Ulla Hahn: Bildlich gesprochen
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Timo Brandt
Zwischen Referenzialität und Küssen
„Früher einmal gab es Wesen die Musen hießenMeisterinnen des Schmerzes und des EntzückensWer ihnen folgte drang weitvor in sein Herz so viel Wildnis“
Ulla Hahn gilt seit dem Erscheinen ihres ersten Gedichtbandes 1981 als eine der wichtigsten Lyrikerinnen der Gegenwart. In vielen Anthologien werden ihre Texte schon wie moderne Klassiker behandelt und immer wieder wird, auf Klappentexten und anderswo, mit der breiten Akzeptanz, die ihre Lyrik erfährt, geworben. So findet sich auch auf der Rückseite dieser neuen Auswahl beim Penguin Verlag der Hinweis, Hahn begeistere „auch Menschen, die seit Langem kein Gedicht mehr gelesen haben“.
Man sollte hier allerdings unterscheiden zwischen der Taktik des Klappentextes und dem Wesen der Gedichte. Während der Klappentextsatz jeden kritisch reflektierten Menschen zu der Vermutung verleiten könnte, dass sich Hahns Gedichte bei den Leser*innen anbiedern, ein braves oder gefälliges Wesen haben, genügt die Lektüre einiger dieser Gedichte, um zu erkennen, mit welch eigensinniger poetischer Position man es hier zu tun hat.
„Entschlüsseln wir uns Gen für GenMit schöpferischem TriebeMit evolutionärer Kraft undGroßem L@iebe.“

Natürlich will ich Hahn damit nicht zur großen Revolutionärin stilisieren und es wäre auch zu viel des Guten, sie als durch und durch originelle Lyrikerin zu präsentieren. Ihre Themenpalette ist überschaubar und sehr klassisch: Liebe, Leiden, menschliche Dilemmata, menschliche Hybris, Dichtung und Weltenlauf.
Eigensinnig ist vor allem die Aufbereitung. Denn Hahn bürstet in ihren Versen klassische Bilder und klassischen Sing Sang unaufgeregt gegen den Strich – und greift sie doch gleichsam auf –, variiert Topoi, spielt mit Referenzen und Traditionen und Erwartungshaltungen. Sie scheut dabei nicht die Scheinbarkeit, die Bagatellen-Stimmung und linkisch wirkende Stilbrüche. Schon in ihrem ersten Band beginnt eines der bekanntesten Gedichte mit den Zeilen:
„Als ich heute von dir gingfiel der erste Schneeund es machte sich mein Kopfeinen Reim auf Weh.“
Das Motiv des Schnees als Metapher für Abschied, traurige
Stimmung, aber auch Neuanfang, lag jahrhundertelang griffbereit auf jedem
Dichter*innen-Schreibtisch – und dort liegt es noch immer, entsorgt haben es
nur die wenigsten. Ulla Hahn nimmt es hier zur Hand und ihr lyrisches Ich
versucht, sich einen Reim darauf zu machen. Das Gedicht fährt fort:
„Denn es war die Kälte nichtdie die Tränen mirin die Augen trieb es warvielmehr Ungereimtes.“
Der Missklang im Reim der ersten Strophe, das Stolpern
darin, echot nach in der zweiten Strophe, in der am Ende statt eines Reimes nur
das Ungereimte steht wie ein Eingeständnis. Der Reim, das sinnstiftende Element
so vieler Dichtungen, ist hier nicht mehr länger nur Beiwerk, sondern wird
selbst zur Metapher – für den Sinn, für Zusammenhänge und fürs Zusammenkommen
der Dinge und Menschen. Dieser Kniff hinterfragt zugleich den Reim als
Institution wie auch die Bestrebungen in der Gefühlswelt des lyrischen Ichs,
abstrahiert sie aber nicht bloß, sondern transzendiert das Setting auf
wunderbare Art und Weise. In der letzten Strophe heißt es:
„Ach da warst du schon zu weitals ich nach dir riefund dich fragte wer die Nachtin deinen Reimen schlief.“
Hier scheint die klassische Dimension wieder hergestellt,
mit einem wohlklingenden Reim – der aber übertüncht, dass diese dritte Strophe,
so romantisch und feinsinnig sie sich gibt, nicht zu den ersten beiden passt,
auch wenn sie durch den Reim einprägsam und stimmig wirkt.
