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Tania Rupel Tera: die Geschichte vom Gedicht

Das lyrische Konto

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Tania Rupel Tera

die Geschichte vom Gedicht


An einem Sommertag im Juni vor ein paar Jahren wachte ich gegen vier Uhr aufgewühlt auf. Ich setzte mich im Bett absolut durcheinander. Wie im effektvollen Film klopfte mein Herz im Hals, ich hatte aber keine Bilder von irgendeinem Albtraum vor mir. Ich wollte aufstehen, mein Körper verweigerte jede andere Bewegung, also dachte ich - wieder hinlegen. In diesem Moment reihten sich einige Zeilen in meinem kaum wachen Bewusstsein. Sie tauchten aus einer taumelnden Dunkelheit auf; ich sah innerlich ein Gemisch aus lila-blau-grün-grauen Töne und verschwommenen Linien. All das bewegte sich ab und an, ab und an blieb es ruhig wie glattes Wasser. Ich dachte, mir ist es schwindelig. In meinen Ohren rauschte es. Mich weckt oft mitten in der Nacht ein Phantomgeräusch; diesmal mit den Farben fühlte es sich so an, als ob ich ein Meer im Schädel hatte. Auf einmal übertrug sich die erste Zeile aus meiner Muttersprache ins Deutsche, danach gleich alles Weitere ohne ich selbst überlegt zu haben. An Schlafen war nicht mehr zu denken.

Träume ich gerade, fragte ich mich. Etwas passierte mit mir und ich hatte keine Kontrolle darauf. Ich erinnerte mich an früher. Als junge Lyrikerin habe ich manchmal Strophen geträumt. Einige schlaflose Zellen im Hirn haben offenbar weiter an etwas Angefangenes gebastelt. Oder haben sie sich von selber inspiriert und sich etwas ganz Neues ausgedacht. Später sind tatsächlich Gedichte daraus entstanden. Diesmal verstand ich nicht viel. Etwas berührte mich und verletzte mich tief, obwohl ich die Worte nicht wirklich begreifen konnte. Sie kamen „fertig“ zu mir. Fertig – geschrieben, fertig - erschöpft. Sie fühlten sich fremd an, wie zu Flucht gezwungen erreichten sie mich von fern. Als ob sie Obdach brauchten, eine Adresse, wo sie bleiben könnten.

Ich wollte sie nicht, das spürte ich definitiv. Zugleich fürchtete ich - mit dem unausweichlich richtigen Erwachen verfliegen sie. Ich fürchtete, ich verliere sie für immer. Und das machte mir solche Angst, die ich nie davor gekannt habe. Als ob eine unnennbare Stelle in meinem Tiefsten ohne Blut blieb. In so einer Verfassung saß ich da, irgendwelche nicht gedachte Gedanken, unbekannte Emotionen schaukelten mich wie ein winziges Boot im Ozean. Allmählich verblassten die Farben, ich spürte nur Schrecken und war zerrissen. Wollte aufstehen, alles aufschreiben und später nachdenken. Oder sofort den Tag anfangen, mit seinen gewöhnlichen Aufgaben, in der einzigen Hoffnung, ich vergesse alles und keine Spur von diesem Schmerz bleibt in mir.

Ganz bewusst sagte ich dennoch die Zeilen innerlich auf, um sie nicht zu vergessen. Es war keine andere Stimme im Kopf. Die Worte sprach ich lautlos mit meiner täglichen Stimme. Und doch, ich fühlte mich nicht allein. Dieses bizarre Gefühl erweckte in dem Augenblick keine Ironie, keinen Zweifel, wie sonst. Ich habe ein Gedicht, schieß es mir durch den Kopf, und es bewegt mich, ohne es zu verstehen. Irgendwann stand ich vor dem PC und tippte. Sich hinsetzten, war mir unmöglich. Am Ende las ich es und war verblüfft. Ich war schon wirklich wach, im Bauch - ein geballtes Ding, drückend. Ich feilte nicht viel daran, tauschte die Stellen von ein-zwei Wörtern; lies einen leeren Absatz in der Mitte, schaute kurz und klickte dann alles wieder zurück dicht aneinander. Es raubte mir die Luft, es brauchte auch keine.

Selten habe ich ähnliche Situationen erlebt. Ein Mal in meiner Jugend hatte ich was Ähnliches und dieses intensive Empfinden, ein Tier zu sein. Ein Tier, das nichts von Vernunft oder rationalen Analysen weiß. Urplötzlich hat sich in mir eine unübersehbare Weite eröffnet. Als „erwachsener Mensch“ kenne ich solche Räume nicht mehr. Mein menschliches Ich verliert seit Jahren an Territorium. Seit meiner späten Kindheit war ich auf keinen Himmel mehr, nicht so richtig, nicht ersichtlich; oder unterm Wasser; in irgendwelchen ungesehenen Welten. Die Dimension, die sich vor mir längst eröffnet hat, war die Bodenlosigkeit. Stürzen ist meine Disziplin geworden. In diesem Moment aber hatte das Tier eine breite und weite Fläche vor sich. Und es verspürte einzig. Es rannte, überflog eine Strecke, dann stand es wieder und horchte in den Geräuschen hinein. Es merkte Silhouetten in dieser Fremdheit, registrierte etwas in irgendwelchen Schichten unter sich. Das Ganze ließ nicht zu, dass ich eine Schicht meiner Seele erkenne. Ein verrücktes Wesen lief hin und her, erschnüffelte. Bittere Luft, voller Bedrohungen und Geheimnisse, machte mein Kopf anders, die Augen. Ich schaute den sonnigen Rasen zwischen den Wohnblocks, das noch saftige Grün, und dachte: Verstecken, verstecken! Während jemand in mir winselte: Es gibt kein Versteck.

