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Tristan Marquardt: scrollen in tiefsee

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Kristian Kühn

Liebe – verbindlich


Von Anfang an arbeitet Tristan Marquardt in seinem zweiten Gedichtband „scrollen in tiefsee“ mit Metaphern und Versatzstücken aus der Romantik bzw. eines von den Bedürfnissen her romantisierten Mittelalters, was  – je nach Zeit- und Welten-Mischung – einer ähnlichen Intention folgen dürfte – einer Bestimmung des menschlichen telos. Doch sucht Marquardt, im Gegensatz zu Novalis etwa, kein chiliastisches Ende, hat keinen Ausblick auf eine Erlösung, erst recht keinen Aufruf, nur dieses „Scrollen“, den Antrieb, einer Sehnsucht gleich, nach jener ewigen Intention auf ein zu suchendes goldenes Zeitalter und auf einen wiederbelebten Urzustand.

jemand sagt, das internet fällt auf die straße. ich sage, wie blöd:
einer hat mir mein bike geklaut, ich habs ihm wieder abgekauft. (S. 12)

Und so, könnte man fast behaupten, deckt sich auch Marquardt bei seiner nomadenhaften Reise durch die Ebenen seines Buches für eine bessere Zukunft – wie die anderen Zeitgenossen (hier mal ohne Sternchen, denn das weibliche Geschlecht und das Queere scheinen anders zu reagieren) – mit Informationen der „schulen der saumseligkeit“ ein.

schulen der saumseligkeit. man trifft sich am hafen, letzte meter,
dann see. zirpen hunde von den dächern, die ruhige kugel, es
wippen die barken, ihr kauern legion. kaum habe ich eine frage
in meinem herzen bewegt, als zwischen zwei böen die antwort
zu stehen kommt, wie viele fragen man bewegen kann. nichts
zu schätzen, man müsse wissen, die wahrheit, zum volkssport
geworden, verteile sich auf viele köpfe. und in den köpfen säßen
vögel, auf der leitung zwischen schläfe und schläfe. ich und die
meinen, vom horizont gekommen, um zu bleiben. das problem
sei nicht, dass alles zwei seiten habe, man müsse sie einander nur
vorstellen. wie lichter bei dunkelheit, zu schmutz konvertieren.
stationen eines rückzugs, nach draußen. ich schließe die augen,
tapeziere meine schädelinnenseite, greife zum erstbesten poster.
drauf ein fenster, verspiegeltes glas. ich hängs auf und schau raus. (weiter S. 12)

Was er sieht, und wie er wahrnimmt, davon handelt das erste der vier (formal sehr unterschiedlichen) Kapitel, aus dem ich eben zitiert habe. „tag- und nachtlieder“ ist es betitelt. Und steuert auf das zweite, „alle posts von gestern“ zu, indem es dem Folgenden konsequent den Weg bereitet. Jedes dieser längeren Gedichte des ersten Kapitels wird durch ein kurzes Zitatgedicht aus dem Mittelalter angedacht und vorbereitet, Mittelhochdeutsch vermischt mit einer poetisierten neuhoch-deutschen Interpretation, z.B.:

ez ist nu tac, es ist jetzt tags,
daz ich wol mac mit warheit jehen,
dass ich wohl mit sicherheit sagen kann,
ich wil nicht langer sîn,
ich will nicht länger bleiben.

es ist jetzt (S. 7)

Marquardt ist ja auch Mediävist und hat 2017 (zusammen mit Jan Wagner) die Anthologie „Unmögliche Liebe. Die Kunst des Minnesangs in neuen Übertragungen“ für den Hanser-Verlag herausgebracht. Und so teilt er, gestreng nach dem chiliastischen Modell (vergangener Urzustand, dunkle Jetztzeit, kommende Erlösung eines Tages) die Gedichte dieses Kapitels der Tag- und Nachtlieder in den kurzen einleitenden Zitatgedichten nach dem zeitlichen Dreisprung „es war“, „es ist jetzt“, „es wird“ schon noch (vielleicht) ein.

