sitze
ich beiße
ich habe
ich will
ich trage
ich trage
ich senke
ich trete
ich senke
ich gehe
du kommst
du lachst
du machst
du langst
III
er spritzt
es ist
sie trägt
sie macht
sie krümmt
es lohnt
IV
die Leber ist nicht mehr schneewittchenzart
da kann man nichts machen
es wächst der Bart
Aus Ulrike Feibig: perlicke perlacke, mein Herz schlägt. Leipzig (poetenladen Verlag - Reihe Neue Lyrik - Band 11, KdFS) 2016. 96 Seiten. 16,80 Euro. ISBN 978-3-940691-76-7