Gegen Mittag tauchte vor mir das Gesicht von einem Mann auf. Ich wusste gleich, er wird eine Brücke spielen. Ein Botschafter, der ein paar Worte zurückschickt. Oder Stille. Mein Herz begann wieder lauter zu werden. Mit K.K. kennen wir uns seit Jahren. Noch seitdem ich, als verhuschte Exilpoetin, regelmäßig ins MLB ging, um endlich mit Gleichgesinnten über Sprache zu sinnieren. Ich sammelte rasch meinen Mut zusammen und schrieb ihm eine E-Mail.

Jene unerklärliche Energie hatte mich längst an diesem Tag überwältigt; sie verlangte, ich unterwarf mich. So hatte ich meine „normalen“ Befürchtungen nicht. Es kümmerte mich nicht, was wird sich K. denken; wird er überhaupt reagieren; sieht er früh genug meine Mail zwischen den vielen anderen, die er wegen seines Internetmagazins bekommt. Ich wusste, ich brauche keine Veröffentlichung, aber es ist dringend. Ich schrieb etwas in der Art: „Lieber K., ich weiß, du magst meine Texte nicht, sag bitte ehrlich – Schrott oder nicht?“ Jener Macht war es wichtig, dass er ein Urteil fällt. Das Gedicht durfte nicht doof sein. Warum, fragte ich mich verwirrt und kopierte die Verse. (Nach so viel Zeit denke ich nach - habe ich vielleicht tief in mir auf eine Übersetzung der Wörter, auf eine Interpretation, gehofft, um den Sinn zu kapieren? Dachte ich, er als nicht Betroffener wird verstehen, worum es geht, und sagt, fragt was, sodass ich auch langsam aus der Dunkelheit herauskomme?). Kaum geändert, 99 % wie vom „Traum“, schickte ich ihm den Text zu. Nichts habe ich mir versprochen. Ich warf ihm meinen brennenden Ball zu und fühlte zum ersten Mal kleine Erleichterung.

Seltsamerweise meldete sich K. flott zurück. Das bestätigte mir die Ahnung – hier und heute passiert etwas, das von jemandem, von irgendwo anders bestimmt ist. Als ich die E-Mail und seine positive Antwort las (vielleicht war es - wunderschön oder so was) schlug eine Welle auf mich an, wie auf einem Fels. Eine Minute später, etwas beschämt, d.h. bewusst, merkte ich eine Korrektur von ihm. Er hat meine falsche „bye“ am Ende richtiggestellt (auch jetzt muss ich schmunzeln). Und meinte, die letzte Zeile mit dem Fehler brauche ich eigentlich nicht. Endlich! Ich lachte mich innerlich frei aus und war froh. Das bin ich, sagte ich mir, ich tippe und übersehe Blamierendes, also komme ich zu mir.

Mich überflutete warme Dankbarkeit und sie fühlte sich „ganz normal“ an. In diesen Stunden, in welchen sich so wenig „wie jeden Tag“ präsentierte, in welchen ich mich mitten drin in einer Katastrophe empfand, hatte ich etwas quasi Greifbares - ein menschliches Dank-barkeitsgefühl. Ich kann es nicht vergessen, wie die lieben Worte von einem Kollegen mich zurückbrachten. Jene Verhexung war zerstört; das Tier weg; die Macht verlor ihre Kraft. Ich war wieder eine Frau, noch durcheinander, aber eine, die schon in sich nach einer Erklärung suchte. Mein Ratio wollte seine beruhigende Schublade finden, um weiter machen zu können.

Ich funktionierte wieder, fertigte eine Liste für die Aufgaben; in zwei Stunden hatte ich einen wichtigen Termin; bald sollte ich auch einen Text fertigstellen. Also, ich sammelte meine üblichen Gedanken. Bis ich noch am PC stand, kritzelte ich schnell meinem Verleger. Ich wollte, dass alles wieder gewohnt erscheint und wird. Ich versprach, dass ich in Kürze mit dem Text fertig sein werde und erzählte, wie seltsam mein Tag angefangen hat ... Wir sind schon befreundet, dachte ich, ich darf ein Stück solcher Seltsamkeit offenbaren. Ich fügte die Zeilen hinzu, schaute flüchtig. Dann klappte ich den PC mit den Worten: Hast du recht, lieber K., das Ende braucht es nicht. Es gibt kein Bye-bye. Und das Telefon klingelte.