Was war? Die Täuschung (S. 9), im Licht des Mondes der sich verlierende, täuschende Blick, das nicht Zusammenfinden. Aber dann das „Es wird“:

zeichen zu scheiden mein auftrag nicht war. dass ich ging und ich geh.
zu sagen, schatz, heute nacht ist ein großes passieren, es feiern die
mücken ein bisschen am see. und immer herzschlag, wenn eine streife,
und meine hände in die höhe schnellen, als sei es, der last einer jahr-
hunderteschweren schönheit etwas entgegenzuhalten. gewissheit
vielleicht, häuser stünden nicht. sind stehen geblieben. oder zweifel,
ob jedes fenster aus künftigen scherben besteht. dann sagen, ja, ich
weiß nicht, welches spiel hier gespielt wird. ich weiß nur, es steht 1:0. (S. 16)

Bei allem Zweifel an einer Vielzahl von Eindrücken, Welten und Gegenwelten, es bleibt dieses jugendliche Gefühl, es wird schon, es stehe bereits 1:0. Dennoch schwankt der Boden, es ist dies eine romantische Sicht, etwa wie bei Coleridge, der einmal mit seinem Freund Wordsworth in Streit geriet, und zwar über die Bedeutung seines Hinstarrens auf einen Berg ohne Handlungsabsicht. In seiner „Hymn Before Sunrise“* starrte er den Berg solange an, bis er für ihn unsichtbar wurde, und er gerade dieses Unsichtbare als Wesen der Seele selbst verehrte. Dabei war er gar nicht dort. Er imaginierte. Durch das Hinstarren trete das fremde Wesen als eigenes Selbst der Seele entgegen. Und es gehe nicht mehr um den angestarrten Gegenstand, sondern eigentlich um Selbsterkenntnis als religiöse Erfahrung, eine Form von Erhabenheit, die oft in neueren deutschen Gedichten vorkommt, allerdings in ihrer fast kleinmütigen Variante einer Selfie-Selbstvergessenheit. Nicht so bei Marquardt. Auch wenn er dem Übersinnlichen nicht traut und die alte Metapher dafür, die Tiefsee, zur Verschwommenheit und Halbwirklichkeit all dessen, was gesagt, gedacht und gehandelt worden ist im Netz, umfunktioniert.

einen wurf entfernt, ich wars, die kompromisslosigkeit birke.
krumme äste, in stimmung getunkt. und rinde, rinde, tapete.
zig zweige zur sonne, der dimmer, der fehlte, wenn jede form
von verschiebung wachstum war und man das als liebhaber nicht
wahrhaben wollte. wo war das organ, das noch zu definieren blieb? (S. 14)
         
Womit wir beim zweiten Kapitel des Bandes sind, das aus Zweizeilern besteht und als Überschrift „alle posts von gestern“ trägt. In dieser Zeit des trügerischen Feinstofflichen im Netz, das sich wie eine Streubombe auf uns niederschlagen kann, um uns zu lähmen, und wir nicht mehr wissen, was rechts und links, was oben und unten, was hoch und tief ist, und ob nicht auch diese Gegensätze in uns sich vermählen (sollten), so durchlässig, wie wir geworden sind, da antwortet Marquardt mit der Möglichkeit einer verkehrten, umgedrehten Welt (auch ein romantisches Anliegen als Ansatz für eine Universalpoesie unter Einbeziehung der Kehrseite). Hierfür hat er seinem Buch ein Zitat von Robert Musil vorangestellt:

Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. (S. 4)

Dieser Idee des Möglichkeitssinns (als Alternative) folgend, die übrigens durch das ganze Buch verfügbar ist, bringt Marquardt als zweites, also anderes Kapitel, zweizeilige Orakelsprüche bzw. Philosopheme zur Wahrnehmung, die an den Düstersinn eines Heraklit und seiner überlieferten Fragmente erinnern.

du schreibst, was du denkst
das du sagst, wenn du schweigst (S. 24)

du träumst, du könnest nicht schlafen
du bist, als du erwachst, eingenickt (S. 25)