Denn war es nicht das lyrische Ich, das fortging – warum
also kehrt es nicht zurück, warum ruft es dem Du quasi hinterher? Und warum
fragt es nach der Nacht, suggeriert doch die erste Zeile des Gedichtes, dass
das lyrische Ich am Morgen nach dieser Nacht vom Du weggegangen ist? Liegt hier
ein Identitätsclash vor? Suggeriert das durchgehende Präteritum des Textes,
dass das lyrische Ich seine Rolle in den Ereignissen, seine Meinung dazu, erst
im Nachhinein festgelegt hat?
All diese Fragen will ich gar nicht zu beantworten versuchen,
ich wollte nur veranschaulichen, wie Hahn sich in ihren Texten mit klassischen
Formen und Narrativen auseinandersetzt. Das Gedicht ist abseits dieser
Metaebene aber auch ein gutes Beispiel für eines der wichtigsten Themen in
Hahns Oeuvre: die Beziehungen zwischen einem Du und einem Ich, bei Hahn vor
allem besetzt mit Mann und Frau.
„Und mit der Liebe sprach er istswie mit dem Schnee: fällt weichmitunter und auf alleaber bleibt nicht liegen.“
Die Liebe, die flower of all ages, wie Auden schrieb,
die doch in jedem Frühling mit einzigartiger Kraft und Farbenpracht erblüht.
Viel besungen das Thema, gut bewirtet die Leser*innenschaft. Und doch ist ein
Liebesgedicht in zeitgenössischen Lyrikbänden keine Seltenheit und kann immer
noch etwas Neues betonen, selbst wenn es nichts Neues mehr sagen kann.
Bei Hahn werden vor allem Stimmungen betont. Mal scheint das
lyrische Ich dem männlichen Widerpart verfallen, mal zeigt es ihm selbstbewusst
die nackte oder die kalte Schulter (oder die nackte, kalte), nicht nur keck und
herausfordernd, sondern auch unversöhnlich, anklagend und abrechnend.
Dieses Wechselspiel, diese Extrempositionen, bilden
spannenderweise die gewöhnliche Bandbreite der Verhaltensweisen von Verliebten
viel besser ab, als ein lakonischer oder ausbalancierter Stil es meiner Ansicht
nach getan hätte. Es gilt wohl immer noch, trotz aller Relativierungsgischt,
dass im Meer der Liebe (oder nur im Meer des Verliebtseins?) vor allem Ebbe und
Flut herrschen, „himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt“, wie Goethe schrieb.
„Schau mich an. Spränge ichjetzt in den Abgrund ich fielelichtaufwärts landete in deinen Augen.“„Die Fehler sind bekannt: ich hab sie längst begangenSchuld oder Unschuld trifft mich ganz alleinIch bin auf meinen eigenen Leim gegangenich fiel auf keinen als mich selber rein“
Neben den Gedichten über die Liebe und den, nicht selten mit
diesem Thema verknüpften, Gedichten über den Status der Frau in der
Gesellschaft, ihrem Bild von sich selbst, gibt es auch, vor allem in späteren
Bänden, einige Gedichte, die sich der Analyse des Menschengeschlechtes widmen,
bspw. dieses:
„Wir versuchten die Welt zu hebenaus den Angeln jahrtausendelangsie auf Trab zu bringen. Wir machtenzum Maß aller Dinge: uns. Und wirsprangen über die Klingen und wirlachten aus vollem Hals ließenFormeln und Fakten singen zerstampftendie Erde beim Tanz mit Zahlen undFiguren vergaßen das Zauberwortjagten die Zeit mit Uhren“
Auch spannend sind die Beiträge aus dem Band „Wiederworte“,
in denen Hahn sich noch einmal mit Texten aus ihren ersten vier Lyrikbänden
auseinandersetzt und die als Antwortgedichte zu diesen Texten konzipiert sind.
Ulla Hahn ist eine Lyrikerin, die viele sicherlich zu kennen
glauben, aber diese Auswahl, der Hahn auch ein sehr persönliches Vorwort
vorangestellt hat, ist eine Möglichkeit, sie wirklich kennenzulernen. Eine
Dichtern, die sich zwischen Referenzen und Emphase bewegt, eine Lyrikerin, die,
am Ende eines ihrer Gedichte, wunderbar zweideutig schreibt:
„große Worte einfach fallenlassen.“
Ulla Hahn: Bildlich gesprochen. Ausgewählte Gedichte. München
(Penguin Verlag) 2019. 192 Seiten. 12,00 Euro.