PS -  die Geschichte hinter der Geschichte oder die Geschichte vom Trost

Erst nach einer Minute konnte ich die Stimme meiner Schwester erkennen. Sie redete zerhackt: Hörst-du-mich? Ver-stehst-du, was-ich-sage? Was-ist-mit-dir? Ich flog kopfüber nach unten. Ihre Worte haben die gerade geborene Hoffnung getötet: Vater ist von uns … in der nächsten Sekunde traf ich den harten Boden einer unbetretenen Leere.

Es war das 2020-Coronajahr. Seit einigen Monaten wohnte Vater im Altersheim, gelähmt, in Trauer, seitdem er nach mehr als 50 Jahren seine Ehefrau verlor. Zwei Tage davor haben wir telefoniert. Leider blieb er der unpraktische Analogmensch, der immer gewesen war, wollte kein eigenes Handy. So konnte er nur warten und hoffen, dass jemand vom Heim ans einzige Telefon dort geht und ihm dann den Hörer bringt. Bei unserem letzten Gespräch hat er mich nicht gefragt: Wann kommst du wieder? Ich habe ihm erklärt, wie auch die Pflegerinnen oft, wie schwierig in diesem Zeitraum ist, mit allem - das Heim zu betreten, zu verreisen. Wieder mal wussten wir - Geduld ist gefragt und sprachen übers Alltägliche.

Mein Tochterherz ist wund. Damals bin ich über längere Zeit in Sofia geblieben. Mutter gab´s nicht mehr. Vater stabilisierte sich allmählich. Ich besuchte ihn Tag für Tag, immer mit der Thermoskanne voll mit Kaffee, mit Süßigkeiten und Lyrikbänden. Er wollte keinen von seinen Büchern mehr haben, aber gern hörte er sich Strophen aus der Welt. Es waren sanfte, barmherzige Stunden. Ich bin unendlich dankbar für sie.

Nun suche ich … търся утеха. Uteha ist das Wort für Trost auf Bulgarisch. Das können vielleicht die Gedichte am besten - Trost geben. Ich weiß noch nicht, soll ich glauben, dass Vater, durch seine Geisteskraft, durch eine Art telepathische Verbindung, in jenen Stunden nach einem Weg gesucht und mich irgendwie mit seinen letzten Versen gefunden hat? Was und wie genau ist passiert? Ah, ich konnte nicht bei ihm sein, wie ich bei Mutter in ihren Stunden an der Schwelle war, und das zerrt an mir. Diese Tochtertraurigkeit wird weiter mitgehen. Eine Frage taucht auf, die mir als Kind oft gestellt wurde: Wer liebst du mehr: Deine Mama oder Papa? Hm, als ob … Das Ziehen im Bauch verrät aber - egal wie alt du wirst, ein Teil von dir bleibt für immer das Kind.

Und es klammert schon ein bisschen an die Idee, dass etwas zu Vater durchdringen könnte. Wer weiß, vielleicht erreichen ihn lieben Gesten als kleine Lichtexplosionen oder kosmische Brise und bereiten ihm Glückseligkeit? Ich möchte ihn in Frieden wissen, schwebend irgendwo im Universum. Natürlich meldet sich eine raue, ruhige Stimme … Am Ende stirbt jeder Mensch allein und nichts bleibt irgendwo schwebend am Leben. Nicht in diesem Sinne.

Trotzdem wird es besonders für mich sein, wenn mein Verleger F.W. eines Tages ein neues Buch von mir verlegen möchte und darin findet das Gedicht seinen Platz. In einem einfachen Buchkörper, zwischen den Buchdeckeln, mit dem feinen Papiergeruch. Mich tröstet die Idee von dieser Kette von Poeten. Nach K. damals kamen später noch einige in die Chronik dazu. Der freundliche Kollege aus Augsburg S.V. schrieb mir einmal: „Kennst du T.? Er sucht Lyrikerinnen …“.  Ich wusste es nicht. T.B. kannte ich schon (nicht persönlich) mit eigenen Strophen und Rezensionen vom Netz. Ich schickte ihm dann einige Gedichte zu. Nach vier Jahren habe ich mich getraut, dieses Gedicht offiziell zu zeigen. Und irgendwann, als ich es völlig vergessen habe, meldete sich T. zurück mit der Nachricht: Es wird in der Wiener Zeitung Der Standard publiziert. Er hat es ausgewählt. Für all das bin ich dankbar und spüre, es ist an der Zeit, mich zu entscheiden - soll das Gedicht die Widmung tragen: für meinen Vater oder von meinem Vater; - und leise eine Tür hinter mir zu schließen. Das Dachfenster bleibt offen.



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wie vergessen steht die Sonne da
Gott hing seinen golden Hut
an einen Himmelsnagel
und ging durch eine Wolkentür hinein
manchmal schaust du nach oben
von deinem langen Wartezimmer
so viele Hüte hängen hier rum
verloren tropfen
Kummerschirme, Regenbögen
warum kommt niemand etwas abzuholen?
totschweigt die Zeit


Tania Rupel Tera


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