Ein und dasselbe ist Lebendiges und Totes und
Wachendes und Schlafendes und Junges und Altes;
denn dies schlägt um und ist jenes, und jenes wiederum
schlägt um und ist dies. (Heraklit (B 88)

du kennst die geschwister nicht, die du nicht hast,
weißt nicht, was du deshalb nicht machst (S. 27)

Die Wachen haben eine einzige gemeinsame Welt;
Im Schlaf wendet sich jeder der eigenen zu. (Heraklit B 89)

es ist früh, zu früh für einen blick auf den körper
noch willst du die füße nur hören (S. 29)

Die Sonne so breit wie ein Menschenfuß (Heraklit B 3)

Es ist die Liebe, deren Sprache Marquardt andeutet, auch wenn er an sie in der Realität nicht so ganz glauben mag. Vielleicht auch Selbstliebe:

abend war schatten des tags. reinigung liebe, von der hand in den eimer. (S. 10)

Und trotz allem ist es die Suche nach Schönheit, (aber auch nach Reinigung = Katharsis, denn irgendwie fühlt er sich schuldig), die ihn rastlos treibt:

nachts, ich laufe nach hause nach draußen. boden hat ohren, wo meine
sohlen sind. hören, wie es um mich bestellt ist. horchen, aufs leiseste
laut. großes ja, mit dem finger in die luft getippt, zu sagen, ja, dieser
außenraum ist mein innenleben. und nächtlich geisterfahrer, die kaffee

trinken als ihr einziges, trauriges zitat. (S. 16)             

So wird die Unmöglichkeit (aber auch das Umstülpen der Wahrnehmungsebenen) zur Unruhe und die Unruhe zur vorantreibenden Kraft.

aporie in kleinklein
der zeitpunkt, auf dem sprung zu sein (S. 42)
    
Sind die vier Kapitel noch so unterschiedlich, so sind sie es als Versteckspiel, formal. Folgt man den Spuren eines leidenden, sich versteckenden poetischen Denkens und Zitierens, den Spuren eines Erlebens, das nicht offensiv reagiert, nur wahrnimmt und empfindet – so gliedert und ordnet Marquardt dennoch – und zwar aufgrund der Reihenfolge und logischen Konsequenz seiner Stilwechsel innerhalb der recht eigentlich zu einem Konzept ausgebauten Kapitel-Narrative. Es sind aber nur innere Vorgänge, keine Szenen im dramatischen Sinne (etwa wie auch bei Wackenroder oder in Bonaventuras Nachtwachen). So könnte man Marquardt – zieht man die Analogie zu den Begründern der deutschen Romantik – einen späten Epigonen für eine neue Form von Romantik nennen, wenn er nicht aus diesem zu erwartenden Mittelalter, von dem seit Jahren schon politisch gesprochen wird, Dark Ages machen würde, also das Gegenteil von einem protestantisch evangelikalen Mittelalter, etwa das die Wahrnehmung beschreibt, beim Anblick der Schönheit, inwendig voller Figur, äußerlich von jedem Blickpunkt aus gesehen als göttliches (heute politisches) Auge im Gegenüber. Oder wie bei Novalis im Bau seiner neuen katholischen Kathedrale einer kommenden freien Menschheit. Im dritten Kapitel seines Bandes „scrollen in tiefsee“, es ist ein sehr kurzes Kapitel, das dem Band seinen Namen gibt, kommt Marquardt auf den Punkt, indem er ihm „auszüge eines fehlkatalogs“ (S. 46) voranstellt, Begriffserklärungen für „fehlen“, „fehler“, „sich verfehlen“ oder auch „sich entfehlen“:

eine verfehlung beheben.
man nimmt sich sich
vor. sagt entweder: ich
will ein anderer werden.
oder: ich war ein anderer,
außer mir, will mich
rehabilitieren: mich in
mich zurückversetzen.
      
