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Tatjana Kuschtewskaja: Stark. Stolz. Streitbar. Berühmte Ukrainerinnen

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Marcus Neuert

Tatjana Kuschtewskaja: „Stark. Stolz. Streitbar. Berühmte Ukrainerinnen“. Berlin (Edition Noack & Schott) 2024. 230 Seiten. ISBN 978-3-86813-193-2, EUR 22,00.

Galeonsfiguren einst und jetzt


Auf dem Titelbild von Tatjana Kuschtewskajas neuestem Essayband mit Kurzbiografien von ukrainischen Frauen ist Lybid abgebildet, die sagenhafte Mitbegründerin Kiews, am Bug eines Bootes aus geschmiedetem Kupfer stehend, mit ausgebreiteten Armen wie zu einem Flug ansetzend. Stark, stolz und streitbar: drei Adjektive, die auf das Gemeinsame jener zwanzig Heldinnen hinweisen, auf die lauten, mächtigen, aber auch auf die eher stillen weiblichen Charaktere, die Kuschtewskaja aus der ukrainischen Geschichte bis in die Jetztzeit ausgewählt hat.
           Stark, stolz, streitbar: wer die Autorin kennt, sie bei Lesungen schon erlebt hat und sich ihrem mitreißenden Temperament nicht entziehen konnte, weiß, dass diese Attribute auch auf sie selbst zutreffen. Ob als Jugendliche in der Ukraine, als Klavierlehrerin im tiefsten Jakutien oder als Dozentin an der Filmhochschule in Moskau: Sie, die in einer turkmenischen Wüstenoase Geborene, die bereits in den gewaltigen Grenzen des Sowjetreiches Weitgereiste, hatte schon von jeher einen engagierten weiblichen Blick auf Welt und Geschichte, eine Eigenschaft, die sich nach ihrer Übersiedelung nach Deutschland 1991 nicht grundsätzlich verändert hat, eher im Gegenteil: aus der Distanz scheint sich ihre Perspektive auf die vielfältigen Regionen und inzwischen zahlreichen Staaten auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR eher noch geschärft zu haben.
           Der russische Überfall auf die Ukraine hat sie, die von Haus aus russischsprachige Wanderin zwischen den Regionen, tief erschüttert. Zusammen mit ihrem deutschen Ehemann Dieter Karrenberg hat sie, die lange Jahre in der Ukraine gelebt hat, schon vor mehr als einem Vierteljahrhundert einen bedeutenden ukrainischen Literaturpreis gestiftet, welcher nach dem Dichter Oles Hontschar (1918-1995) benannt ist und jährlich in mehreren Kategorien vergeben wird. Kuschtewskaja, die einst an der Musikhochschule von Artjomowsk, dem auf Ukrainisch zu schrecklicher Kriegs-Bekannheit gewordenen Bachmut, Musikpädagogik studierte, steht den Menschen in der Ukraine bis heute sehr nahe. So ist ein Buch entstanden, welches wie Kuschtewskaja in ihrem Vorwort denn auch freimütig bekennt, „ausschließlich von den Vorlieben und Leidenschaften der Autorin bestimmt“ ist.
           Die zwanzig Frauenportraits, die der Band vereinigt, sind detailreich und mit großer Sachkenntnis recherchiert. Man kann sie einzeln lesen, die Lektüre auf bestimmte Persönlichkeiten fokussieren; jedoch ergibt sich ein historisches Gesamtbild erst mit der Rezeption aller chronologisch nach Lebensdaten angeordneten Essays.
Den Auftakt macht Fürstin Olga (881-969), welche die Kiewer Rus jahrzehntelang nach dem Tode ihres Mannes allein regierte – eine Zeit, in welcher „sich der Staat erstmals zu einer Großmacht [entwickelte]“. Neben Milde und Weis-heit, die ihr alte Chroniken wie auch die Historiker späterer Jahrhunderte zubilligen, konnte sie allerdings auch erbar-mungslos zuschlagen wie in einem Feldzug gegen Isko-rosten, die Hauptstadt der feindlichen Drewljanen: „[A]m Gedenktag für ihren verstorbenen Gemahl ließ sie fünf-tausend feindliche Krieger vor ihren Mauern hinmetzeln. Die Stadt selbst setzte sie mit Vögeln in Brand, an deren Krallen teergetränktes Werg befestigt und angezündet wor-den war.“ Olga steht für einen mythengetränkten Stoff, der Anregungen zuhauf für virtuelle Fantasyabenteuer des 21. Jahrhunderts bereithielte.
Über die mit dem französischen König Henri I. vermählte Anna von Kiew kam im elften Jahrhundert eine slawische Blutlinie in das Geschlecht der Kapetinger; auch Anna überlebte ihren Gatten und wusste das Reich trotz zahlreicher politischer Ränke ihrem Sohn Philipp I. zu sichern. Zeitlebens blieb sie eine einflussreiche Beraterin sowohl für ihren Mann als auch ihren Sohn.
           Eine heute noch für das Selbstverständnis der Ukraine wichtige Volksdichterin und Sängerin war dagegen Marusja Tschurai (1625-1653) – deren Existenz bis heute nicht zwei-felsfrei geklärt erscheint, der aber zahlreiche bekannte Volkslieder zugeschrieben werden.

Schon mit der vierten Kurzbiografie nähert sich Kuschtewskaja ihrem Schwerpunkt, der eindeutig auf den Heldinnen des 19. und 20. Jahrhunderts liegt. Sie ist Marko Wowtschok (eigentlich Marija Wilinska, 1833-1907) gewidmet, die als eine der ersten „Erzählungen mit sozialen Tendenzen“ und über das „Schicksal der leibeigenen Bäuerinnen“ schrieb.
           Nun folgen die berühmten und erinnernswerten Frauenpersönlichkeiten der neueren Zeit aus Literatur und Malerei, dazu Schauspielerinnen, Mäzeninnen und Wissenschaft-lerinnen, die meist vor allem in ihrer Heimat, teils jedoch auch im Ausland zu großem Ansehen kamen wie etwa Solomia Kruschelnytska (1872-1952), die große Opernsängerin, die Puccinis zunächst als Flop gestarteten Oper „Madame Butterfly“ in einer umgeschriebenen Fassung des Meisters zu überaus großem Erfolg verhalf, oder die autodidaktische Malerin bäuerlicher Herkunft Kateryna Bilokur (1900-1961), die sich gegen alle familiären und staatlichen Widerstände behauptete und sogar Picasso mit ihren Gemälden faszinierte.

Wer nicht sehr gut mit der ukrainischen Kultur und Geschichte vertraut ist, wird viele dieser Namen nicht kennen, nicht zuletzt vielleicht, weil das russische und später sowjetische Erbe das ukrainische lange Zeit überstrahlte, teils auch aktiv unterdrückte. Erst mit der staatlichen Unabhängigkeit zu Beginn der 1990er Jahre änderte sich dies; eine größere Aufmerksamkeit im Westen entstand sicher auch noch einmal zusätzlich durch den Konflikt mit Russland in den letzten zehn Jahren. Von der identitären Selbstbehauptung eines Volkes aus weiblicher Sicht erzählen die Frauenbiografien Kuschtewskajas und bringen uns Lesenden eine ganze Welt nahe, die sich gewöhnlich wohl eher unter dem Radar unserer kulturellen Wahrnehmung befindet. Dazu fügt sie mit Witz und Charme ihre persönlichen Erlebnisse mit den Menschen hinzu, die ihr auf ihren Recherchen begegnet sind.

© Marcus Neuert, September 2024


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