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Tobias Roth: Kirchspiele - Castelfranco, San Liberale

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In einem Rechteck aus roten Mauern gebrannter Erde, muttersprachlich Backstein. Das Verhängnis verbotener Gärten. Ein geschlossenes Flackern innerhalb der Mauern: Die Welt als Rechteck. Die Ebene darum: Die Welt als zerfließend Grün und Blau. Die Tauben mit Steinen von den Zinnen jagen. Überspannte Sonette an die Türen nageln. Territ omnia tempus. Das Federkleid des Gewitters hebt und senkt sich über den Felsen und die Chöre der Grillen und Zikaden, sie singen laut und schön. Witzfiguren des Nordischen. Wie unfehlbar der Süden sie bloßstellt. Territ omnia tempus. Hinten, weit hinten, südseitig, ein Altarblatt von Giorgione. Marias roter Umhang und die raschelnd bestickten Teppiche auf dem Thron gipfeln im weichen Verrauchen der Landschaft des frühen Abends. Eine Schranke aus rotem Samt teilt die Bereiche des Kosmos voneinander: Das ist der Mond. Vorne liegt der scharf belichtete Bereich des Heiligen, wo Trauer herrscht; der Hintergrund feiert sein Diesseits, ohne irgend Herrschaft einzuräumen. Dampf einer Landschaft, die errötend daliegt. Ruinen, die nichts zu verbergen haben. Wasser und Land lassen sich kaum trennen. Alles fast, alles im Bauch der weichen Büsche, die die Wiesen einfassen. Auch im Himmel aber überragt die Spitze der beflaggten Lanze das Haupt der Maria; das Jesuskind schlägt die Augen zum Soldaten nieder, wie geblendet von der tiefen Sonne, wie schlafend hängt es im Arm der Mutter; deren Gesicht sanft, wie ein Bellini, beginnt irgendwo in der Tafel zu verschwinden, und wird von der Lanze überragt. Die Marterwerkzeuge unterliegen steter Modernisierung. Mit Blick auf diese Ewigkeit mag auf Erden Angst und Trauer der Vergänglichkeit herrschen, mit Blick auf die balsamischen Farben des oberitalienischen Abends nicht, denn auch ohne uns ist es Sommer und die Bäume stehen durchlässig, wenig im Wind, aber bewegt vom Gang des großen Gestirns, wie die Wolken Vogelschwärme, deren Dichte sich jede Sekunde ändert. Aber jeglicher Ubersetzer gleicht einem Mahler, der ein herrliches Bild in bloß Grau copiren soll.



(Castelfranco, San Liberale)

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