In diesem Kapitel geht es um die Verschiedenheit der Alls, der Weltsichten aller Gegenüber – ein sich Verlieren oder Erstaunen in der Vielfalt, und nicht wie bei Borges im Fixpunkt oder Selbst eines strahlenden Alephs:

im posteingang. unerreichbar für den körper mails,
die der blick abholt. vier gewissen versinken in deinem,
zwei finger scrollen in tiefsee. kein all, das dem andern
gleicht, und keines sich selbst. es ist spät, mails sind
rückschluss auf nichts. als hieße schreiben, es schneit. (S. 49)
         
Wie nun die wie Schneeflocken treibenden Wörter zusammenfügen, wenn das Andere (Das Ich ist das Andere) die eigene Durchlässigkeit quert oder sogar trübt? In einem zumindest gedanklich neuen, aber düsteren Mittelalter, das keinerlei Verheißung aufkommen lässt, weil es überlagert durch Schichten von Schichten ist. Wie Schneeflocken dringen sie ein, die sich kreuzenden Wahrnehmungspartikel. Und zu einer stillstehenden Zeit, in der das Internet mit dem kompletten Satz an Ergüssen von Äonen und Äonen auf dem Mond landen könnte, als würde die Persephoneia selbst dort den Menschen all ihr Bewusstsein abdrehen:

vorspulen, in dieser luft. fahrtwind fast spüren. sicht genug,
um zu glauben, du könnest die clips schneller schauen,
als sie laufen. ins leere gehen, die sicht außer sich, blicke
wie strahlen, schneller als licht. du schließst, du öffnest
eine neue situation. das internet landet auf dem mond.

Marquardt weiß oder gibt zumindest keinen Ausweg. Er bleibt bedeckt und zieht sich auf seine Ausbildung als Mediävist zurück und klärt im vierten und letzten Kapitel seines Bandes die Zusammenhänge zwischen Minne, Licht und Leben anhand eines „parzival-lexikons“ und nennt das, was er zusammenfassend als Zukunftsvision bringen könnte, bescheiden „sekundärpoesie“. Wobei er als Tristan aber auch der Parzival im Minne-Katalog der Narrative sein könnte. Vorangestellt als Einführung diesmal "auszüge" eines abschließenden "postkatalogs":

no-post
post, den es nicht gibt,
nicht geben darf oder
kann. für das, was zu
sagen oder teilen wäre,
gibt es weder den ort noch
die zeit, um zu bleiben.
wo- und wannimmer man
es dennoch postet, ist es
nicht zu finden. es taucht
nicht auf, es verschwindet.
                      
Tja, so ist das im Netz unserer Verfangenheiten. Fazit: Der neue Band Tristan Marquardts strotzt förmlich vor Intelligenz und auch Poesie – warum er trotzdem relativ dünn von seiner Quantität her ist, liegt daran, dass seine zugrunde liegende Methode diese Art Scrollen ist, scannen, sichten, nur versteckt benennen, kaum entscheiden, lieber Ortswechsel, das Bunte bunt sein lassend, ohne zu sezieren oder gar zu analysieren – sozusagen ohne richtungsweisenden Befund oder gar Therapievorschlag – sprich eine Autopsie. Den Schluss muss man sich selber zusammenklauben. Marquardt obduziert, ist teilnehmender Beobachter seiner selbst, dringt in die Tiefe, doch wie schon Heraklit sagt:

Nicht leichthin wollen wir über das Tiefste urteilen. (Heraklit B 47)

So ist er entschuldigt, nicht die Rolle eines Novalis der Neuzeit antreten zu wollen, sondern diese abzulehnen und lieber als eine Art Hermes zwischen den Welten zu fungieren. Gewitzt und flink genug ist er dafür. Und Mediator sowieso.

* O dread and silent Mount! I gaz'd upon thee,
Till thou, still present to the bodily sense,
Did'st vanish from my thought: entranc'd in prayer
I worshipped the Invisible alone.
Yet, like some sweet beguiling melody,
So sweet, we know not we are listening to it,
Thou, the meanwhile, wast blending with my Thought,
Yea, with my Life and Life's own secret Joy:
Till the dilating Soul, enrapt, transfus'd.
Into the mighty Vision passing—there
As in her natural form, swell'd vast to Heaven! (Zeilen 13–23)


Tristan Marquardt: scrollen in tiefsee. Gedichte. Berlin (kookbooks) 2018. 80 Seiten. 19,90 Euro.
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