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Thomas Ballhausen: Wir ölen den mechanischen Rücken der Schönheit

Montags=Text
Thomas Ballhausen

Wir ölen den mechanischen Rücken der Schönheit


Selbst unter diesem Himmel bist Du versucht Dich zu fragen Was mache ich hier? und Du blickst kurz von Deinen Unterlagen auf, hin zu Deinem toten Bruder, der gemeinsam mit Dir die Beschädigungen am historischen Baubestand dieses euch vertrauten Viertels der inneren Bezirke erfasst. Wie der Herbst, eine schon für gestrig und ausgestorben erklärte Jahreszeit, spürt auch ihr zwischen all den schattengleichen Passanten Sprüngen und Rissen nach, die sich in der vermeintlich ungebrochenen Glätte des Sichtbaren zeigen. Eure einander ergänzenden Linien werden einen Befund ergeben, Grundlage für zwingende Maßnahmen und die fortgesetzte Instandsetzung fragwürdiger Wirklichkeiten. Hier, in diesem Ausschnitt, überlagern sich Raum und Zeit auf eine Dich irritierende Weise. Um Dich zu orientieren und erneut in der Gegenwart zu verwurzeln fragst Du schließlich laut Was für einen Dienst tun wir hier? und Dein Bruder, keine vierhundert Tage älter als Du, setzt zu einer Antwort an, hält dann aber doch inne. Sein Blick wird finster wie einst vor Jahren in diesem mit Backsteinen ausgekleideten Club, als euch eine Frau belustigt musterte und tatsächlich mit der Phrase Are you twins? ansprach. Du verbietest Dir alle Gedanken an diese glücklicheren Zeiten, wartest immer noch auf eine Auflösung, nur eine Zeile, die Dir diese flimmernde, bröckelige Wirklichkeit wieder zu einem schlüssigen Ganzen fügt, doch Deinem Bruder, diesem traurigen Rest von Familie, kommt kein Wort über die Lippen. Wie anstelle seiner Antwort, nach der Du wider besseren Wissens erneut fragen willst, tritt an der gegenüberliegenden Straßenecke ein Hund in euren Sichtbereich. Das Tier scheint aus einem Deiner Träume ausgebrochen zu sein: Groß wie ein kräftiges Pferd bewegt es sich auf nur drei Beinen, blutrot und bar jeden Fells ist alles an ihm Fleisch und Hitze. Es beginnt unter den schreienden, zurückweichenden Passanten seine enger werdenden Bahnen um euch zu ziehen, es läuft seine Runden und Du kannst sehen, dass ihm nicht nur das linke Vorderbein fehlt, sondern auch Teile seiner Flanke und des Gesichts. Sein offenstehender Körper erzeugt Unverständnis und Unglauben, es beginnt eine dritte Umkreisung, dann erst machst Du, einem Impuls folgend und Dich vor Deinen Bruder schiebend, einen Schritt darauf zu. Alles was Fuchs an Dir ist, sträubt sich, Dein Körper will in zwei Richtungen zugleich, doch etwas wie Mitleid – etwas, das Du für Menschen so nie aufbringen konntest – gewinnt die Oberhand über Furcht und Irritation. Dampfend und schwer atmend kommt der Hund vor Dir zu stehen, Du musterst seinen Schädelknochen, das Kiefer, die Zähne, die gespannten Muskeln. In seinem Blick liegen ungenannter Schmerz und ein Mangel an Verstehen angesichts dieser Welt und ihrer Zumutungen. Du streckst Deine Rechte vor, fast schon berührst Du die Schnauze des gigantischen Wesens. Da verstehst Du, dass nicht Mitleid allein Deine Handlungen bestimmt hat, sondern ein Erkennen Deines nur vermeintlich fremden Gegenübers.


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